Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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11. Der silberne Schleier

Ellenor wandert langsam und nachdenklich durch den Garten, der in süßer Nachmittagssonne schwimmt. Dunkle Myrtenwipfel behaupten etwas von dem Schatten, welcher in den der Mauer entlangführenden Bogengängen mit den zierlichen schlanken Säulen wohnt, gegen den strahlenden Himmel; und unter die kühlen Gewölbe herein dringt ein warmer, 293 berauschender Geruch von fremden Blüten, wie eine Kunde des Lichtes selbst für geschlossene Augen. In der Mitte des Gartens aber fällt mit Geplätscher der feine Silberstrahl eines Springbrunnens erst in die auffangende Schale zurück, dann von dieser als schillernder Wasserschleier in das große, niedrig-flache Steinbecken hernieder, den Ort der Einsamkeit mit einem gleichmäßig tönenden Leben erfüllend.

Wie oft schon hat sie sich aus dem leise zitternden Spiegel des Teiches in ihren weißen Gewändern wie in einer Verkleidung entgegengeblickt und sich heimlich zugelächelt, wenn sie sah, daß sich eine ihrer goldenen Locken unter dem Kopftuch hervorstahl! Wie lange lebt sie schon hier? Sie weiß es nicht; die Tage rinnen ohne Merkzeichen einander nach. Aber doch lange genug, daß sie das tiefe Sichverwundern über ihre Rettung abgelegt hat und anfängt, ihr und ihrer Mitschwestern Leben mit Fragen und Zweifeln zu umranken. Das kindliche Spielen und Zeitvertändeln mit nutzlosen Handarbeiten, unter welchem die andern Frauen den Tag verbringen, vermag ihr nichts zu bedeuten: in ihr klingt der große Aufschwung der Seele nach, mit welchem sie die Enge der Heimat verließ und in die lockende Ferne hineinwanderte; und ihr wird immer klarer, daß in diesen von der ganzen übrigen Welt abgeschlossenen Höfen und Hallen der Wunsch des Weibes und seine Erfüllung durch einen allzu kleinen Bogen der Sehnsucht voneinander getrennt sind, als daß unter ihm die Seele sich über die Sinne erheben und sich zu eigenem Leben entfalten könnte.

Nur daß sie selber noch außerhalb dieses endlos sich erneuernden Zirkels steht, hat sie davor bewahrt, ein solches Dasein als Langeweile zu empfinden und seiner überdrüssig zu werden; sie lebt in einer beständigen Spannung und Erwartung der 294 großen Erfahrung entgegen, die ihrer Natur bisher fremd blieb und von der sie allein noch erhofft, daß sie einen Inhalt in ihre Gefangenschaft bringen wird. Ist sie nicht so gut wie die andern eine der Frauen des Scheichs? Aber jedesmal bisher, wenn er von seiner Reise zurückgekehrt war und sich ein paar Tage ausruhte, hatte die alte Sklavin den spinnwebfeinen, silberdurchwirkten Brautschleier einer andern gebracht; und sie hatte jeweilen in sprachlosem Staunen zugeschaut, wie alle übrigen der so Auserwählten beim Bade dienten und sie zuletzt nach Sonnenuntergang, nur in diesen Schleier gehüllt, bis an die Schwelle des Schlafgemaches begleiteten. Bis sie allmählich auch mithalf, die Braut zu einer hold duftenden Seligkeit auszuschmücken, und sich zusammen mit den Schwestern aufrichtig ihres Glückes freute – dabei des Tages gedenkend, wo der Ruf an sie selber ergehen würde . . .

Doch immer wieder zog der Scheich mit seiner Karawane fort; immer wieder kam eine lange Zeit des Wartens, die die andern besser ertrugen als sie. Bis er plötzlich am hellen Tage in diesem Garten erschien und unter sie trat: Da sah sie zum erstenmal wieder das gütige Antlitz mit dem halbergrauten Vollbart, aus dem die dunklen Augen und roten Lippen von einer geheimnisvollen unversieglichen Kraft sprachen; und während sie vor seinem Lächeln den Blick senkte und seine Hand zärtlich ihr vom Scheitel in den Nacken gleiten fühlte, ertappte sie sich fast erschrocken darüber, daß sie sich eigentlich schon lange den lieben Gott so vorgestellt hatte. Und dann kam während ein paar Tagen die alte Sklavin mit dem Schleier wieder – zu andern. Warum nicht zu ihr? Wo sie ihn doch liebte wie ein dankbares Kind, das ihm alles zu geben bereit war, um ihm für seine Güte zu danken – sogar sich selbst?

