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Sie wandern seit Tagesgrauen.
Knaben und Mädchen. In einsamen Pärchen; in fröhlichen Gruppen. Einander überholend, sich trennend, sich wiederfindend.
Wie sie gerade der Zufall zusammenführte, nachdem sie in der Morgenfrühe, mit oder ohne Reisesegen, das heimatliche Dach verlassen hatten: so ziehen sie durch Felder und Wälder, der großen Heerstraße zu, auf welcher Stephan mit seinem Königswagen angerollt kommen soll.
O dieser frischfächelnde April! Auf den Bergen, in schattigen Mulden, liegt der letzte Winterschnee: weiß spiegelt er sich da und dort in einem Weiher, zusammen mit dem blauen Himmel, 45 in welchem langgestreckte weiße Wolkenfische schwimmen. Und wie erstarrte Schaumwellen glitzern, vom letzten Föhnsturm heraufgeschwemmt, die noch nicht geschmolzenen Reste der zersplitterten Eisdecke an dem flachen Ufer, an welchem sie vorbeiwandern.
Und strahlt nicht schon warm die Sonne auf die freimütig unbedeckten Häupter hernieder? Siehe, das Leben bietet sich ihren jungen, durstigen Sinnen wie ein herrlicher Wein dar, welcher unter kältendem Prickeln sein süß gärendes Feuer verbirgt. Die ganze Welt hat heute – wie die Jugend, die sie durchstürmt – eine kühle Haut und ein heißes Blut.
Es ist ein Wettlauf der lachenden Überkraft. Um die Richtung nicht zu verlieren, übersteigen sie Hügel auf Hügel, von denen sie nach Stephans Wagen ausschauen. Vergebens! Und dazwischen brechen sie immer wieder aufs neue durch Haselwäldchen hindurch, wo die heimlich blühenden Kätzchen den Mädchen feinen gelben Staub auf Wangen und Nacken streuen und die Knaben ihn hinterrücks den in seliger Not Aufkreischenden wegküssen. Oder die Mädchen sticken sich während der kurzen Rasten vorn auf dem Busen aus Gänseblümchen Kreuze ins Gewand; und die Knaben durchbohren knospenstrotzende Ruten, stecken ein Querstäbchen hindurch und tragen das Ganze als Feldzeichen.
Ziehen sie gen Jerusalem? Sie ziehen dem Glück entgegen. Sie kränzen ihre Stirnen mit Schneeglöckchen; und mit ausgebreiteten Armen begrüßen sie immer wieder aufs neue die blaue, weißduftig ausgegossene, allmählich von silbernen Prallwolken durchsegelte Ferne. Ein Mädchen bejubelt an einem sonnigen Bord die ersten, unter dürr herabhangendem Gras 46 blühenden Veilchen und steckt sie sich als Sträußchen zwischen seine jungen Brüste: und wo es fortan an den Buben vorbeiflitzt, fühlen sich diese alsbald von einer unbegreiflichen Süße umwittert, die sie närrisch macht.
Wahrlich, eine Ostern voll Kraft und Stärke ist über die Erde gekommen! Alles, was jung ist auf ihr, spürt bis in den verschwiegensten Pulsschlag hinein das Walten des Frühlings, das die Knospen zur Blüte, die Herzen zur Liebe erschließen will. Eine Lust ist ihnen die Anstrengung der Glieder, die sie gehorsam über Land tragen; eine Wonne dünkt die Buben und Mädchen das unaufhörliche Hügelauf-Hügelab, das sie wie ein heimlicher Tanz der Erde anmutet, den sie ihr gutgelaunt nachmachen; und mit offenen Lippen und Nüstern trinkt die schwärmende Wanderschar den himmlischen Boten in sich ein, den kühl daherwehenden Wind, der immer wieder die feuchten Stirnen trocknet.
Viele haben sich nur für ein paar Stunden anschließen wollen, einer unwiderstehlichen Neugierde folgend; aber die Größe des Augenblicks reißt sie mit sich fort. Immer finden sie solche, die sich mit Vorbedacht für die Fahrt ausgerüstet haben und gerne den letzten Bissen mit ihnen teilen: sie tauchen ihr hartes Brot in das kalte, dunkelklare Bächlein, das kahlen Pappeln entlang einem unbekannten Ziel entgegenfließt; und es liegt ein Segen auf dem Mahl, als wiederholte sich die Speisung der Fünftausend. Und wo sie über eine Brücke kommen, sehen sie da nicht unter sich im stillen Wasser ganze Fischzüge vorbeischwänzeln? Und wenn sie es am wenigsten vermuten, stiebt nicht mit schneidig wuchtendem Aufrauschen aus den nächsten Wipfeln ein Starenschwarm davon und verschwindet wie ein Wegweiser im blauen Himmel? Alles wandert!
