Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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35. Papst Gregor IX.

Die Sonne gleißt. Das blaue Meer spiegelt ruhevoll die Unendlichkeit des Himmels, gleich diesem hinter seinem Glanze seine Wunder bergend. Mit unschuldig weißem Schäumen und ewiggleich andächtigem Rauschen umspült es die Felsklippen der Landzunge, auf welche Papst Gregor von den Kurialen hinausgetragen worden ist und, in die Kissen der Sänfte zurückgelehnt, durch seine fast hundertjährigen Augen das Bild der Welt in sich eintrinkt, während er wortlos sich mit seinen eigenen Gedanken unterhält . . .

»Meer, unergründliches, rätselhaftes Meer! Nicht anders schlägt dein Brausen hier an mein Ohr, als es bei Sardinien die Insel San Pietro umtost, wo du die Schiffe zerschelltest, die die Kinder und ihre Sehnsucht trugen. Dreißig Jahre sind seither vergangen; niemand spricht mehr von soviel gemordeter gläubiger Jugend: heute aber wird dort die Kirche eingesegnet, die ich erbauen ließ, damit die vielen kleinen Gebeine, die du 433 Ungeheuer an den Strand schwemmtest, endlich in geweihter Gruft bestattet werden und im Scheine ewiger Lampen den Wallfahrer an die vorzeitig heimgekehrten Seelen erinnern; und ich, der Vater der Christenheit, will jetzt für sie beten.«

»Warum hast du sie gemordet, Meer? Du weißt es nicht. Du leuchtest in süßestem Blau und weißt nichts von vergangenen und künftigen Stürmen; du tust immer nur, was du mußt. Wahrlich, ein jegliches Wesen handelt nach seinem Sein – aber warum ist sein Sein so und nicht anders? Warum gibt es wilde Tiere, die man töten muß, wenn man selber leben will? Warum fallen die Völker übereinander her und vernichten sich und zeugen in aller Vernichtung doch immer neue Geschlechter? Warum gibt es Ketzer, die den Menschen die Ruhe des Herzens rauben; warum muß ich, das Oberhaupt der Kirche, sie verbrennen? Warum habe ich so viele verbrannt? Warum, du allmächtiger Gott, sendest du all die Menschen in diese Welt, nur damit sie einander befehden, verdrängen, zermalmen, gleich den Wellen dieses Meeres, und aufblitzen und vergehen, wie die Luftbläschen seiner Schaumkronen?«

»Ich wollte für die unschuldigen Kindlein beten, die für ihren Glauben starben; und ich bete für mich, der ich fühle, wie alles von mir absinkt – auch der Glaube. Ich habe getan, was ich tun mußte, weil ich Papst war; aber ich weiß, daß alles eitel ist und daß nur eines bleibt: du, mein Gott, und ich, dein Kind! Darum verzeihe ich allen, was sie tun; denn was sie selber für die Gründe ihres Handelns halten, das sind nicht die wahren Gründe. Die wahren Gründe kennst nur du, mein Gott! Jene Kinder zogen dem Bilde des Gekreuzigten nach, den die Menschen deinen Sohn nennen; ich aber bin mehr Kind als jene Kinder und nenne ihn nur noch einen Lichtblick in der Nacht 434 unseres Daseins. Warum, o mein Gott, treibst du die Seelen durch dieses Leben, wenn doch bei dir allein Seligkeit ist? Und wo sind alle die Wesen geblieben, welche tausend Frühlinge hervorsprießen, tausend Herbste verwelken ließen? Auch jene zahllosen, die dich nicht erkennen, die dich nur erfühlen können in der kurzen Sonne ihres Tages?«

»Soll ich jammern darüber, daß der Erzfeind der Kirche, der Kaiser, mit dem Jüngling Enzio sich unaufhaltsam seinen Weg nach Rom bahnt? Oder darüber, daß er die zum Konzil reisenden Kardinäle, die ihm bei seinem Seesieg vor Elba in die Hände fielen, großmütig freigab und mir damit mehr Herzen raubte, als ich entbehren kann? Was wird er mir nehmen, als was ich bald ohnehin verlöre? Mir ahnt, daß sein oder mein Sieg vor Gott weniger bedeutet als die letzte der Kinderseelen, für welche ich die Gedenkkapelle habe errichten lassen und für die ich jetzt beten will! Auch dieser große Ketzer ist ein Werkzeug Gottes und wird von Gott beiseite gelegt werden, sobald er seine ihm zugedachte Aufgabe erfüllt hat.«

»Ich weiß, daß ich als Papst nicht so sprechen darf. Als heiliger Vater muß ich die Bilder, die sich die Menschen mühsam ausgedacht haben, um, von ihnen umschlossen, wie in einer sicheren Stube leben zu können, als ewige Wirklichkeit hinstellen und alle Andersdenkenden als Ketzer verdammen, sonst ertragen sie das Leben nicht mehr: sie würden sich nicht mehr nur gegenseitig, sie würden sich mit einem Schrei des Entsetzens selber morden! Auch jene Kinder glaubten an diese Bilder, Sinn-Bilder; denn ihre Seelen sahen die Welt durch die Sinne ihres wachsenden, blühenden Leibes; und die täuschten ihnen ihr Wesen nicht anders vor, als farbige Gläser auch unsern Augen die Erscheinung verfälschen. Ich aber habe das Leibliche nicht 435 mehr vor mir, sondern hinter mir; ich spüre es, wie diese dürre Hülle jeden Augenblick von mir abfallen kann. Ich wittere die Unendlichkeit – deine Unendlichkeit, o Gott!«

»Nur mit dir spreche ich jetzt. Was habe ich, was haben meine Vorgänger, was haben wir Menschen alle für entsetzliche Taten getan zu deinen Ehren, so wie wir dich verstehen? Aber nicht wir: du selber hast es getan! Diese ganze Welt, die ewig sich erzeugt und vernichtet, das ist dein endlos sich selber erschaffendes Herz, das bist du selbst! Du bist wie dieses Meer, das uns seine süßesten Farbenwunder zeigt und unter ihnen seine schaurigsten Abgründe birgt. Wenn mein Leben heute oder morgen zu Ende geht, so kehre ich zu dir zurück, wie jene Kindlein in das Meer versunken sind. Auch das ist ein Gleichnis; aber es steht als ein Geheimnis jenseits des Menschlichen. Ich will dich nicht mehr erkennen; ich glaube an dich. Ich will eins sein mit dir. Amen.«

Er hat die Lider geschlossen und webt und schwebt in einer andern Welt. Die Höflinge finden ihn in dem friedlichen, fromm ergebenen Schlummer jenes höchsten Alters, welches bereits die Maske des Todes vornimmt. Während sie ihn zurücktragen und das Rauschen des Meeres hinter ihnen leiser und leiser wird, schlägt er plötzlich die tiefliegenden Augen auf und läßt seinen Blick, ohne daß sie es wissen, mit einer lächelnden Verwunderung noch einmal auf ihnen ruhen . . .

 


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