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s. Bildunterschrift

Wiesbadener Bucht zur Diluvialzeit. Nach einem Gemälde von Prof. C. Nebel.

Der Aufbau des Landes

Von Albert Henche

Nassau bildet zwar in dem geographisch strengen Sinne des Wortes keine natürliche Einheit, wohl aber in dem einfachen Aufbau der Landschaft ein wesenhaft bestimmbares Sondergebiet. Zu der größeren rheinischen Scholle gezählt, deren Werdezeit die nassauische Erde von der variskischen Krustenbewegung bis zu der Antlitzgestaltung der Oberfläche im Tertiär mit erlebte, ist das Nassauerland ein Teil jener ältesten Rheinlandschaft, die dem heiligen Strom der Deutschen in engem Durchbruchstal ihr Herz öffnet. Über ihn hinweg aber hat sie in Bergzügen und Senken, in Klima und Wasserläufen, in Siedelungsart und Menschentum die unlösbaren Bande einer in dem Gestern und Morgen der deutschen Ewigkeit verankerten Brücke geschmiedet. Der Tempel des geistigen Deutschtums am Rhein ruht so auf den festen Pfeilern der natürlichen Landschaftsgestaltung; das rechtsrheinische Widerlager seiner Wölbungen aber ist der östliche Block des Schiefergebirges – unser Nassauerland.

So bleibt Nassau schon durch die naturgegebene Gebundenheit ein Wegweiser und ein Wegbereiter rheinher und rheinhin, ein Übergang zwischen Westen und Osten. Seine Gebirge schlagen in Gesteinsart und Schichtenzug Laufstege stromüber; seine Täler und Wasserläufe eilen dem Rheine zu und den jenseitigen Brüdern und Schwestern entgegen; seine Brücken bilden im Schwung ihrer Bogen das Echo des alten Schifferrufes »Hol über!« nach – ein Echo dessen geistigvölkischer Ursprung in dem gleichartigen Menschentum besteht, seinem Leben und Schaffen, seinem Lachen und Trauern, seiner Sprache und seiner Deutschheit auf beiden Seiten des Stromes. So hat mit der Geschichte zugleich die geographische Bedingnis völkischen und staatlichen Werdens unser Nassau eng und fest an das rheinländische Schicksalsland der deutschen Volkheit gefesselt, als sie seine Täler und Höhen, Wälder und Fluren, Erze und Wasser, Dörfer und Städtchen dem Vater Rhein in den Arm legte und das liebe Menschenkind unserer Heimat in die Wiege des rheinischen Schiefergebirges bettete. Dessen schaukelnder Ausschlag aber verteilte im rhythmischen Spiel der landschaftbildenden Kräfte und Wirkungen seine segnenden Gaben nach beiden Ufern des Stroms. Rheinisches Land – unser Nassau! Und mehr ...

Mit seinem größten Binnenfluß, mit den Grenzflüssen auch, die es nördlich und südlich gegen andersartige Erdräume abschließen, bahnt es sich Straßen, die den rheinischen Geist, seine Geschichte und sein Geschick durch enge, aber seit uralten Tagen geöffnete Pforten nicht allein in den Bereich des eigenen Landes lockten, sondern dem Einfluß des Rheines auch weiteres Hinterland vermittelten und so dem Austausch der westdeutschen Landschaften und Volksstämme dienten. Von dem Zuge der rheinischen Steinzeitmenschen lahnaufwärts ins Herz des Nassauerlandes bis zu der großen Verbindungsbahn des Mittelrheines und der Mosel mit dem Hessenland und Innerpreußen nahmen alle Durchzüge durch unsere Heimat denselben Weg: die tastende Frühwanderung der bronzezeitlichen Pfahlbauer, der Wanderzug der Kelten, die Kriegs- und Siedlungszüge der Römer und Chatten, bis es des Landes Schicksal wurde, eine feste Besiedlung zu erhalten durch die Franken, einen Stamm des Übergangs, der Vermittlung, der hohen Kultur aus sich verflechtenden Wurzeln westöstlichen Pflanzbodens, doch von deutscher Kraft und Wesenheit.

Als aber das engere Volkstum dieser Erde sich nun ferner bildete, daß es persönlich erkennbar wurde in geschichtlichen Zügen und menschlicher Eigenart, da war es aus guter Mischung geworden. Einbezogen in den bald überquellenden Frankenstamm, blieb ihm die ständige Verbundenheit mit nationaler Art. Doch in seinem Blut und Leben regte sich der Eifer befeuernder Widersprüche. Da es von Chatten, Niedersachsen und Alemannen umschwärmt war, blieben die befruchtenden Einschläge volksverwandter Nachbarschaft in unserm heimischen Menschenschlag nicht aus, und die Bewohner der alten Zugstraßen in den Tälern boten denn auch bald in Lebenshaltung und seelischer Einstellung zu den Männern des Bergwaldes und der einsamen Hochflächen einen zum Austausch drängenden Gegensatz, der auf dem Hintergrund des gleichen Nationalgepräges das Gesamtleben des Landes förderlich bewegte. Es ist bedeutsam, daß das nassauische Menschentum, wie seine staatliche Einordnung, aus Kleinem zu Großem, aus Vereinzeltem zu Gesammeltem emporstieg. Wie das Mosaik ihrer Staatenwirrnis bildete sich ein typisches Volkswesen der Nassauer durch Aufnahme und Ausgleich des Vielen. – Ein solcher geschichtlicher Entwicklungsgang aber führt zu einer in Aufnahme und Abwehr starken Landes- und Volkskultur, die den Höhenweg organischen Wachstums geht. Kein Zufall, daß es zu einem vermittelnden Wesen auf einem Boden der Vermittlungen geführt hat; volkspsychologisch bewertet ein nicht weniger stolzes Ergebnis als einseitige Starrheit.

