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»Lukas!«
Dieser tiefverwunderte Ausruf schlägt ihm entgegen, wie er um die Waldecke biegt und vor sich das Spiegelbild seiner selbst zu erblicken glaubt: einen barhäuptigen jungen Hirten im staubgrauen Schaffell, mit dem Wanderstecken in der Hand und dem Wassergesäß an der Seite.
»Du bist es, Markus? – Aber wo hast du die geworbenen Heerscharen?«
»Wo hast du die deinen . . .?«
Da treten sie ganz nahe zueinander, umarmen sich mit schmerzlicher Innigkeit und drücken sich den Bruderkuß auf die Wangen.
»Setzen wir uns hier auf das Wegbord,« fährt Lukas fort, »und ich will dir meine Erlebnisse erzählen.«
»Aber wenn uns die Nacht überrascht?«
»Mich überrascht nichts mehr . . .«
Markus läßt sich neben Lukas nieder und schaut über das Tal hinweg, nach der Stadt und der neben ihr golden in gebirgige Erdfalten hineinsinkenden Sonne.
»Du wirst erkannt haben, was ich: daß die wenigsten aus himmlischer Sehnsucht, die meisten aus irdischem Überdruß sich aufmachten und zu uns stießen!« beginnt er seinerseits. »Den Werktag zu fliehen ist ihnen immer weit wichtiger, als den Sonntag zu finden!«
»O, wenn ich an den Anfang zurückdenke, mit Stephan zusammen!« seufzt Lukas. »Ihm strömten eben die wirklich 163 gläubigen Seelen zu; mir, als ich allein über Land zog, bald nur noch ein wildes Gesindel, dem der Kreuzzug ein guter Vorwand war, in der Welt herumzutollen, und welchem ich, lief es mir nicht davon, selber bei der ersten Gelegenheit davonlief . . .«
»Vielleicht liegt es auch an uns!« sinnt Markus vor sich hin. »Vielleicht sind wir keine Apostel, sondern nur bescheidene Evangelisten, die sich in der Nähe ihres Herrn und Meisters hätten halten sollen . . . Er allein ist der Begnadete!«
»Aber war nicht Stephan selber es, der uns aussandte? Und wenn wir jetzt auch mit leeren Händen zu ihm zurückkehren, so doch nicht mit leerer Seele!« wirft Lukas bitter ein. »Ich wenigstens habe mein Teil gelernt in der Welt und kann ihm berichten.«
»Ja, die Erfahrungen, die wir unterwegs gemacht haben, werden ihm kaum schmecken!« bestätigt Markus. ». . . Übrigens: Weißt etwa du, wo er zu finden ist? Bald heißt es: er ist schon vorbeigezogen; bald: er ist noch nicht gekommen. Es hat fast den Anschein, als ob noch etliche falsche Stephane ihr Wesen trieben . . .«
»Wäre das das Schlimmste?« träumt Lukas in den roten Westen hinaus. »Was ist überhaupt in dieser Welt noch wahr und sicher? Hättest du gedacht, Markus, daß es in ihr soviel Lüge und Verwirrung gibt? – Bald glaube ich noch fester als an Gott, der uns führt, an den Teufel, der einem überall Fuchsfallen und Fußangeln legt . . .«
Sie schweigen.
Seltsam genug! Jeder von ihnen hat den Rückweg zu Stephan, dem Auserwählten, gesucht, um sich aus dem Borne seiner Kraft neuen Mut zu schöpfen – und dabei sind sie nach 164 vielen Tagen des Umherirrens einander in die Hände gelaufen. Und jeder findet den andern so leer und enttäuscht, wie er sich selber fühlt. Sollte auch das Schicksal sein?