295 Und jetzt – wann wird er diesmal zurückkehren? Länger als sonst, will ihr dünken, bleibt er diesmal aus; und viele ihrer Schwestern schauen bereits mit traurigen Augen in die Welt. Wenn Allah ihn unterwegs zu sich gerufen hätte? Sie würden alle dahinwelken wie die Blumen des Sommers, wenn die Sonne hinter trüben Wolken verborgen bleibt! Und doch: wenn er zurückkehrte, ohne diesmal nach ihr zu verlangen – wie würde sie das ertragen? Sie könnte seine Güte nur noch als Verachtung empfinden; und das sinn- und nutzlose Leben, das sie schon so lange führt, müßte ihr plötzlich vernichtend zum Bewußtsein kommen . . .

Sie ist wieder vor dem Teich stehen geblieben und lüftet leicht ihre Tücher, um sich zu betrachten. Sind nicht alle Spuren der langen, qualvollen Wanderschaft von ihr abgefallen? Blühen nicht ihre Wangen, glänzen nicht ihre Augen und Lippen, leuchtet nicht ihr Lockengold schöner als je zuvor? Fühlt sie nicht jene schwellende Reife in sich, die sich selber bitter zu schmecken beginnt, wenn sie niemand mit ihrer Süße beglücken darf? Sie lauscht nicht, wie jetzt die andern, neugierig an verschlossenen Türen, um Kunde von dem zu erlangen, was in der Außenwelt geschieht: ihre Seele zittert, während sie sich in ihr eigenes Bildnis versenkt, einem innerlichen Schicksal entgegen . . .

»Iras!«

Ellenor schrickt bei dem Anruf zusammen, wendet sich um und sieht Naemi durch den Garten dahergeeilt kommen.

»Er ist zurückgekehrt!« jubelt die Freundin in ihren Armen. »Größere Schätze als jemals führt er auf seinen Kamelen mit sich. Allah war unserm Vater gnädig und hat seine Reise gesegnet. Wir aber, wir wollen ihm für seine Mühen Erquickung spenden . . .«

296 Und sie hebt in Verzückung und Begeisterung aus ihren weißen Gewändern die schlanken Arme hoch, als stünde sie schon nackt vor ihm und wiegte ihren Leib in jenem langsamen Takte des Tanzes, welcher dem gebannten Auge erlaubt, auskostend auf der spiegelnden Schönheit eines jeden einzelnen Gliedes zu verweilen und sich seine hold überredende Sprache ins Herz rinnen zu lassen.

Ellenor staunt. Wird sie selber auch einmal ihren Gott und ihr Vaterland so gänzlich vergessen, daß sie nur noch in der Gegenwart und ihrem Glück oder Leid aufgeht wie Naemi, welche unter dem heißen Himmel der Wüste geboren sein könnte, wenn nicht die weiße Haut sie als ein Kind des Nordens verriete? Zugleich fühlt sie, daß eine dunkle Neugier des Blutes in ihr erwacht und daß die Sehnsucht, nicht länger die Verschmähte zu sein und die zweifelnd fragenden Blicke der andern auf sich fühlen zu müssen, jede andere Regung in ihr zum Verstummen bringt.

Da kommen auch die übrigen zehn jungen Frauen wie weiße Schleiervögel durch die dunklen Büsche des Gartens angeflattert. Sie haben alle ihre Stimme und ihren Frohsinn wiedergefunden und plaudern mit dem Springbrunnen um die Wette: jede will die Aufregung und Unruhe, die sie erfüllt, durch ein möglichst unbefangenes kindliches Wesen sowohl vor den andern als vor sich selber verbergen. Die Sonne wirft allmählich ihr Gold nur noch schräg über die hohe Mauer in das Grün des Laubes herein, untermischt von einer ersten wehenden Vorahnung jener nächtlichen Kühle, welche straffend die Mattigkeit des Tages von den Gliedern verscheucht und den Willen neu belebt . . . und jetzt erscheint die alte Sklavin, das Kissen vor sich hertragend, auf welchem der silberdurchwirkte Schleier liegt!