Wie Nassau so zum Sinnbild eines west-östlichen Übergangs aus den Zeiten heraufgestiegen, das in kultureller Beziehung mehr im Westen, in politischer Hinsicht stärker im Osten seine Ausgangspunkte hatte, erlangte es eine neue zeitgeschichtliche Bedeutung höchsten Ranges dadurch, daß es zu einem rheinischen Vorposten Preußens und mit zu einer Wache Deutschlands vor undeutschen Ansprüchen wurde. Freilich sind seine Grenzen nach Nord und Süd niemals zu Aus- oder Einfalltoren gegenüber der Nachbarschaft geworden, wie es schon die nur kleinen Quertäler und Bruchspalten des Gebirges und die geringe Zahl größerer und tiefeingreifender Verkehrsstraßen oder Schienenwege ahnen lassen: neben den altgeschichtlichen Fernstraßen der »Hohen Straße« und der »Hühnerstraße« die neuzeitliche »Bäderstraße« und die »Kanonenbahn«.

Gleichwohl läßt sich im Überblick von Norden nach Süden die Sonder- und Eigenart unseres Landes am besten erkennen. Wie eine erstarrte Welle des Devonmeeres liegt es – so betrachtet – am Ufer des Rheines. In einer Beckenform (Lahntal) eingesenkt, steigen die Hänge ziemlich steilwandig im Norden und Süden dieses eine Landachse bildenden Flusses auf Uferhöhen, die bald schon als Hochebene ausgebildet, in allmählichem Aufstieg zu der Gebirgskulmination sowohl des Taunus wie des Westerwaldes anlaufen, um »über den Wald« und »jenseits der Höhe« in Steilhängen nach den Tälern der Sieg oder des Maines abzubrechen. Diesem bedeutenden Schwung des Urgrundes folgt die Oberflächengestaltung des gesamten Nassauerlandes: seine Wasserscheiden liegen beidseitig an den äußeren Rändern der Hochebenen, die Mehrzahl seiner Wasserläufe folgt beidseitig den großräumig gedehnten Abhängen zur Lahn, die als Sammelrinne »in Deutschlands schönsten Gauen« das Herzblut all der Bäche von Nord und Süden trinkt.

In der Einheit dieses Aufbaus dabei eine starke meridionale Verklammerung des nordsüdlichen Geländes: Brücken zwischen Taunus und Westerwald. Devonische Schiefer sind der Untergrund für beide und bilden trotz der Verschiedenheit der basaltischen Westerwaldhöhen von den quarzitnen Taunusrücken für beide eine Gemeinsamkeit und eine Verbindung grundhafter Beständigkeit. Wälder bedecken die drei Stufen des Westerwaldes wie die drei Höhengürtel des Taunus – in verschiedenem Ausmaß, aber in verhältnismäßig sehr großem Umfang, hier wie dort. Bachläufe und Täler öffnen sich in naher Nachbarschaft an der Lahn nach Norden und Süden. Einzelne Klammern aber legen sich verbindend in Erzgängen und Quellenspalten quer über das ganze Gebiet – von der Sieg nach Braubach, von Dillenburg nach der Usa: Erz und Schiefer; von Ems nach Aßmannshausen, von Selters nach Homburg v.d. H.: Thermen und Säuerlinge. Dieser vertikale Schematismus der nordwest- und südwestlich streichenden Naturschätze zieht den parallelen Horizontalaufbau des Landes zugleich in einen Zusammenklang kultureller Arbeit und nähert Nord und Süd durch den Zwang des Wirtschaftslebens, ohne beide Landschaften in Gepräge und Menschentum doch jemals verwischen und vermischen zu können. Der »Wäller« aus seinen rauhen Gründen steht neben dem Sohn der taunensischen Berge – und die eigenartigen Charaktere der äußersten Sonderlandschaften, der junge Greis des ernsten »Hinterlandes« und das alte Kind des fröhlichen »Rheingaus« sind ohne Vergleich ... Über allem und allen aber wölbt sich der gleiche Himmel des Mittelgebirges.

