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Ora et labora.
(Wahlspruch von Friedrichsdorf.)
In Frankreich lebte einmal ein König, Ludwig der Vierzehnte geheißen. Als der nun lange geherrscht und viel getan hatte, das Gott mißfällig war, so wollte er seine Seele loskaufen und einen Stuhl im Himmel gewinnen ... Derhalben entschloß er sich, zuvörderst alle Protestanten hineinzuschicken, und wenn er sie mit den Säbeln seiner Dragoner hineintreiben müßte. Louvois, sein Minister, der in Ungnade war, nutzte dies, sich wieder lieb zu machen beim König, und sprach zu ihm: ›Widerrufet das Edictum von Nantes, das Euer Vorfahr Heinrich der Vierte erlassen; die Hugenotten mögen katholisch werden oder sterben!‹«
So ist es – in altmodischem Französisch – zu lesen in der Chronik der Friedrichsdorfer Familie Privat; und andere Überlieferungen berichten, wie die Scharen Flüchtiger, den Tod hinter sich, aus allen Teilen Frankreichs zum Rhein eilten; vertrauend auf den Ruf deutscher Fürsten, die besser beraten als der alte »Sonnenkönig«, den Wert solcher zu schätzen wußten, die bereit waren, ihrem Glauben alles Irdische zu opfern. Neben dem großen Brandenburger war es vor allem dessen einstiger Reitergeneral, der Landgraf Friedrich II. von Hessen-Homburg, der berühmte »Prinz von Homburg«, der den réfugiés, die in sein Land kämen, Siedlungsboden und allen Vorschub, sowie zehnjährigen Abgabenerlaß verhieß. Mit den ersten, die kamen, gründete er die Homburger Neustadt, das eigentliche Homburg; als dann ihrer immer mehr wurden, wies er ihnen die geschützte, fruchtbare Talmulde jenseits des Hardtwaldes an; und dort entstanden zögernd – denn immer hofften die Armen in den ersten Jahren auf die Rückkehr – die ersten, hinfälligen Häuslein des »Neuen Dorfes«, das schon nach wenig Jahren – um 1695 – sich nach seinem Gründer nannte.
In der Erinnerung der Nachkommen sind die großen und schrecklichen Tage der Flucht noch lebendig; halb legendär geworden, wurden sie von arbeitsrauher Hand an stillen Sonntagen niedergeschrieben; nicht in der geschliffenen Sprache Voltaires, sondern mit der altertümlich schlichten Strenge, die sie Kalvin, ihr Reformator, gelehrt hatte. Vieles klingt wie ein Märchen.
Der alte Graf von Oudot, dessen Schloß zu Vitry-le-François in der Champagne stand, lag krank danieder und konnte nicht entfliehen. So vertraute er seine Tochter dem jungen Garnier, der sein Schäfer war und ein treuer Knecht. Sie nähten viele Louisdors in ihre Kleider, empfingen den Segen des Sterbenden; und des Grafen Segen waltete über ihrer Hütte, als der Schäfer Garnier die Vicomtesse d'Oudot geheiratet hatte und beide Strümpfe wirkten. Noch Rührenderes erzählt die Chronik der Privat. Abraham Privat schmachtete im Kerker zu St. Hyppolite im Languedoc; seine Frau hatten die Dragoner erschlagen. Von Gottes Vatergüte wunderbar gehütet, gelangten die Knaben Abraham und Antoine mit ihren neun kleinen Geschwistern über den Rhein nach der großen Stadt Frankfurt. Dort verstand keiner ihr Südfranzösisch, bis ein sprachenkundiger Pastor aus Offenbach sich ihrer annahm; der Kleinen erbarmten sich Frankfurter Familien. Nach ihren Angaben ließ der gute Pastor den Knaben einen Webstuhl machen, und nun zogen sie umher und verkauften Strümpfe. Aber die Geschäfte gingen schlecht, die Bauern der Gegend gingen zumeist barfuß. Einst kam Antoine in ein Dörflein, wo er Kinder mit Strümpfen laufen sah; und lauter rief er sein gebrochenes »Strümpf' kauf!« Vom Fenster fragte eine Frau: »Wieviel die Strümpf'?« – »Soundso viel.« – » Cela n'est pas cher,« sprach die Frau ins Zimmer, »das ist nicht teuer.« Antoine glaubte zu träumen. » Vous parlez français?« – » Et vous aussi? Vous êtes Français? un réfugié?« – » Mais oui, mais oui!« – Umarmung, Tränen; eine neue Heimat: Antoine Privat war in Friedrichsdorf.
