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Von den Gottesdiensten der kleinen christlichen Glaubensgemeinschaft, der meine Eltern angehörten, bis zu den geschäftigen und glänzenden Tagen der Stadt, wenn der Kaiser im goldenen Kürassierhelm die Burgstraße hinauf zum Schlosse ritt, war nur ein Schritt. Die Stadt ist meine Heimat, die Straße, die Hauptstraße, die bescheidene Wohnung im dritten Stock des Mietshauses an der Ecke vom Badgäßchen, das mit veränderten Fassaden noch heute dasteht. Meine Eltern lehrten mich, »in der Welt zu sein, aber nicht von der Welt zu sein«. Dieses Doppelte erlaubte mir eine Hinwendung zur Welt, die zuweilen hemmungsloser war als bei anderen. Aber sie gab mir auch einen Abstand zu ihr, der zuweilen notwendig ist, um zu sehen, daß sie nur ein paar Fetzen Land in riesigen Meeren ist, ein nur wenig gerunzelter Boden in einem Ozean von Luft, Höhe und Geist.
Meine Eltern gingen den schmalen Weg der ehrsamen kleinbürgerlichen Geschäftsleute, hinter denen noch ein Handwerk steht; ich brauchte nichts, als ihnen zu folgen. Aber das war in der Stadt, die sie zum Wohnort gewählt hatten, nicht möglich, denn diese Stadt heißt Wiesbaden, sie ist ein eigentümlich auseinandergezogenes Gewächs über den versteckten Vulkanen des mittelrheinischen Bodens, wie eingefüllt in einen Becher vor den Höhen des Taunus, die sie umziehen. Ihre Winter sind lau, ihre Sommer dumpf und glühend. In der Mitte kocht jene starke, heiße und heilende Quelle, die den Einwohnern kaum noch etwas anderes ist als der Motor ihrer Beschäftigungen. Überall sind Gasthäuser, Ärzte und Pensionen. Die ewige Dampfwolke dieser Quelle wehte einst aus breiten Sümpfen und Wäldern hervor, aber sie schlägt sich längst an der Glaswand der Kochbrunnenhallen nieder, in denen unablässig die Prozession der Fremden wandelt, die aus trüben Gläsern das kräftig schmeckende bräunliche Wasser trinken und zuweilen auf den gelben Strudel hinstarren, zu dem sich vom niedern Rand aus Marmor die Wasserschöpferin hinunterbeugt. Es ist leicht, in der angenehmen Landschaft um Wiesbaden, die in Täler ausläuft und sich zum Rheingau hin verbreitert, ein Kind zu sein. Aber dem Menschen, der hier wachsen muß, fehlt zu sehr der Werktag. Es sind viele Besucher hier, junge Leute in Tenniskleidern, alte in Peieslocken und langen Kaftanen. Alle kommen wie aus dem Grenzenlosen, und die Stadt gehört ihnen zu sehr. Ich mußte viele Städte gesehen haben, bis ich endlich in Peking und in Athen glücklich war. Wenn ich aber jetzt von Heimat spreche, meine ich Frankfurt.
Meine Vorfahren waren Stadtleute, und ich liebe nichts so sehr wie Städte. Ich fühlte mich immer wieder zu Städten hingezogen, bestieg Türme, las Landkarten immer wieder, um die Städte, diese dichten, oft rätselhaften Gestaltungen, zu übersehen. Allmählich lernte ich die mittelmäßigen beiseitelassen und wählte einzelne Städte gleichsam zu meinen Göttern. Sind nicht heute die Städte allein noch die Träger des großen, künstlichen, planmäßig geschaffenen Glanzes, die über den dunkeln Gewölben bedrückter Existenzen und unheilbaren Elends mutig das ganze Dasein der Menschenmasse in den Wind des Schicksals, in die Entscheidungen einer noch unausgetragenen Krisis drängen? Sie sind alle zusammen der Ausdruck einer großen, noch unausgetragenen Krisis, in die der ewig forschende, tätige, genußfrohe Mensch verwickelt ist, dieser tapfere, kühne Mensch des Fortschritts und des Besitzes, der sich vor keiner Verantwortung scheut. Aber vielleicht scheut er sich nur deshalb nicht vor seiner Verantwortung, weil er sie in ihrem ganzen Maße nicht kennt? Alle Städte wollen das Unmögliche. Sie sind tragisch. Deshalb liebe ich sie. Ich selbst komme mir manchmal vor wie eine Stadt.