Die Sonne ist hinter die blauen Berge gesunken und hat über ihnen nichts als einen rötlichen Rauch zurückgelassen. Der Sommerabend haucht so warm die Wiesen herauf – und sie wissen sich so sehr aller Schätze entblößt, die einen Räuber anlocken könnten –, daß es ihnen nichts ausmacht, die eindämmernden Stadtmauern von ferne zu betrachten und die Nacht im Freien zu verbringen. Auch möchten sie das Glück des unverhofften Wiedersehens, das ihnen wie Schluß und Ende ihres ziellosen Wanderns vorkommt, in Ruhe auskosten und sich mit gegenseitigem Verständnis diese und jene heimliche Seelenwunde verbinden . . .
»Glaubst du, daß wir jemals nach dem heiligen Lande gelangen werden? – Ich glaube es schon lange nicht mehr; ich sage es nur noch den Leuten, damit sie mich nicht verhungern lassen. Und lüge so wie alle andern.«
Markus ist es, der nach einer langen Pause des Nachdenkens diese Worte in die Dunkelheit hineinsetzt. Der Himmel vor ihnen glitzert voller Sterne; und über die schwarzen Bäume in ihrem Rücken fällt das Mondlicht auf die zu ihren Füßen liegende Rasenmulde hinab. Die Nacht verbreitet immer schwerer ihre knisternden Schwingen über der Erde.
»Ich sagte dir's schon: der Teufel hat die Hand im Spiele. – Wer weiß, ob er's nicht auch uns eingegeben hat, daß wir nach Jerusalem ziehen wollen? Trat er nicht zu Christus und versprach ihm alle Reiche der Welt; oder daß er sich vom Dache des Tempels herabstürzen könne, ohne Schaden zu nehmen? – Wahrlich, schon oft ist mich die Lust angekommen, auf einen 165 hohen Turm zu steigen und mich in Gottes Arme zu werfen! Dich nicht auch?«
Lukas schaut dem Kameraden von ehemals mit einem selbst in der Dunkelheit brennend leuchtenden Blick ins Gesicht; und auch Markus gesteht ihm mit schweigendem Nicken die Verzweiflung ein, welche ihn in den Tagen einsamer Wanderschaft befiel und ihn mehrfach wünschen ließ, durch irgendeinen Sprung sich der nutzlosen Qual des Alltags zu entziehen. Da stutzen sie beide zu gleicher Zeit und halten ihre Ohren nach derselben Richtung hin offen: langgezogenes Stöhnen und Jammern kommt, irgendwo drunten aus dem Tal, den Berg heraufgekeucht. »Was ist das?« flüstert Markus erbleichend; ihn dünkt, als drängen seine eigenen Gefühle, in Töne verwandelt, von außen her auf ihn ein. Und sie lauschen mit angehaltenem Atem weiter diesen Lauten, in welchen eine von plötzlicher Reue erschütterte Menschheit ihr Entsetzen zum Himmel aufschreit und sich, an jeder andern Erlösung verzweifelnd, in die wollüstigen Tiefen selbstzugefügten Schmerzes hineinflüchtet.
Stärker und stärker ist das Geheul geworden – und jetzt tritt unten am rechten Ende der Wiesenmulde eine nackte Weibergestalt in das zu einem bläulichen Dunstsee zusammenrinnende Mondlicht heraus. Ihr folgen, immer zu zweit und alle in der Blöße ihrer bleichleuchtenden Haut, eine lange Reihe von Frauen und Mädchen, welche ihre Arme mit der am Handgelenk festgebundenen Geißel in schreiender Anrufung gen Himmel heben: es ist, als ob ihnen in all der Nacht mit den nadelspitz herabstechenden Sternen die Enthüllung des Leibes noch nicht genug der opfernden Hingabe bedeutete, sondern auch die Offenbarung ihrer innersten Gefühle in kreischenden 166 Tönen zum unwiderstehlichen Bedürfnis würde. Und indem jetzt – in der Dunkelheit mehr hör- als sichtbar – die über die Häupter zurückgeschwungenen Riemen neuerdings auf die Rücken niederklatschen, scheint, nach den immer gräßlicher aufschrillenden Verzweiflungsjauchzern zu schließen, in der Tat nicht nur ihr Fleisch, sondern auch ihre Seele aufgepflügt zu werden wie ein Acker, welcher den Samen dadurch auf sich herabzuzwingen glaubt, daß er selber sich in Furchen zerreißt und öffnet.