297 Alle verstummen und wenden sich wie zufällig von der Nahenden ab. Die eine blickt in den Weiher, als ob sie ihr Spiegelbild noch nie gesehen hätte; eine andere vergräbt ihr Gesicht in einen blühenden Busch, ganz verloren in der Wollust seines berauschenden Geruches und ihn fast darum beneidend; eine dritte eilt nach einer abseits gelegenen Steinbank, um sich, die Brüste zum Knie niederbeugend, die Sandalen frisch zu binden. Keine will eine Hoffnung zur Schau tragen, welche, wenn sie sich bestätigt, die andern verletzen, wenn nicht, sie selber beschämen müßte.

Aber die dunkle Botin der Liebe wendet sich diesmal weder an die noch an jene, sondern hängt den Schleier an einem jungen Myrtengebüsch auf, in dessen tiefem Grün er ganz besonders verführerisch blinkt. Dann schaut sie sich im Kreise um, bis sie nach und nach die erstaunte Aufmerksamkeit aller auf sich gerichtet sieht. Und endlich spricht sie:

»Unser mächtiger und gütiger Herr wünscht für diese Nacht diejenige seiner Frauen, die ihm die süßeste sein wird!«

Mit ernsten Lippen und rollenden Augen bringt sie die unerhörte Botschaft vor, verbeugt sich diesmal nicht nur wie sonst vor der Auserwählten – denn sie kann nicht wissen, wem das ihr aufgetragene Rätselwort gilt –, sondern tief und umständlich vor allen, und verschwindet langsam zwischen den Bäumen und Büschen des ummauerten Gartens.

Alle sehen einander an. Noch nie ist es vorgekommen, daß ihr Gebieter die Entscheidung darüber, welche von ihnen ihm gerade die willkommenste sein werde, in ihre eigenen Hände legte; aber sie empfinden diese überraschende Neuerung nicht nur als eine Prüfung ihrer Liebe sowohl zu ihm als untereinander, sondern ebensosehr als ein hohes ihnen dargebrachtes 298 Zutrauen, dessen sich eine jede würdig erweisen möchte. Und siehe! Da nimmt auch schon eine kleine, dunkle Mohrin den Schleier aus dem Myrtenbusch und reicht ihn unter dem jubelnden Beifall aller Ellenor dar, die mit gesenktem Haupte abseits steht – »Du!«

»Warum ich?«

Ellenor hält atemlos, wie lauschend, den ersehnten Schleier in den Händen.

»Weil in der Liebe das Unbekannte immer das Süßeste ist . . .«

»Weil du anders bist als wir, anders auch als Naemi, und eben deshalb das Leben unseres Vaters reicher machen wirst . . .«

»Weil du groß und schlank aufragst wie eine Palme, die sich freut, wenn sie im Sturme ihre volle Kraft und letzte Biegsamkeit erweisen darf . . .«

»Weil deine Haare goldig leuchten und in langen Wellen über deinen weißen Rücken fließen, auf daß du nicht nur in der Seele, sondern mit dem ganzen Leibe jubelst und jauchzest, wenn du selig bist und selig machst . . .«

»Weil deine Stirne licht ist wie die Sonne, deine Augen klar wie der Morgen, deine Wangen frisch wie Rosenblätter, deine Nüstern zart wie die einer Antilope, deine Lippen flaumig wie ein Pfirsich, und dein Kinn rund und zart wie eine Welle des Meeres. Wer fürchtete, in der dunkelglühenden Nacht der Liebe unterzutauchen, wo du ihm gütige Führerin bist und Schirmgöttin zugleich?«

»Weil dein Hals die Hingabe des Schwanes hat, der sich anschmiegen will, während deine starken Schultern verkünden: Ich trage gern! Du bist ein Altar der Lust, auf welchem jedes Opfer sich in eine Gnade verwandelt!«

299 »Weil deine Arme zwei Lilienranken sind, die umfangen, erraffen und in Wonne festhalten möchten. Glücklich unser Herr und Gebieter, in dessen hohen Sommer dein lieblicher Frühling hineinwächst!«

»Weil deine Brüste rosig blühen, als ob das Blut in ihnen neugierig die Haut durchglühte und mit dem Munde des Liebenden wetteifern wollte, dessen Werbekuß sie entgegenschwellen . . .«

»Weil die Mitte deines Leibes von den Armen des Mannes träumt, die sich im Ringe um sie legen sollen, und schon voll stummen Willens ist, in der Gewalt dessen zu sein, dem du auch die Seele hingegeben hast . . .«

»Weil dein Schoß ein reines Gefäß ist, in Demut bereit, die Kraft desjenigen in sich aufzunehmen, in dessen Hand dein und unser aller Glück und Leben liegt . . .«

