Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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21. Stephan als Hafenarbeiter

Wieder ein Tag zu Ende!

Golden ist die Sonne in die schwarzblaue Meeresflut hinabgesunken. Verstummt ist das Rufen und Schreien auf dem Hafenplatz; verschwunden das angestrengte Hin und Her beladener nackter Rücken auf den schmalen Stegen von der Mauer zu den Schiffen. Die Sklaven suchen ihre Schlafstelle auf, um im Vergessen dieses Tages Kräfte für den nächsten zu schöpfen, der nicht anders sein und endigen wird als alle bisherigen.

Nur Stephan sitzt noch auf einem gerollten Tau und betrachtet seine Glieder, die fast so braun geworden sind wie diejenigen der jungen Mohren, deren Arbeit er teilt, und die ihn jetzt längst nicht mehr so schmerzen wie in der ersten Zeit. Und dann überdenkt er, was er alles in den vielen Monaten erlebt hat, seit er mit den andern Knaben und Mädchen, den Resten seines »Heeres«, diese Küste betrat. In der kurzen Spanne zwischen Tag und Nacht versucht seine Seele Atem zu schöpfen, ihrer selbst und der Welt bewußt zu werden, um nicht ganz in der leiblichen Fron unterzugehen.

Er sieht eine kleine Karawane abziehen: Nachtritt in die Küste hinein. In eben derselben Richtung, hoch auf einem dieser rätselhaften Tiere sitzend, verschwand gleich nach ihrer 348 Ankunft Ellenor. Wohin? Er weiß es nicht; und er wird es auch nie in Erfahrung bringen können. Erst heute dachte er wieder an sie, als er eine ganz verhüllte vornehme Heidin mit einem Sklaven und einer Dienerin ankommen und sich sofort auf ein Schiff begeben sah, das kurz darauf die Anker lichtete – es war etwas in den Umrißlinien ihrer Gestalt, das ihm das Bild seiner einstigen »Königin« zurückrief . . .

Aber was hilft es, Verlorenem nachzugrübeln? Und wenn er seine Gedanken einem seiner Schicksalsgenossen anvertrauen wollte und könnte, sie würden ihm nur mit einem Gelächter antworten. Wie es damals erscholl, als er und viele der andere Knaben, die sich an das Gestade der Heiden verschlagen sahen, auf die Knie fielen und laut zu Gott und der heiligen Jungfrau um Beistand riefen! Auch damals kam keine Hilfe; nur braune Männer und Weiber, welche ihnen Arm- und Beinmuskeln befühlten und sie nicht anders auslasen, als die Bauern auf dem Markt in der Heimat das beste Stück Vieh. Die meisten von ihnen, auch von den Mädchen, wurden von den Vornehmen der Stadt aufgekauft, da weiße Dienerschaft als besonderes Zeichen des Reichtums gilt.

Er aber, als man in ihm den Anführer des sonderbaren Kreuzzuges erkannte, ward von einem Händler erstanden, ähnlich wie Ellenor auf ein Kamel gesetzt und mehrere Tage weit in die Wüste hineingeschleppt, bis er sich zuletzt in funkelnder Sternennacht auf einer Dachzinne einem braunen Weibe gegenübersah. O, wie er sie haßte und noch haßt darum, daß sie ihm den einzigen Gott in seiner Seele töten und ihn dazu verführen wollte, sich in ihre Arme und damit überhaupt dieser vergänglichen, falschen, hinterlistigen Welt an die Brust zu werfen, die doch selbst in ihren höchsten Freuden hinfällig bleibt und 349 ein immer neues Hohngelächter im Rücken dessen anhebt, welcher den ewigen, unveränderlichen und unverlierbaren Gott sucht! Als ein Glück empfand er es, daß ihn der Händler wieder durch die glühende Wüste hierher zum Hafen zurückbrachte und einem der großen Schiffsherren verkaufte, für den er seither nicht ungern die schweren Arbeiten eines Lastträgers tut: denn Demut im Denken wie im Handeln ist ihm mehr denn je zu einem Bedürfnis geworden; und das Ausgeben seiner letzten Körperkräfte empfindet er als eine Wohltat für die Seele.