In dem Maße, in welchem die Wildheit dieser schwärmenden Weiber sich austobt, fühlen Lukas und Markus ihre eigene Verzweiflung sich lösen und von ihnen abfallen. Während sie noch eben selber sich die Nägel ins eigene Fleisch gekrallt und nach einem Ausweg aus der Sinnlosigkeit dieses Daseins gesucht hatten, flammt jetzt, wo sie andere zum Spielball der dunklen Mächte ihres Innern geworden sehen, jene Liebe in ihnen auf, die sich am Kreuze nicht sich selber, sondern den Menschen zum Opfer brachte. »Was wollen sie hier?« flüstert Lukas, dem die Unglücklichen mit jedem Augenblicke fremder und doch zugleich immer erbarmungswürdiger vorkommen. »Ist das nicht ein dunkles Wunder?«
Aber ein noch dunkleres sollen sie erleben. Auf der Wiese ist die Anführerin zu einer Schneckenlinie eingeschwenkt, die sie immer enger zieht, bis nur noch ein kleiner, weiß wimmelnder Haufe durcheinander sich bewegender Glieder sichtbar bleibt – da gellt mitten aus dem selbstanklagenden Gekreische ein jäher Schrei der wonnevollen Kampfbegier, welcher alle Süße der Zerknirschung in die noch höhere Lust der Vernichtung umwandelt; und schon dringen die Weiber mit geschwungenen Geißeln aufeinander ein, bis sie sich zuletzt mit zupackenden 167 Armen umkrampft halten und sich bald die Zähne ins Fleisch graben, bald mit den Lippen die aus den roten Striemen hervorquellenden Blutstropfen wegküssen! Und so im höchsten Taumel von Raserei fallen sie nicht nur sich gegenseitig an, sondern auch selber einer Verzückung anheim, die sie den Boden unter den Füßen verlieren läßt und sie in Paaren auf die tauige Matte hinwirft, wo sie sich – vielleicht im Wahne einer Erhebung zu Gott! – wie Tiere durcheinander und übereinander wälzen, bis in dem bleichen Mondlicht ihre zuckenden Leiber einer nach heftigstem Gewittersturm verebbenden Meeresflut gleichen.
»Sieh nur! Sieh nur!« stammelt Markus, ganz außer sich. Und doch begreift er nicht, was er sieht und wovor seine Seele erschaudert; er spürt bloß, wie ein Hauch sich verbreitet, der einen in eine unheilbare Verwirrung hereinzieht. Und zugleich, wie in ihm der Wille mächtig wird, hinzueilen und ihnen irgendwie beizustehen.
Aber noch ist die Masse der Seelen, die auf diesem Schlachtfeld der Leidenschaften in die Bewußtlosigkeit hineingemäht wurde, nicht völlig zur Ruhe gekommen, so wird auch schon da und dort ein neuer, ganz anders gearteter Laut hörbar: des unfaßbaren, zurückprallenden Entsetzens über sich selbst; des Aufwachens inmitten einer schamerfüllten Entzauberung und Enttäuschung. Und gleichzeitig heben sich die erschöpften Körper einer nach dem andern in die Knie und auf die Beine und eilen sie, aufschluchzend, mit fliegenden Schenkeln aus dem vollen Mondlicht der offenen Wiese, das sie nunmehr wie eine kalte Sonne brennt, nach den schützenden Büschen des Waldes, im Rennen schon wieder die Geißeln über ihre Rücken zurückschwingend. Es ist eine Flucht aus der irdischen Vereinsamung, 168 in die sie sich nach dem Rausche der Gott-Vermählung aufs neue zurückgestürzt sehen, und zugleich ein Sichverbergen in jener auflösenden Dunkelheit, in welcher sie sich selber am ehesten vergessen und eben dadurch um so mehr miteinander verbunden fühlen können.
