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Das Opfer

Von Albert Henche

Als Goethe sich löste, in innerer Qual, von dem tiefsten Glück seines Lebens, da weilte Frau von Stein in Ems zur Kur.

Sie kramte in den Erinnerungen aus »abgelebten Tagen«, wo sie Mutter und Schwester des Großen genannt war. Mit dem Mondlicht, das in das Fenster des Kurhauses floß, zogen ihre Blicke in das wunderbare Tal, das seine Zauber vor ihrem Schmerz auftat, und linder Balsam träufelte ins Herz der todwunden Frau.

Der Olympier hatte ihr den Abschied geschrieben, und in heller Sternennacht saß sie am Fenster, Worte zu finden zu einem Brief der Entsagung.

Und ward nur ein wildes Lied der Anklage auf ungerechte Vorwürfe, und heiße Worte trank die kühle Nacht des Schmerzes einer verschmähten Frau.

Sie schrieb an ihren fernen Freund Knebel.

Und all ihre Klage und Enttäuschung trug sie zusammen nach jahrelanger Seligkeit und legte sie dem treuen Mann auf das mitfühlende Herz und war Rausch des Zornes um jedes Wort und trüber Grimm in der Feder.

Da sie aber aufsah und in dem Fenster das Licht des Mondes lächelnd mit silbernen Strahlen auf das Blatt des Unmuts tastete, stand Frau von Stein bald an der Brüstung und blickte über das schlafende Tal. Sie sah den Fluß gleiten in träumender Heimlichkeit und die Berge stehen in flimmernder Pracht. Aber die schweigenden Wälder zogen feine, dünne Wolkenwimpel, und ein heiliges Weben war in der nächtlichen Luft.

So mußte es Goethe gewesen sein, als er sein Mondlied empfing in schauernder Seele ...

Und wie der Gedanke zu dem Großen sprang, der ihrem Herzen wehe tat, zog mildes Verzeihen in ihre Erregung, und alle Bitternis fiel von ihr ab wie häßliche Schale von edler Frucht.

Um alter Seligkeit willen, und weil es Los des starken Weibes ist, schöner zu sein als das Leben und edler als das Geschick, legte Frau von Stein die Feder aus der Hand und griff nach einem kleinen Päckchen Briefe und las in ihnen sich in vergangenes Glück abgelebter Tage, in wehmütige Entsagung und ewigen Ruhm in der silbernen Mondnacht der Lahn.

Und eines Großen ferner Geist schwebte über die Berge her in dankbarer Erlösung von schwerer Qual:

»Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt –«

Bernhard von Knebel hat nie den Brief des zerrissenen Herzens erhalten; die Süße des Opfers ist stärker als die Zufriedenheit der Rache.


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