Und nach und nach trafen sich viele der in der Stadt untergekommenen Kinder in den Straßen, teilten sich gegenseitig mit, wo sie wohnten, und traten miteinander in ein neues Einverständnis. Und siehe: Wie in ihm, so war auch in ihnen die Sehnsucht nicht erloschen, trotz allem noch einmal das heilige Land zu betreten; und aus den Erkundigungen, die sie nur mit Vorsicht einziehen durften und nur halb verstanden, bildete sich bei einigen die Vorstellung, daß sie ihr Ziel zu Fuß erreichen könnten, während die Mehrzahl den Plan faßte, auf einem Karawanenweg durch die Wüste einen Meerhafen zu erreichen, wo man sie nicht kannte und wo sie vielleicht ein Schiff fanden, das nach Syrien fuhr. Und sie kamen zu ihm und fragten ihn, ob er abermals ihr Führer sein wolle; und obschon er ihnen abriet, weil er ihr Vorhaben für allzu gefährlich ansah und weil er selber nicht mehr den Mut und den Glauben dazu in sich fand, nachdem ihm seine frühere Führung so übel mißlungen war, ließen sie sich doch nicht abhalten und traten den Gang in die Wüste an, just in der Nacht vor dem großen Sandsturm, der bis in das Meer hinaus die Luft verfinsterte – und wurden nie mehr gesehen . . .

War das nicht ein Zeichen, daß sie nicht den rechten Weg 350 gingen; und wohl überhaupt nie die rechten Wege gegangen waren? Und immer mehr durchforschte er seither sein Leben und sah vieles darin, was ihm hell und rein erschienen war, in einem verdächtigen Zwielicht. War ihm der Brief, den er von jenem Unbekannten auf dem Felde erhalten hatte, wirklich von Gott – und nicht vielleicht doch (wie er damals schon argwöhnte) vom Teufel gekommen? Warum anders hatte er gerade dort, wo ein helfendes Wunder am nötigsten gewesen wäre – auf dem Schiff –, elend versagt, als eben darum, weil er die Aufforderung, die Jugend der Welt nach dem heiligen Lande unter die Fahnen zu rufen, nicht von Gott erhalten hatte? Und wenn er sich erinnerte, was für Greueltaten sie im Namen des Kreuzes hatten verüben sehen: Sind nicht überhaupt alle, die sich zusammentun und andere mit Überredung oder Zwang zu ihrem Glauben führen wollen, weit mehr vom Teufel besessen als von Gott erfüllt? Kann man nicht eben so sicher bei Gott anlangen, wenn jeder in Demut seinen eigenen Weg zu ihm geht? . . .

Stephan sitzt immer noch auf dem gerollten Schiffstau, sieht die Sterne glitzern und hört das Meer an die Hafenmauern plätschern. Oder vielmehr: Seine Sinne nehmen das wahr, nicht seine Seele! Die ist nur noch mit der einen Frage beschäftigt: Wird es auch Hochmut vor Gott sein, wenn ich eines Tages allein, ganz allein das Grab des Erlösers betrete und ihn anflehe um Erleuchtung, ein Leben zu führen nach seinem Willen? Ja, auch ihr Werk war weltliches Werk gewesen, ein Werk blühenden Jugendhochmutes; und eben darum, wie alles Menschenwerk, von allem Anfang zum Untergang verurteilt . . .

So will er denn, wenn er sich einst dem heiligen Lande naht, es nicht als Eroberer, nicht einmal als friedlicher, tun! Und 351 er will auch nichts mehr erzwingen, sondern selbst die Möglichkeit, sich seinen Wunsch zu erfüllen, in Bescheidenheit abwarten. Gibt es unter den Schiffen seines Herrn nicht auch solche, die nach Syrien segeln? Er will ihn bitten, ihn bei der nächsten Fahrt aus einem Lastträger zum Galioten zu machen. Warum sollte er ihm nicht willfahren, nachdem er so lange geduldig die Warenballen an Bord getragen hat? . . .

Er erhebt sich, um sein Nachtlager aufzusuchen. Hier auf den Steinstufen wird morgen wieder der Bettler sitzen – um dann, wie immer, gegen Mittag in den Mauerschatten überzusiedeln. Der ist zufrieden! Der hat warten gelernt! Und auch ihm selber sind in diesen Monaten die Glieder nicht nur kräftiger, sondern auch schwerer geworden; und seine Seele sieht gelassener dem Ziel ihrer Sehnsucht entgegen . . .

 


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