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Eins der wenigen wahren Volksfeste, die in der Seele des ganzen Volkes wurzeln und eine wertvolle Überlieferung pflegen, ist das Grenzgangfest zu Biedenkopf, das aus dem alten, fast überall in deutschen Landen geübten Brauche der Grenzbegehung hervorgegangen ist.
Als es noch keine Grundbücher und Katasterämter gab, die heute den Grundstückbesitz jeder Gemarkung nach Größe und Grenzen genau beschreiben und festlegen, kam es zwischen den einzelnen Gemeinden häufig zu Grenzstreitigkeiten, weil den Gemarkungsgrenzen, die nur durch mündliche Überlieferung und Urkunden bestimmt waren, die genaue Absteinung fehlte und die oft nur durch einzelstehende Bäume, Waldecken, Wegkreuzungen gekennzeichneten Grenzpunkte nicht immer zuverlässig blieben. Daher wurde es üblich, alljährlich oder in bestimmten mehrjährigen Zwischenräumen die Gemarkungsgrenzen gemeinsam mit den Grenznachbarn und unter Beteiligung möglichst vieler Ortsbewohner zu begehen, um den Verlauf der Grenzen dem Gedächtnis einzuprägen und etwaige Meinungsverschiedenheiten an Ort und Stelle zu schlichten.
Wo die Gemarkungsgrenzen vorwiegend bebautes Feld im Einzelbesitz berührten, hatte die Einrichtung weniger Bedeutung, da die Feldbestellung im Laufe des Jahres häufig Gelegenheit gab, etwaige Übergriffe die Nachbarn zu bereinigen, die übrigens bei den auf Grenzverletzungen stehenden harten Strafen selten vorkamen. Anders da, wo die Gemarkung, wie in Biedenkopf, fast ausschließlich mit Wald abschloß. Ohne die Grenzbegänge würde hier außer den Forstbeamten jahrzehntelang niemand die Grenzlinien festgestellt haben, und die Prozesse und Streitigkeiten hätten kein Ende genommen. Für Biedenkopf war daher die gemeinsame Abschreitung der Gemarkungsgrenzen eine wichtige Angelegenheit, an der sich stets die ganze Bürgerschaft beteiligte, um so mehr, als die Biedenköpfer von jeher stolz waren auf ihren ausgedehnten Waldbesitz. Besonderes Gewicht wurde darauf gelegt, daß schon die Knaben den Gang mitmachten, und an wichtigen Punkten soll man ihnen eine kräftige Ohrfeige verabfolgt haben – als »Gedächtnisstütze«. Alle Hindernisse, übergewachsene Zweige, Dornsträucher und dergleichen wurden von den Stadtknechten sofort mit ihren Beilen entfernt. Den Beschluß des Grenzbeganges bildete ein fröhlicher Trunk, namentlich dann, wenn man mit keinem der zahlreichen Nachbarn Streit bekommen hatte.
Aus diesen Grenzbegängen hat sich im Laufe der Zeit ein Volksfest entwickelt, das dank den eigenartigen Gebräuchen, die mit ihm verknüpft sind, bis auf den heutigen Tag sich erhalten hat, obwohl ein sachlicher Grund für die Abschreitung der Grenze nicht mehr vorliegt.
Grenzgang wird alle sieben Jahre gefeiert. In dem betreffenden Jahre fallen alle übrigen Feste aus: es ist Grenzgangsjahr. Der Grenzgangsvorstand, der dauernd besteht, beschließt gegen Pfingsten in aller Form, daß das Fest wieder gefeiert werden soll, und nun beginnen die Vorbereitungen. Nicht nur Bürger und Bürgerinnen erhalten ein neues Gewand, sondern auch die Häuser und Wohnungen. In diesem Jahr gibt es nicht genug Schneider und Schneiderinnen, Anstreicher, Tapezierer, Maler und Schreiner. Bald ergeht ein öffentlicher Aufruf zur Gründung von Burschen- und Männerschaften, die ersten meist nach Stammlokalen, die andern nach Straßen gebildet. Jede Burschen- und Männerschaft besitzt ihre Fahne, und wer in die Gesellschaft aufgenommen werden will, muß einen Fahneneid leisten. Bis nun möglichst einzeln nacheinander zwei Führer, ein Fahnenträger, zwei Fahnenbegleiter, ein Kassierer und ein Schriftführer von jeder Gesellschaft gewählt sind, erweist sich noch manche Sitzung als notwendig, und bald findet sich kein Bürger mehr, der nicht »organisiert« ist.
Besonders wichtig ist die Kürung eines Männerobersten, der die Leitung des ganzen Festes übernehmen muß. Es ist nicht immer leicht, für diesen höchsten Ehrenposten eine geeignete Persönlichkeit zu finden, da der Oberst allen Gesellschaften seinen Besuch abzustatten und nach dem Herkommen sich dabei freigebig einzuführen hat. Ihm zur Seite stehen zwei Adjutanten. Als zweiter Oberführer wählen auch die Burschen einen Burschenhauptmann mit zwei Adjutanten. Noch einige »Reiter« vervollständigen die Grenzgangsoberleitung. Genau vorgeschriebene Uniformen, aus blauer Joppe, grauer Hose, Filzhut mit Federschmuck und umgeschnalltem Degen geben den Führern, die alle beritten sind, ein malerisches Aussehen.