Mein Vater, der die Sprachen liebte, nahm den Fünfzehnjährigen aus der Schule. Er fand meine Neigung zu den Büchern bedenklich, und er schickte mich nach London. Ein ungewöhnliches Experiment für einen kleinen Geschäftsmann. Ich begann als Lehrling im Tuchgeschäft meines Onkels an der Oxfordstreet, verlor mich aber bald in die Dockhöfe, die Parks, die Museen. Ich mischte mich in die von Straßengängern, Straßenschauspielern und Straßenpredigern unterhaltenen und aufgewühlten Menschenrudel am Rande des Hyde Park. Ich lief mit meinen vom Mund abgesparten Schillingen zu Mr. O'Dell, einem Phrenologen, der am Ludgate Circus ein schmales Schaufenster mit seinen schematischen Kartons und Anerkennungsschreiben füllte. Ich spüre noch heute die leichte, intelligente Hand, die mir in diesem dunkeln Lädchen, als ich auf einer Bank vor einem offenen Schalter Platz genommen hatte, von rückwärts über Brauen, Stirn und Schädelwände fuhr, ich höre noch die angenehme und ruhige Stimme der unsichtbaren Person, die das Inventar meiner geistigen Anlagen vor mir hinbreitete und schließlich alles in dem Satz zusammenfaßte, ich sei zu einem Künstler der Sprache, vielleicht zu einem Volksredner geboren. Ich war fast noch ein Knabe, meine damalige Umgebung, meine unterbrochene Schulausbildung, alles, was mich erwartete, schien wie ein Hohn auf diese Verheißung. Aber ich fühlte, jedes Wort, das ich dort in dem Halbdunkeln kleinen Lädchen hörte, war die Wahrheit. Ich begriff auf einmal, was es war, wenn ich im Londoner Regen, die Lederdecke bis an die Brust gezogen, eine billige Ausgabe Byrons, die Romane des alten Dumas in der Wachstuchtasche, auf der Höhe des Omnibus dahinjagte. Ich besuchte die Ausländerklasse in einer Sprachschule, um irgend ein Fleißzeugnis mit nach Hause zu bringen, aber ich verbrachte Tage in den Dockhöfen, Marktstraßen und Versammlungshallen von Whitechapel; abends von sechs bis neun saß ich in der Guildhall-Bibliothek und las alte Bände der »Deutschen Rundschau« mit ihren krausen, langen, erregenden Polemiken für und gegen Nietzsche, mit den indologischen Aufsätzen Max Müllers, mit den niederschmetternd schönen Erzählungen Gottfried Kellers, mit dramaturgischen Aufsätzen, die mir heiß machten. Jeden Morgen lockte mich die endlose Stadt auf denselben Weg nach Chancery Lane, jeden Mittag der Themsedamm, jeden Abend die Bibliothek mit ihren livrierten Dienern, ihren Lesepulten, ihren Gänsekielen, und dann der abenteuerliche Heimweg durch eine von Fischbratereien und Märkten erfüllte, von Fackellicht erleuchtete Straße hinter den wild daherjagenden vier Pferden der Trambahn. Als mich die Eltern an den Weihnachtsbaum zurückriefen, war ich ihren vier Wänden so fremd geworden, daß meiner Mutter die Tränen aus den Augen stürzten.
Ich wurde Lehrling daheim in der Werkstatt eines früheren Arbeiters meines Vaters. Als ich später für ein Jahr Volontär in einem Herrenmodengeschäft in Mainz geworden war, stieg mein Widerwillen. In Berlin war ich noch ein paar Monate im Kontor einer Großhandlung und wagte dann den Absprung.
Ohne ein Wort russisch zu können, reiste ich nach Sibirien. Die Ostchinesische Eisenbahn war eben fertig geworden, ich fuhr hin, um sie als einer der ersten zu beschreiben. Ich kam bis an den Rand des Stillen Ozeans und kehrte aus einigen Abenteuern nach Heidelberg zurück. Ich konnte das Studium fortsetzen und blieb von nun an immer ein wenig von dem, was ich dort draußen hatte sein müssen, bereit zu jedem Aufbruch.
Ein halbes Jahr später landete ich in Neuyork. Ich ging nach Saint Louis, dann durchstreifte ich die Staaten bis nach Denver, schrieb für die Mississippi-Blätter und sammelte ein paar Kisten voll Bücher für die sozialen Institute Wilhelm Mertons in Frankfurt. Im Herbst 1904 saß ich im Kolleg bei Lujo Brentano in München. Dort in meiner Dachstube in der Richard-Wagner-Straße schrieb ich die Gedichte nieder, die ich aus Amerika mitgebracht hatte, und dachte an die Türkei. Ich brach im Sommer auf, reiste auf der Anatolischen Bahn und ritt über den Taurus, um Jerusalem zu sehen. Die mystische Stadt, das Gegen-London! Aber ich sollte sie nicht erreichen. Noch nicht! Es war wie eine Prüfung. Erst nach Jahren durfte ich den Boden dieser Stadt betreten, die wie ein Schiff mit gläsernem Boden ist, über einem unergründlichen, niemals zu erhellenden Meer. Ich schleppte aus Syrien meinen vom Fieber federleicht gewordenen Körper nach Hause und gesundete in der Nähe der Mutter. Ihre Flamme war im Erlöschen. Es waren die letzten Monate ihres Lebens, ich nahm von der noch Lebenden in angstvollen Träumen Abschied. Als ich dann nach Jena gegangen war, ging auch sie aus dem alten Kreise, in dem sie dreißig Jahre gelebt hatte, und starb einsam in einem stillen Waldtal ihrer Heimat.