Im Limburger Becken jedoch, dem Nabel Nassaus, sammelt sich gewissermaßen Volkstum und Landesfülle, von hier aus gewinnen wir nicht nur Einteilung und Anordnung der nassauischen Einzelgebiete, sondern auch eine Stätte radialen Zusammenfassens geologischer Art: mitten im Devongebiet ruht hier ein Tertiär-Seebecken en miniature, nach beiden Richtungen hinaufgreifend. Heute läuft denn auch noch eine nord-südliche Klimaklammer über diesen Punkt, wie einst die Völkerzüge vorgeschichtlicher Zeit von Ost und West diesem fruchtbarsten Boden der Heimat zustrebten. Hier unterbricht nicht nur die einschneidendste Zäsur den linearen Verlauf des Sägetales der Lahn, hier liegt die Volkstumsmitte Nassaus, die zentrale Verkehrsbrücke des Binnenlandes: der landschaftliche Angelpunkt, um den die Längsachse von Westerburg bis Wiesbaden sich dreht und die Wage des Nord-Süd-Ausgleiches pendeln muß.

Die Besiedlung Nassaus entspricht im ganzen der natürlichen Parallele der beiden Räume. Während in Dorfform und Hausbau, in Wohnung und Kleidung, in Sprache und Sitte im Rahmen der einzelnen Landschaft Unterschiede herrschen von einer oft erstaunlichen Gegensätzlichkeit, sogar auf eng benachbartem Gebiet, ist die Struktur und Dichte der Bevölkerung in der Überschau des Ganzen genau den Naturbedingungen angepaßt. Im Taunus sowohl wie im Westerwald gliedert sich die Zahl der Menschen nach den Aufbaustufen des Gebirgslandes, hier wie dort sucht die Siedlung räumlich die tertiären Böden auf, entwickelt sich zeitlich im Norden wie im Süden aus den Fluß- und Bachläufen und den Randbezirken ihrer Ufer nach den Höhen hin bis zur Waldrodung und schließlich zur Ödlandgewinnung in ständig neuer Not. Dort wie hier finden wir trotz aller Verschiedenheiten in Lage und Bauweise das Haufendorf als vorwiegenden Siedlungstyp, die Hofraite als beliebteste Wirtschaftsform. Im »Wald« wie auf der »Höhe« sind die Städtchen an die Rand- und Herzgebiete des Landes gebunden und steigen von dorther vorzugsweise den Wasserläufen nach ins Gebirge hinein, wohl angelehnt an eine alte Burg, die einst dort ihre Anpassungsform an die Natur gefunden hatte und nun die jüngere Stadt an sich heranzog, als die Ritter dem Bürger das Feld räumten und die Einsiedelei der Geselligkeit wich. Im Wald wie im Taunus überwiegen die Bauerndörfer noch die Fabrikdörfer. Dort wie hier zeugen die Ortsnamen von der Geschichte des Stammes, gleichen sich mehr noch der Wirtschaftsform an. Die Namen auf -feld, -bach, -heim, die jüngeren auf -rod, -hain, -struht, die südlichen auf -weil und -brunn, die Hinterländer Namen auf -hausen, zeigen für beide Landschaften Nassaus die Stufen der Landnahme, des Landbesitzes, des Landausbaus, ohne daß man deshalb berechtigt wäre, den Franken den Westerwald, den Alemannen den Taunus zuzuweisen, wenn auch zeitweilig die Grenze zwischen beiden Stämmen ungefähr an der Lahn verlief.

Die Sondersiedlungen aber sind ebenfalls in fast gleichmäßiger Streu über ganz Nassau hingelagert: die Burgen und Klöster des Mittelalters, die Bergwerke und Fabriken der Neuzeit. Westerwald wie Taunus boten ihnen beide geeignete Stätten; beide Gebirge schenken uns daher heute durch solche Sondersiedlungen in der Fülle der Gesamtschau Einzel-Landschaftsbilder romantischer und elegischer, aber auch der heroischen und der energischen Stimmung. – Also doch eine »Einheitlichkeit« in unserm Land?

Ja, es liegt die Ganzheit unserer »Heimat« vor uns: eine Sonderheit ohne Einheit; ein Weg von West nach Ost, von Ost nach West; ein Blatt in der Erdgeschichte, dessen Nachbarseite jenseits des Rheines in Eifel und Hunsrück aufgeschlagen ist; ein Wellenschlag der Erdrinde, dessen Kämme in Taunus und Westerwald, dessen Tal an der Lahn, dessen Strudel im Limburger Becken liegen. Eine Uferlandschaft des Rheins, eine Längslandschaft am 8. Längengrad des Erdballs – im Erlebnis aber eine Herzlandschaft des deutschen Westens. Nirgends ergibt sich für eine Gesamtüberschau ein Standort zu einem radialen Zusammenschluß des Blickfeldes; überall treibt Sicht zu Sicht, Übergang zu Übergang, Linie grenzt an Linie – und ihre letzte verläuft in der Unendlichkeit eines größeren Deutschland, dem auch unsere Heimat in den Formen seiner Landschaft wie seiner Geschichte den Weg bereitet hat.


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