Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Ich hasse diese Landherbergen; heute reiten wir in die Nacht hinein. Seht, dort leuchtet uns schon der Mond! Und es ist warm genug, daß wir irgendwo unter einem Baume schlafen . . .«
Als Führer hält Raoul die Spitze. Neben Ellenor, die eben gesprochen hat, sitzen Florian und Severin im Sattel; hinter ihnen folgen, alle drei nebeneinander, Marceline, Suzanne und 125 Germaine. Den Beschluß machen, zu beiden Seiten Valeries, Gaston und Bernard.
So bewegen sie sich im Schritt durch die weiße Pracht langsam abblühender Bäume und dem rosig verdämmernden Abendhorizont entgegen, welchem in überraschender Fülle die goldene Mondscheibe entsteigt. »Jetzt sind wir schon drei Tage unterwegs!« redet Suzanne vor sich hin. »Wann werden wir wohl diesen König Stephan treffen?« Aber Ellenor, die erhobenen Hauptes die schwül-süße, sonnenmüde Blütenlust in sich eintrinkt, gibt keine Antwort, sondern überläßt sich ganz dem weißen Zelter, welcher ihre jugendstraff im Sattel thronende Gestalt wie im Widerschein erhellt.
Es ist die Jahreszeit, wo die Tage gleich nimmersatten Hoffnungen sich in die Nacht hinein erstrecken und in ihr mit den holdesten Zaubern des Himmels und der Erde einen Abglanz jenes Lichtes wach erhalten, das in allem Lebendigen Kräfte und Säfte rascher kreisen läßt. Ellenor weiß von Raoul, daß sie noch heute auf Stephans Haupttrupp stoßen sollen; und bei jeder Biegung des Weges um Stamm und Busch wirft sie ihre Blicke voraus, ob nicht irgendwo in dem bläulichen Dufte, den die nunmehr klein und scharf, vom eigenen Glanz durchsichtig-verklärt am Himmel schwimmende Mondesschale herabtaut, das junge Kreuzfahrerheer sichtbar werde. Trotzdem zieht sie mit allen andern überrascht die Zügel an, als plötzlich ein langer, singend ausgehaltener Ruf durch die Nacht schallt, sich wie im Echo mehrfach wiederholt und ihnen, die gleich den regungslos stehenden Pferden den Tönen ihr Ohr hinhalten, zuletzt deutlich verständlich wird: »Hilf, heiliges Graaab! . . . Hilf, heiliges Graaab!«
Wie sie um die Waldecke herumreiten, leuchtet am Ende 126 eines breiten Wiesenrückens, welcher vom Gehölz aus in die Landschaft vorspringt, ein großes Zelt. Unten an dem Hügel, wo eine Straße vorbeiführt, steht die Reihe der überdachten Leiterwagen; und um das Zelt herum und zwischen Hügel und Straße machen sich Scharen von Knaben und Mädchen eben ihr Nachtlager zurecht. Da zeigt ein Hornstoß an, daß man sie bemerkt hat.
»Wer seid ihr?« Zwei Speere blinken vor Raoul auf.
»Wir ziehen nach dem heiligen Lande. Seht hier Ellenor, unsere Königin! Sie sucht den König Stephan, der unser aller Führer ist . . .«
»Stephan! Stephan!« pflanzen sich aufgeregte Rufe nach dem Zelte fort. »Eine Königin kommt!« Und alle die schläfrige Jugend wird für kurze Zeit noch einmal lebendig, wimmelt im Mondenschein durcheinander und drängt sich herzu. Wie lange haben sie schon nach einer Königin ausgeschaut? Und jetzt wäre sie eingetroffen?
»Willkommen, ihr Brüder und Schwestern!« naht sich eine Stimme durch das Sternendämmer. »König Stephan habt ihr gefunden . . . Dort steht er vor seinem Zelte!«
Raoul drückt sein Tier auf die Seite. Jünglingshände greifen Ellenors Pferd in die Zügel und führen es als erstes über den Gratrücken; die andern folgen ihr als ihre Ritter und Edeldamen, von plötzlicher Dienerunterwürfigkeit erfüllt. Steil und königlich hält Ellenor sich im Sattel: der Schauder eines großen Augenblickes überläuft sie; ihre Nüstern beben, als witterten sie eine Entscheidung über Leben und Tod.
