Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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40. Ewige Ostern

Stephan erwacht mitten in der Nacht.

Wie hat er doch den langen, nebelschweren Winter hindurch immer tief und ruhig geschlafen! Und nun, seit der Frühling herannaht, ist es ihm immer, als rufe ihn eine Stimme. Auch jetzt.

Er mustert die kahlen Wände seiner Gesindekammer und bemerkt an ihnen schon den Widerschein des grauenden Tages. Und er besinnt sich: Gestern war Charfreitag; und morgen wird Ostern sein. Nein, es ist schon Ostern!

Durchs Fenster sieht er an die waldigen Hügel hinüber, die sich jenseits des Flusses erheben und vor denen wagrecht ein paar feine, bläuliche Nebelschwaden schweben. Sie stehen auf dem klaren Bilde der Landschaft wie die letzten Spuren einer Trübung durch die nächtliche Finsternis, aus welcher die Erde allmählich in das Licht eines neues Tages emportaucht. Noch einmal liegt dieser der menschlichen Seele angewiesene Bezirk vor ihm in seiner kühlen Schönheit, die nur die Jugend mit ihren schweifenden Sehnsüchten zu beleben vermag, das Alter dagegen in ihrer Fremdheit und Leere erkennt und durchschaut.

Das Dunkel hebt sich immer mehr von Berg und Tal; und auch Stephan lockt eine innere Unrast, sich zu erheben und zusammen mit der grausilbernen Frühe in den köstlichen Sonntag hineinzuwachsen. Und er steht auf und schiebt mit vieler stummer Mühe seine steifen, zitterigen Glieder nacheinander in sein Feiertagsgewand, setzt das Käppchen auf seinen braunen, nur 461 noch von wenigen weißen Haarbüscheln umkränzten Kahlschädel und steigt, tastend und schwankend, leise die engen, düsteren Treppen hinab. Noch schläft alles im Haus und auf der bleichen Gasse, auf die er hinaustritt: nur in der gegenüberliegenden Bäckerei brennt Licht.

Und er wandert bedächtig durch die morgendlich stille Stadt, in welcher seine Schritte langsam und sonderbar widerhallen, als wäre er ein Gast aus einer andern Welt. Und überall, wo er ein Handwerk angesiedelt weiß, sieht er vor der Werkstatt alles aufgeräumt und reingewischt, damit an diesem hohen Feiertag keine Erinnerung an der Hände Arbeit die Sammlung und Andacht des Herzens störe. Und in den Stockwerken darüber, hinter den kleinen Fenstern, schlafen die Menschen dem Tage entgegen, an welchem sie ihre Sorgen abwerfen und sich wieder einmal ihres göttlichen Erbes erinnern möchten.

Sie schlafen noch, weil sie noch tiefer in diesem Erdenleibe verhaftet sind als er. Und weil sie noch nicht an sich erfahren haben, daß dieses Erdenleben nur eine kurze Wanderschaft in der Fremde ist – eine Verbannung aus der himmlischen Heimat, in welche alle Willigen zurückkehren dürfen –; sondern das, was ihre leiblichen Augen sehen, mit bitterem Ernste als einzige und letzte Wirklichkeit betrachten: so weinen oder freuen sie sich in gleich törichter Weise über alles, was ihnen auf ihrem Wege begegnet, statt daß sie jedes irdische Gut an nichts anderem als an dem endgültigen Ziele eben dieses Weges messen. Aus solchem dunklen Traum und Rausch des Vergänglichen erwacht kaum einer jemals: sie müssen aufgeweckt werden.

In wenigen Stunden wird Groß und Klein nach dem Münster strömen und werden die Glocken ihren hell und dunkel gewirkten Tönemantel über die Dächer, den Mauerkreis und die ganze 462 Landschaft verbreiten. Aber gleichwie diese Klänge aus hangenden, schwingenden Erzmündern auf die Erde niederfließen, so will es Stephan auch dünken, daß sie die andächtige Gemeinde, die sich unter ihrer Hut zusammenfindet, an der Erde festhalten und mit allem, was irdische Heimat heißt, erst recht verknüpfen. Einen mächtigeren Ruf ersehnt seine Seele: nicht jenes dunkle Summen, das die dumpfe Menge umspinnt und unter sich verbindet; sondern ein goldgleißendes Dröhnen und Schmettern, das die Tore des Himmels aufsprengt und die vom Schicksal Auserwählten zu Aufbruch und Eintritt ladet – und das immer nur von den einzelnen, die den andern voraus sind, vernommen wird.

Er blickt nach dem schlank in den bleichen Himmel aufschießenden Glockenturm, dem er sich auf seinem Gange durch die Stadt unwillkürlich nähert. Werden aus seiner Höhe auch dieses Jahr die jungen Posaunenbläser ihre frommen Fanfaren über die schlummernde Stadt hinjubeln lassen und die Erwachenden daran erinnern, daß sie eines Tages nicht nur ihr Lager, sondern auch ihren Leib aufgeben müssen, um vor Gottes ewiges Richterantlitz zu treten? Wahrlich: Er glaubt schon aus den Luken der luftigen Glockenstube die gelben Metallröhren nach allen vier Himmelsrichtungen ragen und auf den ersten Sonnenstrahl warten zu sehen, um das nicht nur dem Tag, sondern auch dem Jahr zurückkehrende Gestirn mit den frohen Erzklängen einer starkmutigen Auferstehung zu begrüßen – und weiß doch, daß seine Augen so schwach geworden sind, daß sie kaum mehr den Turm gewahren.

