Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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10. Alix in der Burgkapelle

Alix schreitet mit mädchenhaft leichtem Schritt und zartgefaßtem Spiel aller ihrer Glieder langsam über den vom blauen Frühlingshimmel beglänzten Burghof.

40 Ihre Hand öffnet leise die Pforte der Kapelle. Farbige Scheiben sammeln und verdichten in dem schmalen, hohen Raum das grelle Tageslicht zu einer frommen Glut; und alles, was Welt heißt, bleibt hinter ihr zurück. Sie nähert sich durch das stillhallende Dämmer dem ewigen Licht, das zu Füßen eines bemalten Holzbildnisses der Jungfrau Maria leuchtet.

Ihr Knie sinkt auf einen Schemel; gleichzeitig faltet sie die kindlich feinen Hände zum Gebet und neigt das Haupt mit der reichen Nackenlast der Haare vornüber. Lautlos umrinnt sie die Zeit, während die Sehnsucht ihrer Seele für eine selbstvergessene Weile in der Ewigkeit Anker wirft: sie will es aller beginnenden Erfahrung zum Trotz nicht glauben, daß das Leben eine endlos sich erneuernde Selbstüberwindung ist. Angstvoller denn je flieht sie heute in die heilige Nähe des Göttlichen.

Sie verschließt Sinn und Geist vor der Erkenntnis, daß in den Buchenwäldern, die draußen rings den Burghügel hinanklettern, die jungen, grünen Knospen die winterdürren Blätter wegsprengen. Ist es denn wahr, daß sie einem Frühling entgegensprießen, welcher vom Leid des vergangenen Herbstes nichts weiß und ganz nur von der eigenen Seligkeit geschwellt ist? Unbewußt legen sich die verschlungenen Hände wie ein Reif über ihre junge Brust, um in ihr all das unbekannte Drängen zu bezwingen, das sie mit bangenden Zweifeln erfüllt und sie beständig auf der heimlichen Flucht vor sich selbst sein läßt.

Endlich steht sie von dem Schemel auf und setzt sich, durch das Gebet gestärkt und wie auf eine Antwort wartend, auf die kleine Bank. Wie oft hat sie nicht hier mit ihrer Mutter gesessen! Ist es möglich, daß sie jetzt dort unter der schweren, neu in den Fußboden eingefügten Steinplatte liegt und daß das Wort Wirklichkeit erlangt hat, mit welchem sie das letztemal zur 41 himmlischen Jungfrau emporzeigte: »Bald wird das deine Mutter sein, Kind!«? Wie emsig auch die gute, große, bleiche Frau in Haus und Hof ihren Geschäften nachging, einmal des Tages begegnete sie ihr wie von ungefähr, nahm sie leise bei der Hand und zog sie mit sich hierher, um ein Viertelstündchen allein mit ihr zusammen zu sein, Schulter an Schulter, Puls gegen Puls, Liebe mit Liebe.

Und jetzt ist sie bei Gott! Und drei Schritte von ihr weg ruht ihr Leib, im Grabe. Alix denkt nicht daran, daß ihre Seele unendlich weit von ihr entfernt sein könnte; jedem, auch dem flehendsten Ruf für immer außer Hörweite gerückt; verschwunden mit jenem Schatze des Erlebens, aus dem sie eben jetzt schöpfen möchte. Sie sieht vor sich nur den milden Blick ihrer Augen; nur das wortlos tröstende Lächeln ihrer Lippen; die weich über Haar und Wange streichende Liebkosung ihrer Hand. Und erst zuletzt gesteht sie sich schluchzend ein, daß all das nichts mehr als eine Erinnerung voll des bittersten Leides ist.

Sie erhebt sich aufs neue, nähert sich dem Grabe und kniet auf die harte Platte nieder, unter welcher sie den Leib weiß, der Geduld und Güte war. Und ihre Hand streicht sanft über die eingeritzten Buchstaben, die sie nicht lesen kann und auf die jetzt in heißer Verwirrung ihre Tränen niederfallen – »Was erleben wir Frauen, wenn unsere Zeit gekommen ist? Sag mir's, Mutter! Sag mir's!« Aber der Steinboden gibt keine Antwort; und der Widerhall an den hohen Wänden klingt ihr wie Hohn in der Seele.