47 Und hinter ihnen, die mitwandern, bleibt alles, was stillesteht, Häuser und Menschen, wie tote Schatten zurück. Aus den Gehöften treten die Bauersleute hervor, staunen sie an und fragen sie aus; und wenn sie sagen, daß sie nach dem heiligen Lande pilgern wollen, so tönt ihnen ein ungläubiges Lachen entgegen. Aber auch mancher heimlich bewundernde Blick gilt den rüstig Davonschreitenden; und dieser und jener, verlegen vor soviel Entschlossenheit, kratzt sich hinter den Ohren und murmelt vor sich hin: »Ja, wenn ich noch jung wäre! Da machte ich auch mit!«
An manchen Orten reicht man ihnen Milch oder steckt ihnen gedörrte Birnen in die Taschen; und sie singen mit lustigen Augen ein frommes Lied dafür. Viele alte Frauen küssen sie unter Tränen, bevor sie sie wieder ziehen lassen; und gebrechliche Greise, die sich nicht mehr von ihrem Lehnstuhl erheben können, stoßen mit der Krücke das Fenster aus, um wenigstens die jungen Stimmen zu hören und den entschwindenden jugendschlanken Gestalten nachzuschauen. Nur einmal droht ihnen ein versoffener Knecht unter lästerlichem Fluchen mit der Mistgabel: aber er tut es nur, weil ihm das Herz vor Reue brennt. Und eine griesgrämige Alte schimpft über die Hühner, die allenthalben die Eier unter die Büsche verlegen, und möchte am liebsten die wallfahrtenden Buben dafür verantwortlich machen.
Alles das geht an ihnen vorbei wie der Tag selber, an dem sie es erleben, und will nicht in ihrem Gedächtnis haften; denn ihre Seelen sind ganz Zukunft, ganz Erwartung. Gegen Abend endlich erblicken sie von einer Hügelkette aus, in einer von den ersten blühenden Obstbäumen erleuchteten Ebene, die große, staubweiße Heerstraße, auf welcher in kurzen Abständen 48 unzählige andere Kinder daherwandern; und während sie sich ihr vollends nähern, weicht ihre Fröhlichkeit nicht nur der natürlichen Ermattung dieses ersten Wandertages, sondern ebensosehr einem tiefen Ernste, der sie beim Anblick der gewaltigen Schar befällt. Sie erkennen in ihnen allen den gleichen Willen, aber ebenso das nunmehr für sie bindende Gesetz.
»Wo ist der König Stephan?«
»Dort hinten naht er.«
Müde und bestaubt trottet diese Vorhut vorbei, welche nicht mehr der König, nur noch der endlose Weg lockt. Sie aber, die Neuangekommenen, wollen sich in der Kühle des verglühenden Tages und angesichts der hereinbrechenden Dämmerung allmählich verirrten Lämmern gleichdünken, die ängstlich nach dem Hirten ausschauen; und es wird ihnen, zu ihrem eigenen Erstaunen, auf einmal wieder bewußt, daß sie eigentlich nicht die Lust des Lebens zu kosten, sondern das Leid der Welt zu überwinden von Hause aufgebrochen sind. Da erscheint endlich, immer wieder von andern Ankömmlingen umjubelt, auf seinem Ochsenwagen der jugendliche König – und jetzt stimmen auch sie in das Rufen und Jauchzen ein.
Stephan sitzt, in seinem Schaffell, unter der Muttergottesfahne und winkt und grüßt . . . »Nach Jerusalem! – Gott schenke uns die Kraft, daß wir das Reich des ewigen Friedens errichten! – Auf, nach dem heiligen Lande, wo unser Erlöser gestorben ist!« . . . Und er erblickt auch in ihnen – und sie in ihm – den Beweis dafür, daß ihr innerstes Gefühl, indem es sie zueinandertrieb, sie nicht betrogen hat; und diejenigen, die den Wagen umgeben, nehmen sie mit jener Herzlichkeit unter sich auf, zu der sich alle von dem großen Augenblick der Begegnung entflammt fühlen.
49 »Bruder! Schwester!« rufen sie einander zu, fallen sich um den Hals und schließen sich innig in ihre jungen Arme. Jetzt erst, wo sie ganz in dem Glück eines alle verbindenden gemeinsamen Zieles ausgehen, wissen sie sich für immer dem Kerker der Jugendeinsamkeit entronnen und zu ihrer heiligen Aufgabe geweiht. Und die Nacht hat keine Schrecken mehr für sie, sondern nur noch Sterne, aus denen er, der sie alle führt, der Jüngling mit der Muttergottesfahne, schon den rechten Weg ablesen wird.
Zwar ist ihnen der Königswagen längst wieder weit voraus. Aber siehe: Wo sich die Neulinge in dem Gewühl der müden Pilger nach der ersten freudigen Begrüßung alsbald verlassen vorkommen und darüber die eigene Mattigkeit um so mehr empfinden, da treten als gute Hirten die Abgesandten Stephans zu ihnen! Mit ihren Stecken gehen Lukas und Markus an dieser Kinderherde in der Dämmerung auf und ab, reihen die Mutlosen zwischen die Mutigen, die Traurigen zwischen die Fröhlichen ein und sorgen überall dafür, daß das warme Feuer der Seele um so heller brennt, je dunkler die Nacht auf die Erde herniedersinkt.
Und wunderbar! Wo werden sie diesmal ihr Haupt zur Ruhe legen? Sie wissen es nicht; und sie fragen es auch nicht. Mit neuen Kräften schreiten sie dahin, als gehorsame Glieder an dem mächtigen, langgestreckten Heereskörper, dessen Gehirn er ist, Stephan, der König von Jerusalem, der an ihnen so fromm und herrlich vorüberzog. Bis plötzlich mit einem leichten Ruck alles stillesteht unter dem kühlglitzernden Frühlingshimmel und die Kinder – auf und neben den Wagen; einzeln oder in kleinen Gruppen, die sich den glücklichen Besitzern von Decken angeschlossen haben – einen raschen, tiefen Schlaf finden . . . 50