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Wenn unsere Augen auf der zauberhaften Rheinfahrt längs der Nassauischen Stromstrecke sich auf die sonnenbeglänzte Höhe der Lorelei richten, so scheint uns die Sage von der Jungfrau auf dem Felsen ein so ewiges Symbol für die sinnenverwirrende Schönheit der Landschaft, daß wir uns tatsächlich eines »Märchens aus uralten Zeiten« zu erinnern glauben. Und doch ist die Loreleisage in der uns bekannten Form erst von dem Romantiker Clemens Brentano frei erfunden worden. Obwohl eine Kunstsage, ist sie im Volke freilich lebendig geworden, wie kaum eine Volkssage. Die Klippen, die vor noch nicht langer Zeit von der Lorelei in den Strom hineinragten, bildeten eine schwere Gefahr für die Schiffer, zumal sie sich vielfach nur dadurch verrieten, daß das dahinfließende Wasser, gegen die tiefliegenden Felsvorsprünge getrieben, Wirbel bildete, die auch von den erfahrensten Schiffern und Floßführern gefürchtet wurden. Es ist eigentlich erstaunlich, daß eine solche Örtlichkeit nicht schon eher von der Sage umsponnen wurde, zumal die allbekannten Fluß- und Seemärchen der Griechen Anknüpfungspunkte genug boten. Noch im Jahre 1856 schreibt Chr. v. Stramberg in seinem rheinischen Antiquarius: Von den Sagen auf die Lorelei bezüglich, habe ich, obgleich vielfältig an ihrem Fuße herumtreibend, einigemal zu ihrem Gipfel gelangt, nie das Geringste vernommen.
Nur das Echo, das die Felswände vom gegenseitigen Ufer als Antwort geben, mag schon seit uralten Zeiten immer so wie heute erklungen sein und bot schon in früherer Zeit Anlaß zur Sagenbildung. Dies erhellt daraus, daß der Marner, ein mitteldeutscher Dichter des 13. Jahrhunderts, den »Lurenberg« als den Ort erwähnt, wo der sagenberühmte Nibelungenhort versenkt liege. Im Mittelhochdeutschen hieß dieser berühmte Echofels lurlinberc, lôreberg, neuhochdeutsch Lurelei, Lorelei. Dieser Name, den die Romantiker als Personennamen in die Literatur einführten, ist ein mißverstandener Ortsname. Das beweisen die altdeutschen Bezeichnungen mit -berg, aber auch die neuhochdeutschen mit -lei. Denn letzteres bedeutet am Rhein und an her Mosel nichts anderes als Schiefer oder Schieferfels. Etwas schwieriger ist der erste Bestandteil lur- oder lor- zu deuten. Wie der Germanist W. Hertz nachgewiesen hat, hängt er mit dem altdeutschen Wort: luren, lauern, französisch lorgner zusammen. Von diesem Verb ist abzuleiten das Substantiv lur, lure, was der »Blinzelnde« bedeutet, also ein Wesen, das mit halbgeschlossenen Augen aus dem Verborgenen hervorspäht. Aus zahlreichen Belegen läßt sich nachweisen, daß damit ein elbisches Wesen bezeichnet wird, und daß der berühmte Echo-Fels von diesen Luren seinen Namen hat.
Aus alten Nachrichten wissen wir, daß der Brauch, das Echo des Loreleifelsens anzurufen, uralt ist. Schon der Humanist Konrad Celtes besingt das Echo in lateinischen Versen. Ja, wir wissen, daß damals schon das Echo von den Vorüberziehenden mit mutwilligen Zurufen, mit aller Art Schall und Klang herausgefordert wurde. Mathis Quad berichtet um 1607: Auf der Coûber seiten ligt der große steinerne Berg Lourley; frag denselben einmal mit fester stim, was er mache. Du wirst wol hören, wie er dich bescheiden wird. Dies bezieht sich auf einen bei den Schiffern üblichen Scherz.