Im Schweiße ihres Antlitzes rodeten und bauten die vom Neuen Dorfe; und das Gedeihen blieb nicht aus. Hatten die Bauern von Köppern und Seulberg die neuen Nachbarn, meinend, sie seien Zigeuner, erst gemieden, so neideten sie ihnen bald die guten Ernten; und der Landesherr mußte die »Zwiweljeehs«, wie späterer Volkswitz die trefflichen Gemüsezüchter zubenannte, Indem er die neun weißen Rosen des Wappens in Zwiebeln umdeutete! tatkräftig gegen rohe Bedrängung schützen. Indessen trieben die Kolonisten nicht mehr Landwirtschaft, als sie zur eignen Ernährung brauchten. Einfache, bald immer vollkommenere Webstühle surrten fast in jedem Haus; nicht lange dauerte es, so holten die feindlichen Nachbarn als willige Heimarbeiter Rohmaterial bei Friedrichsdorfer Unternehmern; diese hausierten erst mit ihren Weberzeugnissen; dann mieteten sie zusammen ein großes Gewölbe in Frankfurt; und Kaufleute aus der Schweiz und aus Holland, aus Köln und aus Hannover priesen die Vorzüglichkeit der Friedrichsdorfer Webwaren, die in immer neuen Varietäten auf den Markt kamen, und die solide Ehrenhaftigkeit ihrer Erzeuger. Jetzt ist freilich der letzte Webstuhl schon lange stillgelegt; der Elberfelder Großbetrieb hat ihnen den Lebensatem genommen. Dafür blüht die Hutfabrikation noch heute; und an die Stelle der Textilwaren trat ein neues Produkt, das den Namen Friedrichsdorf ruhmvoll über die ganze Erde trug: der weltberühmte Friedrichsdorfer Zwieback.
Solch tüchtigen Untertanen konnten die Landesherren vertrauensvoll die Selbstverwaltung überlassen. Nach altem Brauch wählten sie ihren maire; wenn dieser schon in den ersten Jahrzehnten auch » choltus« genannt wird, so erkennen wir darin unschwer den wetterauischen »Scholtus« oder Schultheiß. Ihm stand der adjoint und der conseil municipal zur Seite, aus dessen Mitte vier échevins (Schöffen) die niederste Gerichtsbarkeit ausübten; und der bourguemaître waltete des Stadtsäckels. So gewissenhaft man dem Landesvater den Treueid hielt, so eifersüchtig wachte man über seinen Privilegien; und als die Ansiedlung vereinzelter deutscher Familien wegen ihres lutherischen Bekenntnisses Anlaß zu häßlichem Streit gab, verbot 1731 Friedrich III. Jakob die Niederlassung Deutscher ohne Zustimmung der Gemeinde. Daher zählte 1837 diese bei über 700 Einwohnern nur ein Dutzend deutscher Familien, die indessen französiert und stolz auf ihr Franzosentum waren. Daß sie dabei allesamt treudeutsche Staatsbürger geworden waren, beweist das nie nachlassende Wohlwollen des Herrscherhauses, das 1821 dem regen Industrieorte das Stadtrecht verlieh, dazu 1828 als Wappen neun weiße Rosen im blauen Feld. Nun, trotz allen Gedeihens waren auch die Friedrichsdorfer häufiger auf Dornen gebettet gewesen, denn auf Rosen. Seuche und Brand, Kriegsnot und Teuerung lernten sie gründlich kennen. Was half es, daß die Generäle der Revolution und Napoleons den unerwartet entdeckten Landsleuten Kriegslastenfreiheit einräumten; bis solche Erlasse nach unten durchdrangen, hatten sie viel von ihrer Kraft verloren. Und die Friedrichsdorfer erwarteten es kaum anders. Gerade in den schlimmen Jahren waren sie mit ihren Nachbarn zur Schicksalsgemeinschaft verwachsen. Von Kultur Franzosen, waren sie eifrige Deutsche geworden. Als 1787 das Toleranzedikt ihnen endlich, nach hundert Jahren, die Grenzen Frankreichs wieder öffnete, dachte nicht einer an Rückkehr. Ihnen, denen das Bewußtsein ihrer Herkunft so hohen inneren Wert gab, war der französische Staat zum Erbfeind geworden; und 1870 waren 30 Friedrichsdorfer überall dabei, wo's heiß herging. Eine schöne Schicksalsfügung lenkte die Kugeln der alten Heimat an ihnen vorüber. Alle kehrten heim, stolz auf ihren siegreichen greisen König; denn inzwischen waren sie gute Preußen geworden.