Sie merkt nicht, daß sich die Türe der Kapelle in ihrem Rücken bis zu Handbreite geöffnet hat und sich jetzt geräuschlos wieder schließt: sie schaut mit Augen voller Gram zu der Gebenedeiten empor; zur großen Mutter aller derer, die keine 42 Mutter mehr haben. Draußen aber steht der Graf, welcher, bevor er ausreitet, noch hat beten wollen. Warum geht er nicht hinein und betet mit seinem Kinde zusammen? Er setzt sich schwer auf die steinerne Bank an der Mauer, stützt vornübergebeugt das Kinn in die Hand und starrt, unter verfinsterter Stirn hervor, über den Hof hin nach dem Stall, wo der Knecht sein Pferd sattelt. Dagegen hilft kein Beten nichts: das Leben ist ein wilder, dunkler Strom; und bis in die Lebensmitte, und oft auch darüber hinaus, gerät man immer tiefer in ihn hinein. Er hat es erfahren und erfährt es täglich mehr: daß die Seele wohl so, das Blut aber anders will. Was weiß ein Kind davon? Was weiß sein Kind davon?

Er reckt sich empor. Ob er mit oder ohne Gebet zur Gräfin reitet, es wird doch alles so kommen, wie es kommen muß! Und wird nicht auch Alix früher oder später dasselbe erstreben und dasselbe erleben wie jedes andere Weib? Ewig wird auch sie nicht bleiben, was sie jetzt noch ist; ewig wird auch sie nicht etwas vor ihm voraushaben, um dessentwillen er sie beneidet, sich scheut vor ihr und zugleich sich ärgert über sie.

Während er noch steht und grübelt, geht hinter ihm das Pförtchen der Kapelle auf; Alix tritt heraus. O, er fühlt recht gut, wie sie am liebsten wieder umkehren möchte! Sie nickt zum Gruße und geht an ihm vorbei. Ihre Füße sind auf einmal unsicher in der Richtung.

»Immer fromm, mein Töchterchen?« Er versucht zu scherzen.

»Ja, Vater.« Ihr Gang stockt. Sie ist wie gebannt von seinem Wort.

»Alix –« Die Rede versagt ihm; er staunt über sich selbst. »Alix, siehst du . . . wir beide können's ja nicht ändern, daß Mutter . . . Du bist jetzt alt genug und mußt etwas von der 43 Welt kennen lernen . . . Ich will dir für einen Lehrer sorgen . . .«

»Wie Ihr meint, Vater.« Sie tut einen Schritt seitwärts. Ihr schlanker Leib weicht aus vor ihm, wie auf beginnender Flucht.

Kann er denn auch nicht ein Wort mehr sagen, das sie nicht verletzt? Was ist an ihm, das sie abstößt? Wie einen lautlosen Vorwurf empfindet er die unwillkürliche Beschwörung in ihren Bewegungen.

»Ich habe einen Klosterschüler für dich im Auge!« fährt er fort. Aber schon wird er wieder unsicher und räuspert sich. »Hm! Ja! Der kann Latein und weiß allerlei schöne Geschichten. Da wirst du wieder fröhlich werden – Man muß vergessen, Kind, vergessen! Sonst kann man das Leben nicht aushalten . . .«

Er stößt es auf einmal abgewendet, gequält vor sich hin; als ob er sie zwingen wollte, ebenfalls zu tun, was er tut. Und ohne sich umzublicken, merkt er, daß sie davoneilt, als säßen ihr seine Gedanken wie ein Raubtier im Nacken; und er weiß: nun verbirgt sie sich wieder in ihrem Turmzimmer. Aber da sieht er den Knecht mit dem gesattelten Pferd auf sich zukommen; er steigt auf und reitet durch das Burgtor in den noch kahlen Wald hinaus –

Das ist das Beste: Er wird ihr einen Lehrer geben! Warum sollte der junge Hungerleider, von dem sich seine Freundin ums tägliche Brot alte Heldensagen vortragen läßt, nicht einmal für ein paar Wochen unter seinem Dache hausen? Wenn er und die Gräfin einmal zusammenleben, wird sie ohnehin keine Dichtung mehr nötig haben, um sich die Langeweile zu vertreiben! Und schließlich: was kann ein Vater Besseres tun, als auf die Bildung seiner Tochter bedacht sein? Am Ende wird sie noch Hoffräulein werden und ihr Glück machen . . .

44 Er reitet und reitet. Die Sonne, ob sie auch nicht wärmt, scheint doch grell vom Himmel herunter: sie belegt den Weg vor ihm mit solchem Silberglanz, daß es ist, als müßten die Hufe des Pferdes darauf wie auf Eis ausgleiten. Aber unter dieser blendenden Spiegelung liegt der weiche Grund der tauenden Erde, der sogar einen ersten, vorsichtigen Galopp gestattet.

Frühling! Die Welt fängt von vorne an; und auch der Mensch muß und soll immer wieder von vorne anfangen. Das wird Alix schon noch lernen; und je früher sie es lernt, desto leichter wird sie es ertragen. Sonst wäre sie am Ende noch imstande, mit den törichten Kindern davonzulaufen, von denen die Rede geht, daß sie sich in Scharen zusammenrotten, nach dem Süden ziehen und – die Närrchen! – das heilige Land erobern wollen . . .

 


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