»Weil deine hold abfallenden Schenkel und das weiße Taubenpaar deiner Füße von nichts anderm wissen, als dem entgegenzuwandeln, der mit seinem Rufe nur dich, dich, dich gemeint haben kann . . .«

So tönt Ellenor aus dem Munde ihrer elf Schwestern ein Lob entgegen, als ob die weißen Gewandhüllen, die sie unwillkürlich fester an sich drückt, schon von ihr abgefallen wären. Neidlos preisen sie ihre Schönheit, für welche ihre Augen nicht unempfindlich geblieben waren; und sie huldigen ihr so als der erwählten Königin der Nacht, die mit ihren ersten Sternen bereits am Horizonte heraufzieht. Feierlich begleiten sie die erkorene Schwester in die Badehalle, wo sie tut, was sie jeweilen die andern tun sah: sie läßt ihre Kleider zu Boden sinken, steigt in das noch von der verschwundenen Sonne warme Wasser hinein und durchschreitet es seiner ganzen Länge nach, wie mit 300 betend vorgehaltenen Händen seinen Widerstand brechend, während es ihr um Brust und Schultern wallt und ihr bis in die Seele hinein allen Staub und alle Düsternis wegspült.

Wie sie an dem entgegengesetzten Ende sich der Flut enthebt, wird sie von den andern mit herbeigeholten warmen Wolltüchern abgetrocknet und drinnen im Frauengemach in einen Sessel gesetzt. Sie lösen und kämmen ihr die Haare zu einem duftig leichten Goldmantel, dessen Liebkosung sie an ihren eigenen Armen und Flanken wie einen aufregenden Schauer empfindet; und sie glänzen ihr die perlmutterfarbenen Nägel an Händen und Füßen und reiben ihr die jungen Glieder mit köstlichen Narden so lange ein, bis sie ganz glühendes Gefühl sind. Sie aber sitzt da, schaut zu den Ampeln auf, die von der Decke herabhangen und die rasch hereinbrechende Nacht besiegen, und denkt über ihr Schicksal nach.

Zuerst hätte es der junge Ritter mit dem Falken sein sollen. Daß sie ihm entfliehen wollte, hatte in ihr vollends den Entschluß gereift, mit den Kindern ins heilige Land zu ziehen! Dann hatte sie Eustachius, den Mönch, geliebt, und war selber von Stephan, dem Anführer der jugendlichen Pilgerschar, geliebt worden. Aber Eustachius verlor sie aus den Augen; und Stephan wurde von einem ihr unerklärlichen Grauen ergriffen, als sie eben fühlte, daß etwas in ihr aufbrechen und ihm entgegenblühen wollte! Nun wird es ein Mann sein, der ihr Vater sein könnte, welcher ihr Herz zum Glühen bringt und sie selbst aus einem Mädchen zum Weibe macht.

»Du zitterst?« fragt Naemi sie lächelnd.

»Ich zittere nicht . . .«

Was tut es, ob dieser oder jener es ist? Sie hat gelernt, ihren Willen dem Schicksal unterzuordnen; sie will nicht mehr, daß 301 etwas anderes geschehe, als was geschehen muß; und was geschehen muß, zeigt sich in dem, was geschieht. Hat er, durch den sie jetzt den Mann kennen lernen soll, ihr nicht das Leben gerettet? So mag er denn, was ihm an ihr süß ist, entgegennehmen als etwas, das ihm gehört und gern und dankbar gegeben wird . . .

»Schwester, es ist Zeit!«

Ellenor merkt, daß sie immer noch in Gedanken verloren dasitzt, während die andern sie längst wartend umstehen und fragend betrachten. Sie tut, zu sich kommend, einen kleinen Rundblick, um ihr letztes Staunen loszuwerden. Was ist das für eine wunderbare, unbegreifliche Welt, daß hier die Liebe keinen Neid und keine Eifersucht kennt, weil sie alle nicht nehmen, sondern geben wollen! Sie erhebt sich vom Sessel und damit aus den von ihr abfallenden Tüchern und spürt gleichzeitig, wie ihr, von Naemi und der kleinen Mohrin über den Scheitel gelegt, der silberdurchwirkte Brautschleier die Fülle ihres Haares umfaßt, ihr errötendes Antlitz verhüllt und ihr über Schultern und Hüften niedergleitet – und vor ihr öffnet sich eine Türe, durch die sie allein hindurchgeht . . .

 


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