Unter all diesen Vorbereitungen naht der erste Festtag, stets ein Donnerstag, heran. Mit den ersten Sonnenstrahlen, die auf das mit Fahnen und Kränzen festlich geschmückte Städtchen fallen, wird es lebendig darin. Drei merkwürdige Gestalten wecken mit lautem Peitschenknallen die Schläfer auf. Zuerst kommt der Mohr mit schwarzem Kleid und schwarzem Gesicht, mit Federhut und langem Degen. Hinter ihm folgen zwei ebenso phantastisch gekleidete Wettläufer in buntem Gewand, mit federgeschmücktem Barett und langen Peitschen, mit denen sie unablässig knallend die Straßen durchlaufen. Alles strömt aus den Häusern und versammelt sich auf dem Marktplatz, wo sich der Festzug bildet. In Reih und Glied stehen die Männer- und Burschenschaften hintereinander, die Führer und Fahnen am Flügel. Ist die Aufstellung beendet, so wird die »Oberleitung« mit Musik eingeholt, und die Führer melden den Obersten ihre Gesellschaften. Noch einmal ergreift der Bürgermeister als Stadtoberhaupt das Wort, um auf die Bedeutung des Tages hinzuweisen, dann steigt er für drei Tage vom Throne herab; denn während des Festes steht dem Männeroberst das Kommando über alle Biedenkopfs zu.
Jetzt gibt er mit dem Degen das Zeichen, und unter Hörnerklang setzt sich der Festzug in Bewegung. Er durchschreitet einen Teil der Straßen und marschiert dann nach dem ersten Grenzstein, der an der Straße nach Wallau steht. Hier beginnt der eigentliche Grenzgang. Steil den Berg hinan und dann abwechselnd bergab, bergauf, über Stock und Stein, die Schneisen entlang, über Straßen hinweg, schreiten die Gewissenhafteren mit den Führern und Fahnen von Grenzstein zu Grenzstein, während die Fahnenflüchtigen auf bequemen Wegen dem Frühstücksplatz zueilen, wo nach zweistündigem Grenzmarsch die Morgenrast gehalten wird. Jede Gesellschaft hat dort ihr eigenes Zelt erbaut, und an Speise und Trank ist kein Mangel. Fröhliches Treiben entwickelt sich bald, und Singen und Lachen ertönt aus den Zelten. Wer ein fremdes Zelt betritt, wird mit Jubel empfangen und muß sich durch eine Freibierspende wieder auslösen. Von Zeit zu Zeit erschallen Lachsalven vom nächsten Grenzstein her. Die beiden Wettläufer haben einen Neuling an Armen und Beinen erfaßt und »huppchen« ihn dreimal mit seiner Kehrseite auf den Grenzstein. Eine »Gedächtnisstütze«, die eine besondere Ehrung darstellt und daher verpflichtet, tief in den Beutel zu greifen.
Nach längerer Rast geht der Grenzmarsch weiter, bis der dritte Teil der Gemarkungsgrenze abgeschritten ist. In derselben Weise werden die beiden übrigen Grenzdrittel am Freitag und Samstag begangen. An der Spitze des Zuges stets die beiden »Sappeure« mit Schurzfell und Beil, obwohl sie nichts mehr zu hauen haben. Am letzten Grenzstein die Schlußansprache des Männerobersten; am letzten Nachmittag noch einmal überschäumende Lust; am folgenden Sonntag ist Ruhetag.
Und wenn endlich die Fahnen eingewickelt sind, dann ist das Grenzgangsjahr vorüber, und die Grenzsteine träumen im stillen Walde sieben Jahre lang von dem lauten Jubel, der an ihnen vorüberzog.
Es gibt keinen Biedenköpfer, dem nicht das Herz höher schlägt, wenn er vom Grenzgang hört, und der nicht aus der Fremde herbeieilte, um Grenzgang zu feiern. Denn es handelt sich um ein wirkliches Volksfest, das nicht einzelne gesellschaftliche Schichten, sondern alle angeht. Alle Standesunterschiede sind aufgehoben, alle Fehden ruhen, alte Feindschaften werden nach Möglichkeit geschlichtet und mancher Händedruck der Versöhnung ist schon beim Grenzgang gewechselt worden.
Nur einmal seit Menschengedenken fiel das Fest aus: Im Grenzgangsjahre 1914. Alles war vorbereitet, und die Biedenköpfer gerüstet, im August ihren Fahnen folgend die Grenzen abzugehen. Da lohte die Kriegsfackel auf, und ein ernsterer »Grenzgang« mußte gehalten werden, der nicht bloß 1914, sondern noch 1921 nicht an Festefeiern denken ließ.