Und doch sieht er ihn, in deutlichster, sonnigster Klarheit, mit allen seinen luftigen Steinzieraten vor sich, in sich; so, wie er überhaupt die ganze Welt und alles in ihr Erlebte auf 463 einmal wie einen innerlichen Seelendom erkennt. Er ist aus der engen, bedrückenden Gasse auf den großen Platz vor dem Münster hinausgetreten: Aber erblickt er in Wirklichkeit den himmelhoch ragenden Steinbau? oder ist es wiederum nur ein herrliches Sinnbild, an welchem sich ihm das Hier und Dort des Raumes wie der Zeit zu vermischen beginnt? Wie er in seinen Gedanken die breite Freitreppe hinaufsteigt, erinnert er, nein, erlebt er plötzlich noch einmal jene furchtbare Nacht, in welcher er mit Ellenor sich in die Kathedrale hineinflüchtete, um am andern Morgen neben den Leichenhügeln von Tausenden hingemordeter Menschen zu erwachen –

Tastete er nicht damals nacheinander die Beine der in den Säulennischen ausgestellten Heiligenbilder ab, um von dem verschlossenen Hauptportal aus das offene Seitenpförtchen zu finden? Und so fängt er auch hier an, vom geschlossenen Haupteingang weg sich nach rechts zu bewegen und wie ein Blinder mit der Hand die Statuen abzufingern. Da greift er auf einmal ins Leere, stößt aber etwas tiefer wieder auf harte Mauer und entsinnt sich mit einem Lächeln, daß das für diese Nische bestimmte Bildwerk noch keinen Stifter fand und darum auch noch nicht zur Ausführung gelangte; und da er nicht nur gegen ein wachsendes Dunkel vor seinen Augen, sondern immer mehr auch gegen eine unaussprechliche Müdigkeit in seinen Beinen anzukämpfen hat, läßt er sich selber auf den niedrigen Sockel hinsinken und empfindet es als eine wohltuende Erleichterung, wie die beiden hohen Säulen in seinem Rücken seine Leiblichkeit in ihre himmlisch-kühlen Arme aufnehmen.

Wo wollte er nur hingehen? In die Kirche hinein? Ihm ist vielmehr, als wäre er aus einer dunklen Begrenzung herausgetreten: Und wie sollte er jemals in sie zurückkehren wollen? 464 Dort morden sie sich, daß das Blut in Strömen fließt! Wie ihnen selber ihr Körper zu eng ist, so daß sie ihr Leben immer in einen andern weitergeben, so machen sie sich auch gegenseitig die Welt unerträglich und zerfleischen sich um den Platz an der Sonne! Als ob sie Feinde wären, wo sie doch Brüder sind und ihnen nur das eine nottäte: daß die Stimme Gottes sie anruft und sie aus ihrer Raserei, die sie Leben nennen, aufweckt –

Da dröhnen aus der Höhe des Himmels goldene Klänge herab wie ein Willkommgruß himmlischer Heerscharen! Sind das nicht die tödlich hinreißenden Töne, die er damals vernahm, als ihn in flimmernder Sternennacht die Botschaft des Herrn aus der dunklen Not seiner Jugend herausriß und ihm die schwere Aufgabe seines Lebens auf die schwachen Schultern legte? Diese Töne klangen vor ihm und seiner Kinderschar her, als sie die Lande durchzogen, um das heilige Grab zu befreien, und damit nichts anderes anstrebten als jene große Umwandlung, die aus dem Kampf der Menschen gegeneinander einen Kampf des Miteinander macht und die ihre Einfalt den »ewigen Frieden« nannte; und solche Töne, wie sie jetzt in den aufglühenden Morgen hineinhallen, müßte, dünkt es ihn, auch der gläubige Christ vernehmen, der als Heimkehrender bereits die Schwelle des Gottesreiches betritt, während ihm noch die leibliche Stimme des Priesters nachhallt: Proficiscere, anima christiana! Brich auf, du fromme Christenseele!

Zurückgelehnt zwischen die beiden Säulen, demütig eingefügt in das Gewordene, Bestehende, lauscht Stephan mit geschlossenen Augen in den unendlichen Himmel empor, in dessen Frühlingsblau vom jungen Sonnenlicht durchtränkte goldrote Wölkchen schwimmen. Wie Sterne schweben die Töne auf und ab und durcheinander, im Spiele ihrer Klangfarben 465 eine geistige Welt für sich bildend und immer mehr den Geist dessen an sich ziehend, der bald nur noch Geist sein wird. Und ein ahnungsvolles Entzücken durchweitet sein Herz in dem Gedanken, daß, wenn einst die letzten Osterposaunen auf dieser Erde erklingen werden, weil das unselige Pilgerheer sein Ziel erreicht hat, auch er sich sagen darf, daß er eine kleine Strecke Weges mitzog und jene heimliche Saat der Liebe ausstreuen half, deren Früchte die Sehnsucht nach dem Himmel wach erhalten.

Da verblassen, gleich einem süßen Flötenhauch, allmählich die Klänge der Höhe und entschwinden lockend in immer lichtere Fernen. Wie manches Mal wird das Geschlecht der Menschen sich noch erneuen müssen, bis es diesen Ruf so tief in der Seele erlebt hat, daß es seinem Gebot nicht mehr untreu wird? Auf ihrer Wanderung durch die Jahrtausende segnet die Unseligen das Lächeln eines Erlösten . . .

 


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