»Gruß dir, König Stephan! Die Meinen nennen mich ihre Königin; ich aber nenne dich meinen König und führe dir mich selbst wie diese Jünglinge und Mädchen zu. Denn du bist der 127 von Gott Erwählte, der durch das ganze Land den Ruf nach dem heiligen Grab in die Herzen geworfen hat, so daß auch wir uns aufmachten, dieses sündhafte Erdenleben zu fliehen und an der Stätte, wo unser Erlöser litt, das ewige zu gewinnen!«
Wer gab ihr diese Worte ein? Sie staunt über sich selbst. Ihre Freundinnen und die Knappen aber denken bei sich: Sie ist wirklich eine Königin! Auf Antwort wartend sitzt sie im Mondlicht auf ihrem silberübertauten Zelter und hält in keuscher und doch selbstbewußter Jugenddemut ihr Haupt gesenkt vor dem Jüngling, der allein vor dem offenen Zelteingang steht, keinen Blick von ihrer Erscheinung abwendet, und in welchem sie nicht ohne einiges Befremden einen mit grobwolligem Schaffell bekleideten Hirten erkennt . . .
»Wohl! Wenn Gott mich erwählt hat«, beginnt da Stephan langsam und feierlich, »so dünkt mich nicht minder wahr, daß er es ist, der dich zu mir sendet. Steig ab und betritt mein Zelt, Königin Ellenor, und hilf mir, ein Vorbild für alle Mädchen, die sich uns angeschlossen haben, das heilige Land zu gewinnen! . . . Zeig ihnen, Eustachius, wo sie die Pferde anpflöcken können! Und du, Alix, bewirte unsere Königin und ihre Hofdamen!«
Schon sind die Knappen abgesprungen und helfen auch ihren Herrinnen auf die Erde. Mit einem flüchtigen Blick streift Ellenor das im Mondlicht doppelt bleiche Mönchsantlitz des mit den Jünglingen und den Rossen abgehenden Eustachius – und während derselben Sekunde wird sie forschend von Alix betrachtet, die mit Brot und Milch in der Hand aus dem Zelt tritt. Sie möchten es in ihren Begrüßungen der ritterlichen Gesellschaft gleichtun und merken nicht, daß sie sich in jenem Stande biblischer Einfalt befinden, der sich für ihr gläubiges Unternehmen soviel besser schickt.
128 »Mit Ochsenkarren bist du bisher gereist, König Stephan?« verwundert sich Ellenor zwischen Essen und Trinken. »Morgen kann Raoul an deiner Stelle aufsitzen und du besteigst sein Pferd. Dann reiten wir zusammen allen andern voraus. Wir, das Königspaar!«
Stephan lächelt. »Alix, führe die neuen Schwestern zu ihrer Schlafstätte! Unser Zelt hat nur noch Raum für die Königin.« Suzanne, Marceline, Germaine, Valerie merken, daß sie gehorchen müssen; sie folgen wortlos Alix, welche, wie sie zu ihrer Befriedigung feststellen, gleich ihnen ein Fräulein ist.
»Und wenn ich lieber in Demut auf meinem Wagen sitze?« hört jetzt Ellenor des jungen Königs Stimme neben sich. »Nicht in Hoffahrt erreichen wir das heilige Land . . . Blick auf zum Himmel, liebe Schwester! Diese Sterne hat unser Erlöser gesehen. Heute sehen wir sie. Und morgen?«
Da fühlt sie sich auf einmal wie von einem fremden Geiste überhaucht. Und vor ihrem innern Auge stehen die elterliche Burg und der junge Ritter, der auf seiner behandschuhten Faust den Falken trug . . . »Mich friert!« gibt sie zur Antwort, in heimlicher Reue ernüchtert. Empfängt man so eine Königin?
»Hier ist Alix wieder. Sie wird ihr Lager mit dir teilen . . . Du bist müde und verzagt. Du hast noch nichts erlebt . . . Der Herr schenke dir Schlaf und gebe dir Kraft zu deiner Sendung!«
Im Zelt drinnen sinkt Ellenor auf ein Fell. Ist das nicht alles ein dunkler Traum? Der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit hat sie so sehr erschüttert, daß sie wünschen muß, aus ihm aufzuwachen. Was hat sie denn nur von Hause fortgetrieben? Sie staunt über sich selbst und über die Lage, in die sie sich durch eigene Schuld hineingeraten sieht.
129 Endlich faßt sie sich ein Herz. »Alix? Schwester . . .?« Aber dorther, wo Alix in marternder Eifersucht liegt, kommt keine Antwort; nicht einmal das Geräusch eines Atemzuges. Und Stephan, ihr König, schläft bereits den tiefen Schlaf einer von Schmerz und Sehnsucht erschöpften Jugend, die sich ohne Murren dem selbstgewählten Schicksal unterwirft. Wahrlich, es muß ihm keinen allzu großen Eindruck gemacht haben, daß heute eine Königin zu ihm kam!
