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Durch die Nacht fällt mit dem feinen Geknister zerstiebender Kristalle der Winterschnee auf die ummauerte Stadt.
Er lastet schon hoch auf den Giebeln und besinnt sich, ob er nicht in die engen, weiß verwehten Gassen hinuntergleiten soll. Er legt sich dem dahinstapfenden Nachtwächter wie ein mattleuchtender trockener Teig um die Stiefel und dämpft mit seinem Gestöber den Schein der Laterne, von weitem gesehen, zu einer großen, aber ungewissen Helle. Er macht alle Fensterscheiben blind und verbaut die Gesimse mit einer dichten Decke kühlen Flaumes.
466 »Es schneit immer noch!« ruft irgendwo eine frische Stimme. Dann schließt sich das Fenster wieder; und der fragende Mädchenkopf ist in die überheizte Stube zurück verschwunden: mit einem Atemzug rauhkalter Luft in dem aufgestülpten Näschen, der ihm gestattet, den süßlich dumpfen Geruch so vieler alter und junger Kniekehlen und Achselhöhlen wahrzunehmen. Und schon sitzt die Neugierige aufs neue am Spinnrad und surrt mit den andern Frauen und Mädchen um die Wette, während ihre Hände, in denen noch die Kühle des Schnees nachglüht, beflissen den Faden drehen.
Und wie der Faden durch die rastlosen Hände, so laufen die Gedanken durch die rosig blühenden oder grau verwelkten Gesichter, die hoffend der Zukunft oder erinnernd der Vergangenheit zugewandt sind. Alle hocken sie behäbig in der Sicherheit der schwer verrammelten Stadttore und ihrer noch besonders verriegelten Haustüre: seit der Kaiser allenthalben die Burgen der Raubritter brechen und sie selber aufknüpfen ließ, denken sie immer weniger an die große Welt und finden immer mehr Zeit, sich mit ihren eigenen kleinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Zuweilen wird aus dem heimlich gezettelten Gewebe von Hoffen und Bangen der eine oder andere Einschlag im gesprochenen Worte laut, um sofort von den Hörerinnen entweder leise mit ihren eigenen Träumen umwickelt oder in offener Wechselrede fortgesetzt zu werden.
»Wißt ihr's schon? Gestern hat Waffenschmieds Agnes ihren siebenten Buben bekommen . . .«
Ja, die wird nun auch bald erfahren haben, wie's um die Freuden des Ehestandes bestellt ist! nicken die alten Hauben in sich hinein. O, wir möchten gerne auch schon so weit sein; auf dem Wege dahin mag einem manches Freudenröslein 467 blühen! begegnen sich unter mutwilligen Stirnlöckchen hervor heiße Mädchenblicke. Und während die Alten die Genugtuung vorauskosten, daß sie nicht allein die Enttäuschten bleiben werden, hangen die Jungen ihren Wünschen nach und träumen von jener Erfüllung, zu der man sich nur zu gern selber entschlösse – wenn man den Mut dazu hätte . . .
»Und jetzt sind es dreiviertel Jahre her, seit der Knecht Stephan gestorben ist. Wißt ihr noch? Man fand ihn am Ostersonntag früh tot am Münster zwischen den Säulen sitzen. Er soll dreingesehen haben wie eins der armen Teufelchen, die dort in Stein ausgehauen sind . . .« Wieder ist es die mutwillige junge Magd, die das Fenster öffnete, die mit schelmischen Blicken auch eine Neuigkeit zur Unterhaltung beisteuern will, über diesem närrischen Einfall aber in sich selber einen Gedanken wachruft – »Bärbel, hieß nicht auch jener Knabe, der vor vielen, vielen Jahren die Kinder ins heilige Land führte, Stephan?«
Die Spinnräder stehen eines nach dem andern still; die Atemzüge stocken. Wie – die Kinder? Ins heilige Land? Es ist, als ob Geister, welche unbemerkt in der Luft schwebten, sich zu Form und Farbe verdichten wollten! Barbara, die alte Magd, ist die einzige, die ihr Rad nicht zur Ruhe kommen läßt, sondern nur um so emsiger antreibt, als ob sie damit der an sie gerichteten Frage und Aufforderung entfliehen könnte.
Wohl fährt die Meisterin mit einem Wort dazwischen. »Sprecht doch nicht wieder von den dummen alten Geschichten! Das waren elende, mißleitete Geschöpfe, welche der Teufel, nicht Gott zu ihrem verwegenen Unternehmen verlockte. Die hatten nicht so gute Zucht und Obhut wie ihr!« Aber vergebens bringt 468 sie als erste ihr Spinnrad wieder in Gang, wie um die andern durch ihr gutes Beispiel mit sich zu reißen und über die Unterbrechung hinwegzuheben.
»Nein! Nein! Erzählen!« rufen die jungen Mädchen. Und der und jener ist, als wollte sie lieber barfuß durch den Schnee waten, als sich noch länger über ihr Rad bücken und warten, bis das Glück zu ihr kommt. Und die Anführerin der kleinen Meuterei, welche noch die am Fenster geschöpfte frische Luft in der Nase kitzelt, erklärt dreist: »Die Bärbel weiß ein Lied von diesen Kindern! Ich meine, das soll sie uns singen, während wir spinnen . . . Am Ende ist sie gar selber mit dabeigewesen!«
Alles lacht und schaut sich nach der grauhaarigen Magd um, die mit ihren schwarzen Augen neben der Meisterin sitzt und von der die Mädchen glauben, daß sie noch am ehesten nachfühlen könnte, was jung sein heißt. Aber die Barbara läßt sich nicht aus der Fassung und ihre Hände und Füße nicht aus dem Takt bringen: sie spinnt und spinnt, als ginge das Gelächter und Gekicher nicht sie an. Und staunt doch in sich hinein, als suche sie etwas –
»Nein, so alt bin ich denn doch nicht, daß ich damals schon auf der Welt gewesen wäre!« knurrt sie endlich. »Aber wenn ihr fleißig weiterspinnen wollt, so kann ich euch ja das Lied vom König Stephan singen . . . Das wird nichts schaden . . .«
Und die Räder setzen sich, eines nach dem andern, allenthalben wieder in Bewegung. Und draußen wirbelt der Schnee, wie mit einem feinen, silbernen Knistern, auf die in nächtlichem Dunkel liegenden Giebel und Gassen hernieder und spinnt die Stadt immer tiefer in den Winter ein. Und alle lauschen durch das Gesurre hindurch: die alten Weiber mit der Überzeugung, daß es einer zügellosen Jugend mit Recht so erging; die jungen 469 Mädchen in dem Glauben, daß auch ihnen eine solche Kreuzfahrt behagen würde –
Die alte Barbara aber singt, aus gerührtem Herzen und mit atemkurzer, krächzender Stimme:
König Stephan zieht in das heilige Land,
Mit leuchtenden Fahnen und Kerzen.
Die Kinder, sie halten sich fromm bei der Hand.
Wie glühen die Augen, die Herzen!
Hilf, heiliger Christ, und führe sie gut!
Bewahr sie vor Räubern und Heiden.
Was will all der Jugend verlangendes Blut?
Sie stürzen in Sünden und Leiden.
Sag an, König Stephan, wo wintert dein Heer?
Wo liegen die gläubigen Seelen?
Verschmachtet im Sand und versunken im Meer . . .
Laßt Gott uns die Ärmsten befehlen!
Ende des vierten Buches.
Ende des Romans.
laus deo.