Ich blieb zwei Jahre in Jena. Meine Arbeit war ein dickes Buch über das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft, ein Werk, das sich unter der Hand zu einer Systematik des Ausstellungswesens auswuchs. Ohne meine eigenen Beobachtungen auf den großen Ausstellungen in Düsseldorf und Saint Louis und ohne die Gedanken, die ich mir über die Ausstellungsformen machte, zu denen die Museen und die Messen, die Schaufenster, die alten gefestigten Symbole wie alle die vergänglichen Reklamezeichen unseres mit Schaustellungen durchsetzten Städtelebens gehören, wäre ich wohl nicht auf den Gedanken gekommen, mir gerade diese Aufgabe zu wählen. Es war ein Reiz und eine eigentümliche Angst in der entsagungsvollen Klausur jener Universitätsjahre; der Reiz, einem Phänomen des Sichtbaren einmal bis in seine letzten Absichten und Verästelungen zu folgen, ein Entdecker vorher noch nicht gesehener Zusammenhänge zu sein, und die Angst, daß diese Gefangenschaft in der ordnenden, reinen Verstandesarbeit länger dauern könnte, als mir zuträglich war. Als ich fertig war, brach ich alle Fortsetzungsmöglichkeiten ab. Es war Winter. Ich reiste mit einem kleinen Vorschuß der Frankfurter Zeitung und der Geographischen Gesellschaft zu Jena in der Tasche sofort nach Sibirien zurück. Bei Nacht, in tiefem Schnee und in bitterster Kälte feierte ich mein Wiedersehen mit Tomsk. Hier blieb ich einige Monate wohnen, bis die Steppe zu blühen begann. Dann reiste ich den Strom hinauf, mietete Knechte und Pferde und stieg über das Altaigebirge. Ich war Odysseus in den Sandwüsten der Mongolei, in schneebedeckten Bergen, ein Fremdling unter den Mongolen, dem ritterlichsten und armseligsten der Völker. Ich warf eine ungeheure Last von mir. Unter diesen Menschen lebte ich auf der Stufe eines früheren Jahrtausends, in diesen Wildnissen lernte ich kennen, was Freiheit ist. Seht doch den einzelnen, den aus allem Stillstand entlassenen Eremiten, den Entdecker auf eigne Faust, mit der Handvoll Leute, die er um sich hat, sibirische Fuhrleute und mongolische Reiter. Er kennt von diesen wettergebräunten Burschen nicht einen, er ist auf ihre Erfahrungen, auf ihre Ausdauer, ihre Geduld, ihre Scheu vor dem Unmöglichen angewiesen. Seht den beharrlichen, schweigsamen, von derben Flüchen und heimlichem Geflüster durchwürzten Kampf der kleinen Karawane mit dem Sand, mit den Kristallmassen des Gebirges, mit reißenden kleinen Flüssen, mit den Gummiflächen der Sümpfe, mit dem Wetter, das morgens Frost und mittags Rotglut ist. Ihr Führer, losgelöst von der geistigen Masse, der er entstammt, schwebt in der Luft. Als ein armer Späher und Pilger überschaut er die Landschaften, auf denen sonst das kühl merkende Auge nicht ruht. Der Fremdling verläßt die Landschaft auf Nimmerwiedersehen. Doch ein Faden zieht sich hinter ihm her durch das Labyrinth des Unerforschten, der das Gesehene nun in das Netz des Gekannten einmal für immer verknüpft. Der Himmel zeigt Haufenwolken, Strichwolken, dünnen oder dicken Schnee, Feuchthitze, klare Spiegelungen. Die Erde stäubt das trockene Mehl des Löß, schlingt Strudel von Sand, setzt Kiesel unter den ewig bewegten Fuß. Der Bruder Mensch dort draußen übt seine Energien in Widerspenstigkeiten, in groben und seinen Lügen, im gastlichen Schenken, im heiteren Diebstahl, in plumpen oder blitzenden Drohungen. So charakterisiert er sich selbst, und der Eindringling hilft ihm dazu. Kein Wunder, daß die Luft zuweilen sehr dünn ist.