Doch jetzt – bewegt sich nicht die Zeltwand? Tritt nicht eine Gestalt herein und legt sich stumm zwischen sie und Alix nieder? Sie fühlt keine Furcht. Nur mit dem Weinen muß sie kämpfen . . .
»O Gott, warum bin ich so unglücklich?« flüstert sie leise.
Da gibt ihr die Finsternis eben so leise zur Antwort:
»Wenn wir glücklich wären, Schwester, würden wir in das heilige Land ziehen?«
Sie weiß, es ist die Stimme des Jünglings, den der König Eustachius genannt hat. Seine Worte bleiben wie ein gütiges Verstehen über ihr schweben; sie hört sie immer wieder aufs neue wie einen Trost. Und unter ihm entschlummert sie und schläft, schläft, bis sie plötzlich jäh emporgeschreckt wird von angstvollen Schreien, die durch das Lager gellen, und gleichzeitig im fahlen Morgengrauen Stephan, Eustachius, Alix aufspringen und vor das Zelt hinaustreten sieht.
Pferdediebe haben den weißen Zelter gestohlen! Und dort, wo er angepflöckt war, liegt Raoul auf dem Rücken, mit eingeschlagenem Schädel, in einer Blutlache. Wie Ellenor bei ihm anlangt, sind die treuen Augen für immer geschlossen; und in dem blaßgelben Angesicht ist der Mund zu einem hilflosen Grinsen verzogen, als bäte er noch im Tode um Verzeihung für etwas . . .
130 »Marceline! Germaine! Suzanne! Valerie!« schreit Ellenor auf, um in ihrem Jammer nicht allein zu sein. Aber nur dumpfes Schweigen und verlegene Bewegungen antworten ihren fragenden Blicken, die sie im Kreise der dichtgescharten Jünglinge und Mädchen umhersendet. Da steht unvermutet Stephan neben ihr . . .
»Sie lassen dir sagen, Königin, daß sie mit ihren Knappen nach Hause geritten sind . . . Denkst du immer noch, daß wir hoch zu Roß, als Königspaar, unserm Zuge voranreiten werden?« Und er nickt mit einem trüben Lächeln in ihre entsetzten dunklen Augen hinein, das ihr zeigt, daß er sich über solche Feigheit und Treulosigkeit nicht verwundert.
Ellenor erstarrt . . . War nicht auch sie mit dem heimlichen Vorsatz eingeschlafen, heute dasselbe zu tun? Nun kann sie es nicht mehr; und sie will es auch nicht mehr. In eine Welt, in welcher Pflicht und Freundschaft wie Spinngewebe zerreißen, will sie nicht mehr zurückkehren. Sie will nur noch eines: königlich zu ihrem König halten . . .
Sie sieht aus ihrer erst traumhaft gefühlten Verlassenheit heraus, wie die jungen Kreuzfahrer ein Grab schaufeln; wie Eustachius es weiht, wobei er seinen Blick einmal kurz auf ihr ruhen läßt; und wie die Jünglinge den toten Raoul hineinlegen. Dann wird auf dem frischen Erdhügel ein Kreuz aufgepflanzt, von Stephan und allen Kindern laut ein Gebet gesprochen, und hierauf der Weitermarsch vorbereitet. Durch weißblühende Bäume hindurch glüht das Morgenrot.
»Sitze ich jetzt nicht in Demut als deine Königin neben dir, so wie du es gewünscht hast?« – »Gottes Wille!« erwidert Stephan, ohne daß in seinen Zügen eine besondere Teilnahme sich verriete. Und wie aufhorchend staunt Ellenor vor sich hin, 131 während die Ochsen sich bedächtig ins Geschirr legen und der ganze Zug von Wagen und Kindern ruckweise in Bewegung gerät. Ihr ist, als habe sie sich zum erstenmal an der Härte des Lebens geschnitten.
Der Ruf der zwölf jungen Paladine umjauchzt das neue Herrscherpaar, das sie nun vor allem ihrer Kraft anvertraut wissen, nachdem die fremden Gräfinnen mit ihren Rittern sich so schmählich davongemacht haben. Ellenor sitzt und sinnt und fühlt, wie sie unmerklich, aber unwiderstehlich in das Geleise eines Schicksals hineingedrängt wird, aus welchem sie sich nicht mehr wird herausreißen können: jetzt fängt der Gekreuzigte, vor welchem sie sich in ihrem Mädchengemach, im Kloster und nachher zu Hause, so oft und so brünstig in die Knie warf, langsam an, sie in seine Arme zu ziehen. Zusammen mit Stephan schaut sie, während ihre Schultern sich berühren, schweigend unter dem Reifendach hervor, ihrem von unbekannten Schicksalen verhangenen Weg voraus, der blutig aufgehenden Sonne entgegen.