»Was liegt noch dort?«
Lukas ist aufgestanden und äugt auf die so plötzlich wieder leer gewordene Wiese hinunter. Aber schon schreitet neben ihm Markus vorwärts; und während in dem nahen Walde das Schmerzgestöhn der Geißlerinnen verhallt, nähern sie sich der lichten, weißen Masse und hören sie immer deutlicher, wie von ihr ein herzbrechendes Wimmern hertönt. Endlich erkennen sie, wie sie nur noch wenige Schritte von ihr entfernt sind, gleich einem vom Himmel geschleuderten Engel ein junges Mädchen, das mit schlanken Lenden und Gliedern in dem bläulich beschienenen Grase liegt, in seiner Zerknirschung halb auf die Seite gewendet und das trostlos schluchzende Antlitz samt den Händen, die es bedecken, von der Fülle des im Mondlicht flimmernden Haares verhüllt.
»Wir müssen sie retten!« flüstert Markus. »Wir müssen sie den finsteren Mächten der Hölle entreißen!«
Und er nähert sich vollends dem von den Menschen und sich selber verlassenen jungen Weibswesen, das sich wohl zum erstenmal zu dieser wilden Festlichkeit verlocken ließ und darum weniger schnell als die verschwundenen andern sich in dem tollen Wechsel der Gefühle zurechtzufinden weiß. Wird nicht der warmen, reinleuchtenden Bruderliebe die Kraft innewohnen, den unseligen Bann glückloser Begierden zu brechen und die verirrte Seele zum Glauben an die milde Güte und Gnade Gottes zurückzuführen? – »Im Namen dessen, der am 169 Kreuze für uns starb,« kniet Markus bei ihr nieder und zieht sie, ihre schmalen Schultern umarmend, voller Zärtlichkeit an seine Brust. »Sieh, liebe Schwester, in uns deine Brüder in Christo, die dir beistehen möchten –«
Da blickt das Mädchen, rasch sich fassend und das Haupt erhebend, aus großen, tränenfeuchten Augen bald dem einen, bald dem andern von ihnen ins Gesicht; schnellt dann, einen Schrei ausstoßend, auf die Beine und zugleich, in entschlossener Flucht, außerhalb der Reichweite ihrer Hände: und während sie sich nach ein paar vergeblichen Schritten mit dem Nachschauen begnügen müssen, eilt das ärmste Geschöpf in seiner reinen Weiße aufstöhnend nach dem nahen Walde, in welchem die Weiber sich verloren, um dort nicht anders in seine dunklen Tiefen einzutauchen als eines jener Naturwesen, welche, mit keiner unsterblichen Seele begabt, sich nur in den Dämmergründen der Sinnlichkeit heimisch fühlen. Noch lange lauschen die beiden Hirtenknaben dem Verhallen dieser einzelnen Stimme, die sich nach ihrem Chore zurücktastet, weil sie statt einer Seligkeit und Erlösung für sich allein die Schicksale der Gemeinschaft zu erdulden verlangt: bis endlich die Stille den letzten Laut in sich eingeschlürft hat und es ist, als ob auch alle die Seelen, die sich noch eben hier in Krämpfen der Verzückung wanden, vom großen Nichts verschluckt worden wären. Wie in einem ungeheuren sinnenden Schweigen, das furchtbare Gedanken hinter seiner Stirne wälzt, glitzert das Firmament über der sommerlichen Erde . . .
»Du hast recht, Markus . . . Wer wollte noch nach dem heiligen Lande pilgern und seine Zeit verlieren?«
»Den Menschen helfen will ich; den Menschen helfen –« schluchzt Markus, indem er in die Knie sinkt und die offenen 170 Arme gegen den Wald ausstreckt, als fordere er etwas Verlorenes zurück.
Und Lukas steht neben ihm und schaut einsam fragend zu den Sternen empor –
»Aber wie?«