Innerlich befreite sich so der dichterische Mensch in mir von dem wissenschaftlichen. Oder der Gegensatz begann sich zu lösen. Der naturforschende Mensch blieb der Begleiter des höheren, geistgesandten, deutete ihm herb und treu die Welt und empfing von ihm die schönen, gaukelnden Deutungen. Ich fühlte unermeßliche Jugend im Stolz eines hohen Dienstes. Ich empfand mich pflanzenhaft als einen Trieb am Wachstum eines freudigen Deutschland zwischen Geist und Natur in der Mitte.
Ich hatte gewagt, die ersten geographischen Gedichte zu schreiben. Es waren Gedichte des Auges. Ich studierte, um reisen zu können, die fremden Länder, die für Europa wichtigen, noch unbekannten Verhältnisse des Ostens. Das bloße Beschreiben und Darstellen der Dinge war mir nie die Hauptaufgabe. Es war mir trotzdem ein Weg zum Wesentlichen, ein Stück Weltphysiognomik. Das Auge bescheint das Sichtbare wie das Unsichtbare, man kann im Sichtbaren nicht leben, ohne Unsichtbares zu fühlen. Auch das Unsichtbare kann nicht sein, ohne daß es einmal sichtbar würde.
Meine Erzählungen entstanden aus Ansätzen, in denen noch die großen Vorbilder der erzählenden Menschendarstellung nachwirkten, in meinen wenigen Romanen lebt der Mensch unter dem Schicksalszwang seiner Gesichte. Meine Erzählungen haben eine klare Linie, sie bleiben gleichsam als Wegzeichen meiner persönlichen Entwicklung stehen, sie sind da, wo der Mensch von heute seine Unwelt, seine Gesellschaft in ihrer Unruhe durchschaut. Auch meine Reisebücher zeigen das; mir waren sie ein notwendiger Ausdruck des dichterischen Wollens, das vor den Wirklichkeiten nicht die Segel strich. Jedes der Reisebücher ist in einer anderen Tonart geschrieben, unter anderen Vorzeichen, vom selben Menschen wohl, doch in einer andern Schicht. »Li oder Im Neuen Osten« ist Bericht von einer Entdeckung des fernen Ostens in seinen schärferen Konturen, in seiner Typenverwandtschaft zu unserer abendländischen Welt, in seinem Anlauf zum Schicksal von heute. »In Palästina« ist die Begegnung mit einem Wesen, das zweitausendjährig in uns selber wirkt, ein Umkreisen dieses Wesens in seiner magischen, unwiderstehlichen Anziehungskraft. »Im kommunistischen Rußland« ist ein Augenzeugenbericht höchste, stoisch-empfindliche Aufmerksamkeit; »Delphische Wanderung« ein Buch der reinsten Freude am Sichtbar-Farbigen, ein Wort der Liebe und der Ironie vor einer mit kostbaren Zeichen beschriebenen, in neuen Gärungen stehenden, Farbe wechselnden Welt. »Der Rhein, eine Reise« aber ist nicht meine Reise, – ich machte sie in vielen Etappen, in Wiederholungen und Erinnerungen, – sie ist die Reise des Stromes selber. Von seinen Abenteuern, Wandlungen, Entschlüssen, Aufenthalten und Wesenskräften ist die Rede; nicht mehr von den Übernachtungen, Abenteuern, Geschwindigkeiten des Reisenden.
Ich war immer wieder im Osten, immer wieder zieht mich der Osten an wie eine große schöne Ahnung. Dreimal in China, öfter noch auf vorasiatischem Boden. Ich bin ein Mensch des Westens, aber ich habe genug vom Osten in mich aufgenommen, um zu wissen, daß im Osten jede Frage schlummert, deren Antwort unser europäisches Schicksal heißt. Unsere westliche Welt hat ein großes Wissen. Aber dieses Wissen in wenigen Menschen, in wenigen Büchern verborgen, es gehört nicht allen. Sie ist abgeschlossener, unwissender als wir ahnen. Vielleicht wird sich eine Welt, die kommen wird und die bereits begonnen hat, unsere eigene zu durchdringen, wenig um unsere Gewohnheiten von heute kümmern. Unsere Art des Denkens und Handelns braucht mehr Gültigkeit. Mag sein, daß dem Europa der Maschinen und der Konferenzen zuletzt noch der Entwurf zu einer neuen Welt gelingen wird, ich sehe wohl die Möglichkeiten zu einem solchen Entwurfe, der große Experimente fordert. Aber keines dieser Experimente wird gelingen, das nicht den Osten mitbedenkt und ihm Rede steht.