Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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18. Gerharts Antwort

O Not und Entsetzen dieser Wanderschaft!

Gluthitze und Donnerblitze, die fast stündlich miteinander abwechseln, ertragen deine siebzig Jahre, Bruder Augustin. Du hast Hornhaut an den Sohlen, auf denen du in deiner Kutte durch Sonne und Regen, Staub und Kot dahinstapfst und so oft als möglich väterlich besorgt Brand- und Richtstätten umgehst, damit – wie du meinst – deine jungen Schutzbefohlenen von den im Namen Gottes begangenen Greueln wenig oder nichts merken sollen! Aber hast du auch genügend Hornhaut an der Seele, um den entgeisterten Fragen, die sie trotzdem an dich richten, jene heitere oder doch gleichgültige Miene entgegenzusetzen, welche allein verbirgt, wie sehr dein eigenes Gemüt erschüttert ist von diesem Kreuzzug der Kirche, welcher den Kreuzzug der Kinder, deiner Kinder, so furchtbar durchkreuzt? . . .

89 »Lieber Bruder, hast du die rauchende Stadt gesehen? Lebten darin lauter Ketzer, daß man sie angezündet hat? Kann Gott, wenn er doch zuläßt, daß es böse Menschen gibt, sie nicht selber bestrafen?«

Siehe, du schweigst! Du wanderst wie ein Flüchtling fürbas und starrst auf die glühendweiße Straße vor dir, als stünde auf ihr in ehernen Lettern gegossen, woran sich deine Christenseele im Kloster so lange voll Demut gehalten hat: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!

»Lieber Bruder, hast du auch gehört, daß sie fünf Ketzer lebend verbrannt haben? Steht nicht in der heiligen Schrift geschrieben: Du sollst nicht töten? Und gilt das nur für den Mörder; nicht auch für den Mörder des Mörders? Wen aber sollten diese Ketzer getötet haben, von denen die Sage geht, daß sie nicht einmal ein Huhn umbringen wollen?«

Du sollst nicht töten! Hörst du, Bruder Augustin? Und hast du nicht auch getötet, indem du diese unerfahrene Jugend in ihrem Vorhaben bestärktest, statt sie davon abzuhalten? Wieviele von deinen Glöcklein umläuten dich noch? Und wo am Wege sind die andern verstummt? Wahrlich, du bist in der Seele so gehetzt, daß dich auch für den Leib nach einem Rastplatz verlangt!

»Lieber Bruder, du hast wie wir gesehen, wie sie die Ruhe der Toten störten und halbverfaulte Leichen auf den Scheiterhaufen schleppten! Was wird mit uns geschehen, wenn wir einmal groß sind: Werden wir Henker werden; oder werden wir arme Sünder sein? Dürfen wir noch glauben, daß Gott diese Welt erschaffen hat und nicht vielmehr der Teufel?«

Bruder Augustin, der Schweiß auf deiner Stirne wurde dir nicht von der Sommerhitze ausgepreßt! Da sitzest du inmitten deiner Kinder, wie schon so oft; aber vergebens suchst du diesmal 90 nach einer Antwort auf ihre Fragen. Die kleinen Äuglein in deinem verrunzelten Gesicht blicken irr in das Geäst des Baumes hinauf, unter dem ihr euch niedergelassen habt; und deine bebenden Lippen strengen sich lange umsonst an, eine beruhigende Erklärung abzugeben – bis du endlich zu folgender Betrachtung dich aufraffst:

»Leben wir denn im Paradies? Wir leben in der Welt – in jener Welt, in welche schon Adam und Eva wegen ihres Ungehorsams hineingestoßen wurden! In die Freuden des Paradieses aber hoffen wir dereinst nach dem Tode zurückzukehren, nachdem ihm ein frommes Leben vorangegangen ist. Darum denkt auf Erden immer nur daran, wie ihr das Paradies erlanget!«

Vergebens, guter Bruder, ist deine Theologie! Aus abgehärmten Gesichtern blicken dir die dunkelbrennenden oder unbestechlich klaren Augen einer Jugend entgegen, deren Seele und Sinne sich noch nicht mit der großen Lebenslüge abgefunden haben. Und während die letzten deiner Glöckleinkinder auf dem Rasen sitzen und sich gegenseitig Blumen darreichen, fließt den andern, den Heranreifenden, der Mund über von all den bittern Rätseln, die sie während des Marsches in sich und unter sich fortwälzten, ohne für sie eine Lösung zu finden.

»Ist das ein frommes Leben, wenn gerade diejenigen, welche die christliche Liebe predigen, die größten Greueltaten begehen? Ist das gehandelt nach dem Worte, daß Gott nicht den Tod des Sünders will, sondern seine Bekehrung? O wie schändlich hat man uns betrogen mit alledem, was man uns von der Mutter Kirche erzählte, deren gehorsame Kinder wir sein sollten!«

Bruder Augustin: Wie eine schwellende Flut, die dich zu verschlingen droht, umbranden dich diese Anklagen! In deiner Kutte wirst du von diesen jungen Empörern zur Verantwortung 91 gezogen für alles, was jemals Kuttenträger Übles getan haben! Ist das gerecht? War denn nicht unter diesen älteren Knaben einer, der wußte, daß des Menschen Unvollkommenheit die wahre Schuld des irdischen Elends ist? Und daß sie eben deshalb nach dem heiligen Lande wandern, um dort die Gnade der Erleuchtung zu finden?

»Wo ist mein lieber Gerhart?« keucht Bruder Augustin in seiner Bedrängnis, indem er sich im Kreise umschaut. »Er weiß es, warum ein Fluch auf allem Menschlichen liegt! Ich bin ein armer, alter Mann – er kann euch das alles besser klar machen als ich! Fragt ihn darnach! – Komm, Gerhart, hilf mir!«

Irgendwo wird ein dumpfes Knacken hörbar, welchem eine leise Erschütterung des Baumes nachfolgt, unter dem sie rasten. Bruder Augustin blickt verwundert in die Höhe: an allen Zweigen zittern für einen Augenblick die Blätter in der schwülen, unbewegten Mittagshitze! Da springen plötzlich die Knaben und Mädchen auf, starren mit großen Augen, aus denen das Entsetzen sprüht, nach hinten, bis sich der Bann der wortlos ausgestreckten Arme löst und sie alle miteinander unter einem lauten Aufschrei davonrennen.

Endlich hat sich auch Bruder Augustin auf seine alten Beine gezwungen und sich umgeschaut. Was sieht er? An einem starken, wagrecht ausgreifenden Ast baumelt nahe am Stamm, erhenkt, der Knabe Gerhart in den letzten krampfhaften Zuckungen. Von einem doppelten Strick hatte er die eine Schlinge um den Ast, die andere sich um den jugendlich zarten Hals gelegt – und war hinabgesprungen.

Das ist die Antwort, Bruder Augustin, die dein Liebling an deiner Stelle gegeben hat! Nun sind zum zweitenmal die ältern Knaben und Mädchen von dir abgefallen: diesmal nicht, 92 weil sie den Verlockungen des Lebens folgten, sondern weil sie das Grauen vor dem Leben in die Flucht trieb. Und klingt es dazu nicht wie ein feines, silbernes Sterbegeläut?

Im Grase spielen, als ob nichts geschehen wäre, die drei letzten Glöckleinkinder . . .

 


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