Der Umschwung von 1866 hatte zunächst keine Änderung bewirkt. Ein huldvoller Erlaß des Preußenkönigs, der den Friedrichsdorfern im Rahmen der Staatsnotwendigkeiten die Pflege ihres Sonderlebens gestattete, sowie das oft bewiesene wohlwollende Interesse der Königin Augusta, die im Homburger Schloß oft die Geistlichen der französisch-reformierten Gemeinden – auch die nahe Waldenserkolonie Dornholzhausen gehörte dazu – freundlich empfing, zerstreute anfängliche Befürchtungen. Unangetastet blieben ihre beiden höchsten Güter: ihr Glaube und ihre Sprache. Patriarchalisch war seit Anbeginn das vertraute Verhältnis zu dem Geistlichen, dem eigentlichen Oberhaupt der Gemeinde. Ausgezeichnete Männer – meist waren es Schweizer – oft von weltmännischer Bildung, hielten den eifrigen Glauben der réfugiés lebendig. Da griffen täglich die Hände, die die Arbeit fahren ließen, zur alten Bibel, der Begleiterin auf der Flucht; da blieb kein Kind sitzen, wenn ein graues Haupt vorüberging; da lag heilige Sitte über den sonntäglichen Straßen. Und Beraterin, Helferin, Trösterin war nach guter protestantischer Sitte die Frau im Pfarrhaus. Als 1842 der Pastor Cérésole nach langem, segensreichem Wirken in die Schweiz berufen ward, rief ein Greis dem Scheidenden nach: »So einen Pastor kriegen wir vielleicht wieder, wie Sie; aber eine Frau Pastorin, wie Madame Cérésole eine war, nie mehr!«
Daß sie den Glauben ihrer Pfarrkinder rein und stark nur in seinem ursprünglichen Gewande erhalten könnten, wußten die Geistlichen; und deshalb waren sie auch die eigentlichen Pfleger der französischen Sprache. Erklang diese von der Kanzel und beim Gesang der Psalmen des alten Clément Marot oder später des Recueil de cantique chrétiens in reiner Gestalt, so war die Umgangssprache, in der die Dialekte der Picardie, der Isle de France, des Dauphins und des Languedoc zusammenflossen, und die, vom lebendigen Mutterboden abgeschnitten, auf der Stufe des 17. Jahrhunderts stehen geblieben war, in Wortschatz und Lautform für den Forscher hochinteressant, für den Franzosen fremdartig geworden, bis nach 1800 ein verbessertes Schulwesen (bis dahin hatten Lehrer, die nebenbei ein Handwerk trieben, den Kindern kaum das Allernötigste beigebracht) das Friedrichsdorfer Französisch derart modernisierte, daß die Friedrichsdorfer bald weithin gesucht waren als Geschäftsangestellte und Hotelbedienstete. Die Gründung des nach Art französischer Internatsschulen eingerichteten »Institut Garnier« zog seit 1836 ungezählte deutsche Knaben nach dem schönen Taunusstädtchen, die ebenso wie die Besucherinnen der Töchterpensionate dort Französisch lernten wie in Frankreich selbst. Als Lehrer am Garnierschen Institut (das sich jetzt nach fast hundertjährigem Bestehen in eine städtische Mittelschule verwandelt hat) wirkte von 1858 bis 1874 Philipp Reis, der fast vergessene deutsche Erfinder des Telephons.
Tempora mutantur. Der Franzose, der 1837, als die jetzige Kirche geweiht wurde, mit Erstaunen in Friedrichsdorf den reinen Typus des Pikarden oder des Provençalen wahrnahm, würde, käme er heute wieder, die Namen Achard, Ganterin, Rousselet und manch anderen wohl wiederfinden; aber selten nur würde sein Auge von einer französisch anmutenden Erscheinung gefesselt; umsonst würde er nach Jungens ausschauen, die, wie damals, ihr Spiel mit französischen Worten begleiteten. Schon vor 1866 war, trotz alter Privilegien, das langsame Eindringen deutscher Elemente nicht mehr hintanzuhalten; und Fr. Stoltzes bekannte Spottverse mit dem boshaften » Chassez le Gickel aus le jardin« übertreiben wohl nicht zu stark. Mit der preußischen Herrschaft kam die Freizügigkeit, und um 1890 waren unter 1200 Einwohnern schon 500 Deutsche. Um so fester freilich scharten sich die Réfugiéfamilien um ihr Palladium: noch war nicht nur die Sprache des Gottesdienstes, sondern auch die des inneren Hauses französisch; wenn auch für die neuen Bürger, ebenso wie deutsche Klassen in der Schule, so nachmittägliche deutsche Kirche eingeräumt wurde. Indessen, nicht nur die deutsche Ansiedlung, auch der Anschluß an Eisenbahn und Verkehrsstraßen lockerten die alte Abgeschlossenheit; der junge Glanz des deutschen Namens überstrahlte die verblassende französische Herrlichkeit: ohne die Ehrfurcht vor der bedeutenden Vergangenheit zu verlieren, ging die junge Generation mit dem tatenfrohen Eifer ihrer Vorfahren auf im großen deutschen Vaterlande; und nur, wenn sie Sonntags früh zum französischen Gottesdienst gingen, wurde die alte Tradition noch einmal in ihnen lebendig. Nun ist auch dies vorbei. Der Weltkrieg ist gewesen; und die ausgleichende, einebnende Walze »Gleichheit«, die seitdem an der Gestaltung des neuen Deutschland so bedeutenden Anteil nimmt, wird mit der ihr eigenen tödlichen Sicherheit die letzten Spuren eigentümlichen Wesens auch in Friedrichsdorf in nicht ferner Zeit endgültig erdrückt haben. Und dann wird Friedrichsdorf nichts mehr sein als ein gewerbfleißiger Ort, die Heimat des Zwiebacks, dessen köstlicher Duft dem Besucher leise entgegenweht, und ein reizend gelegenes, anmutiges Taunusstädtchen, der Schlüssel zum östlichen Taunus.
Und das ist immer noch recht viel.