Der Vorübergehende rief Fragen und Antwort gaben die im Innern des Berges hausenden »kleinen Zwerge«, die »edlen Wichtlein«. Das Echo aber galt von jeher als die Stimme elbischer Wesen, der Berg- und Waldgeister. Der Berg galt also für hohl, und in seinem Innern hausten die Zwerge. Nun begreift man, warum die Volkssage den Nibelungenhort, das alte Elbengold, dort verborgen sein ließ. Am Fuße des Berges, wo jetzt die Eisenbahn den Felsen durchbrochen hat, war ehedem eine Höhle zu sehen, in welcher sich zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges oft Flüchtlinge verborgen haben sollen, weil das Grauen des Ortes sie vor Verfolgern sicherte. Diese Höhle hieß Lurleloch oder Hanselmannsloch. Hanselmänner aber hießen die Zwerge am Rhein und im Lahntal. Nach mündlicher Überlieferung – und damit hätten wir doch eine lebende Volkssage von der Lurlei – wohnen die Hanselmänner darin, und von diesen rührte das berühmte Echo.
Die Loreleisage, wie wir sie kennen, ist eine freie Erfindung Clemens Brentanos. In seiner Ballade »Zu Bacharach am Rheine wohnt eine Zauberin« ist Lore Lay eine Jungfrau von unwiderstehlichem Liebreiz, die alle durch ihren Anblick bezaubert, nur den einen nicht, den sie liebt: Von dem wird sie betrogen. Der Bischof fordert sie vor Gericht, fühlt aber selber die Macht des Zaubers und läßt Lore durch drei Ritter nach einem Kloster geleiten. Unterwegs äußert sie den Wunsch, auf den steilen Felsen zu steigen, um noch einmal nach dem Schlosse ihres Geliebten zu sehen. Sie erklimmt den Felsen, die drei Ritter ihr nach. Sie aber stürzt sich von dort in den Rhein, und die drei Ritter, welche den Weg nicht mehr finden, verderben ohne Priester und Grab. Die Ballade schließt:
Wer hat dieses Lied gesungen?
Ein Schiffer auf dem Rhein.
Und immer hat's geklungen
Von dem Dreiritterstein:
Lore Lay, Lore Lay, Lore Lay,
Als wären es meiner drei.
Diese Ballade hat Brentano eingelegt in sein Erstlingswerk: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter, ein verwilderter Roman von Maria. Nach des Dichters Angaben fällt die Abfassungszeit der Ballade ins Jahr 1799. Der erste, der sich Brentanos Phantasiegebilde aneignete, war Eichendorff, der während seiner Studienzeit in Heidelberg 1807/08 allabendlich mit Brentano zusammenkam. In seiner düster gestimmten Ballade, welche nach Schumanns Melodie viel gesungen wurde, ist Loreley eine Hexe, die von ihrem Felsenschloß am Rhein in berückender Schönheit durch den abendlichen Wald reitet, um im Schmerze betrogener Liebe alle ihr begegnenden Männer zu verderben: »Es ist schon spät; es wird schon kalt. Was reitest du einsam durch den Wald?« Erschienen ist diese Ballade Eichendorffs 1815. Um dieselbe Zeit, als Eichendorff seine Ballade dichtete, verfaßte Nikolaus Vogt, dessen Herz im Mühlstein bei Rüdesheim ruht, seine »Jugendphantasien über die Sagen des Rheins«. Darin erzählt er den Inhalt des Brentanoschen Gedichtes mit geringen Abänderungen als ein Gegenstück zu der Fabel vom Echo nach. Bei ihm ist der dreifache Widerhall die Stimme der Loreley, die sich von der Höhe des Felsens herabstürzt, als sie unten auf dem Rheine ihren treulosen Geliebten von dannen ziehen sieht, so wie einst sich die griechische Dichterin Sappho herabgestürzt hat. Brentanos drei geleitende Ritter sind bei Vogt ihre getreuesten Anbeter, die sich ihr von dem vorderen Felsen nachstürzen, der daher bis auf den heutigen Tag der »Dreiritterstein« genannt wird.
Neben dieser Kunstsage von der Zauberin Lorelei geht in der Sagenliteratur eine andere her, in der die Lorelei nicht als menschliches Wesen, sondern als eine den Felsen bewohnende Nixe dargestellt wird. Auch diese jüngere Gestalt der Sage, welche durch Heines Gedicht die bekannteste geworden ist und die ältere in Schatten gestellt hat, geht auf Clemens Brentano zurück. Als Brentano im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts seine Märchen sammelte, nahm er auch die Loreleisage auf und vergeistigte das Bild der ursprünglichen Zauberin Lore Ley zu einem reineren Märchenwesen. In dem Märchen von den Ahnen des Müllers Radlauf läßt er den Müller also erzählen:
»Wir waren einigen Felsen sehr nahe, zwischen welchen der See einen heftigen Wirbel bildet. Ich wendete meine Augen nach dem Fels; da sah ich eine wunderschöne junge Frau sitzen – es war die Lorelay, wie es in dem Märchen heißt – ganz schwarz war ihr Röcklein, weiß ihr Schleier, blond ihre Haare, und in tiefer Trauer; sie weinte heftig und kämmte ihre langen Haare (die rudernden Knappen verhöhnten sie); da ward der Sturm immer heftiger; das Schiff wurde mitten in den Strudel geworfen und hinabgeschlungen.«
Clemens Brentanos Märchen sind erst nach des Dichters Tod erschienen. Sie waren jedoch schon früher handschriftlich unter den Freunden verbreitet. Zu diesen zählte auch der Graf Löben. So darf man wohl voraussetzen, daß er die Brentanoschen Märchen, wenn nicht durch eigenes Lesen, so doch durch Hörensagen gekannt hat. Er schrieb eine Erzählung »Loreley, eine Sage vom Rhein«, erschienen 1821. In deren Eingang finden sich Anklänge an die zuletzt erwähnte Brentanosche Schilderung und die männermordende Hexe Eichendorffs. Mit dieser Erzählung ist auch das bekannte Gedicht verflochten:
»Dort wo der Mondschein blitzet
Ums höchste Felsgestein,
Das Zauberfräulein sitzet
Und schauet auf den Rhein.
Es schauet herüber, hinüber,
Es schauet hinab, hinauf.
Die Schifflein ziehn vorüber:
Lieb' Knabe, sieh nicht auf.
Sie singet dir hold zu Ohre;
Sie blicket dich töricht an.
Sie ist die schöne Lore;
Sie hat dir's angetan.
Dieses vor der Erzählung selbständig abgefaßte Lied legt Löben als Warnungsruf einem alten Jäger in den Mund, der einen Jüngling im Nachen dem Felsen zutreiben sieht. Auf dem höchsten Gipfel sitzt eine schöne Jungfrau und wirft zum Spiel schimmernde Felsstücke herab. Aber der Jüngling hört nicht, und der Strudel verschlingt ihn. Dieses Sirenenmotiv ist aus der griechischen Sage entlehnt und ist Löbens Zutat. In der griechischen Mythologie sind die Sirenen anfänglich fabelhafte Doppelwesen. Als solche werden sie auch in der bildenden Kunst als Vögel mit Mädchenköpfen, später mit weiblichem Oberleib dargestellt. In der Odyssee jedoch erscheinen sie noch als Dämonen, die auf blumiger Aue sitzend, durch ihren zauberischen Gesang die Schiffe anlocken und dann die Insassen zerreißen.
Doch ist Löbens Bearbeitung des Gegenstandes nicht ohne Bedeutung für die Entwicklung der Loreleisage; denn fast alle jüngeren Dichter knüpfen an seine Erfindung an, so besonders die musikdramatischen Bearbeitungen. Die wichtigste Wirkung der Löbenschen Sagenbearbeitung aber war, was kaum zu bezweifeln ist, daß Heinrich Heine sich von ihr zu seinem allbekannten Gedicht anregen ließ. Heine behandelte das Sirenenmotiv am Eingang der Löbenschen Erzählung für sich. Sein Gedicht schrieb er kurz nach dem Erscheinen der Löbenschen Erzählung. Es erschien 1827 im »Buch der Lieder«. Durch Silchers Komposition wurde es eines der beliebtesten Lieder des deutschen Volkes. Im fremden Land erinnert sich der Dichter seiner Heimat, des schönen Rheinlandes und seiner unglücklichen Liebe, die fast sein ganzes Lebensschifflein zum Scheitern gebracht hätte und die sein Leben immer noch zu vergiften drohte. Da kommt Traurigkeit über ihn; er weiß nicht, wie das geschehen ist und was es bedeuten soll. Die süßen Erinnerungen an seine Heimat und die schmerzlich wehmütigen an seine unglückliche Liebe vereinen sich und gewinnen sichtbare und faßbare Gestalt in einem rheinischen Märchen, einer früher gehörten Sage: der Sage von der bezaubernden Lorelei am Rhein. Eine Naturszene, eine Sage und ein Erlebnis fließen in dem Gedicht zu einer wunderbaren poetischen Einheit zusammen.