Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Und jetzt liegt, eingebettet in die herbstliche Farbenglut seiner Buchenwälder, das Heimatstädtchen vor ihnen, mit dem altersgrauen, unbeweglichen Antlitz seiner Mauern und Türme. Und jetzt steigt Gertrud bei der Torherberge vom Esel, den Albrecht dem alten Knecht überläßt, im Stillen belustigt darüber, daß dieser ihn nicht erkennt, sondern ihnen nur verstohlen nachschaut. Und jetzt wandern sie zusammen die enge, hochgiebelige, von einem offenen Bach durchrauschte Hauptgasse hinauf, wie zwei, die gefaßten und doch eiligen Schrittes sich und ihr Liebstes vor Einbruch des Winters an einen warmen Herd bringen wollen.
Es geht schon gegen Abend. Gertrud verhüllt ihr Kind sorglich 352 mit dem Mantel vor dem rauhen Oktoberwind, der einzelne dürre Blätter durch die trockenen, hellgrauen Straßen wirbelt; Albrecht stemmt die Linke an den Griff seines Schwertes und läßt derweilen, die wenigen Leute absichtlich übersehend, die Blicke umherschweifen, um alles, was doch unvergeßlich in seiner Erinnerung lebte, wie etwas Neues in sich aufzunehmen. Auf dem Gerechtigkeitsbrunnen steht die Göttin mit den verbundenen Augen, mit Wage und Schwert, voll ihnen zugewandt, als wäre sie die Mutter, zu der sie zurückkehren und die sie empfängt.
Und wirklich: Gleicht sie nicht in ihrer ganzen Haltung und Bewegung auf das wunderbarste seiner Mutter? Daß er das nicht früher bemerkt hat! Und er überfliegt auch den unter ihren Füßen aus dem massigen Steinsockel gehauenen Spruch, den er freilich nicht aus dem krausen Gewirre der Buchstaben enträtselt, sondern noch als oft gehörten Klang im Ohre trägt. Und erst jetzt glaubt er ihn in seiner ganzen Tiefe zu verstehen –
»Ließet allem ihr sein Recht,
Stünd' es in der Welt nicht schlecht,
Würde jeder Streit sich schlichten,
Und es gäbe nichts zu richten!«
Gertrud ist an der Gerechtigkeitsgöttin vorbeigeschritten, ohne sich um sie zu kümmern. Ganz nur Liebe und Vorsorge, beugt sie sich über das Kind an ihrem Herzen, das sie wie einen köstlichen Schatz, mit dem man große Freude bereiten will, des Weges dahinträgt; und nicht nur die Sorge für ihr Geschenk erfüllt sie, sondern ebensosehr der zweifelnde Gedanke, ob die Hände, in die sie es legen möchte, sich ihr noch wie einst entgegenstrecken werden. Denn gleichwie bis jetzt niemand sie erkannte, so haben sie auch niemand zu fragen gewagt.
353 Lebt die Mutter noch? Albrecht schlägt das Herz bis in den Hals hinauf, wie sie endlich um die Straßenecke biegen und, durch ein schmales Gäßchen hindurch, drüben über dem kleinen Platz das Haus stehen sehen. Noch verkünden die weißen Vorhänglein an den Fenstern schon von weitem die Sauberkeit und Behaglichkeit der Stube; und während sie den leeren Platz überschreiten, hallt ihnen aus der gegen den Hof zu gelegenen Werkstatt das gleiche fleißige Hämmern entgegen, wie es früher zu hören war. In froher Erwartung treten sie hintereinander in den Hausflur ein und fangen zusammen an, die Stiege hinaufzusteigen –
»Albrecht!«
Oben an der Treppe steht die Mutter. Sie hatte die beiden über den Platz herkommen sehen und bei dem unbestimmten Dämmerlicht ihren Augen nicht recht getraut: als erblickte sie nur Gespenster, statt Menschen von Fleisch und Blut; und als müßte sie eher als an gegenwärtiges Glück an eine Ankündigung künftigen Unheils denken. Nun aber sagt ihr der feste Schritt, der durch das Haus emporsteigt, daß ihr einziger Sohn zurückgekehrt ist.
»Mutter! Mutter!«
Albrecht kann die von ihrer Freude wie erstickte Frau gerade noch auffangen, um sie vor dem Umsinken zu bewahren. Dann führt er sie behutsam in die Stube hinein, wo sie sich, keinen Blick ihrer müden Augen von ihm wendend, in ihren großen Lehnstuhl niederläßt und mit bebenden Lippen umsonst versucht, ihr überströmendes Gefühl in Worte zu fassen. Im offenen Türrahmen steht unterdessen Gertrud mit dem Kind, in Demut wartend, bis sie auch ihrer ansichtig geworden ist und sie zu sich ruft.
354 »Mutter,« beginnt da Albrecht, »du hast mir eine treue Hüterin in die Welt hinaus mitgegeben: ich bringe dir zu Danke dafür eine liebe Tochter zurück! Gertrud ist mein Weib geworden, und ich ihr Mann; und was sie hier im Arme hält, das ist unser beider Reisekram und Christkindlein für dich –«
Gertrud ist während diesen Worten an seine Seite getreten; und miteinander knien sie vor der Mutter nieder und fühlen ein jedes ihre Hand auf seinem Scheitel. Und wie jetzt das Kindlein vergnügt zu den drei großen Köpfen auflächelt, die sich dichtgedrängt über ihm zusammenfinden, da brechen die jungen Eltern selber in ein frohes Lachen aus und suchen den Blick der alternden Frau, sicher, in ihm ihre gütige Zustimmung zu lesen. Diese aber hat sich schweigend wieder in ihren Lehnstuhl zurückgelehnt; und während ihre geschlossenen Augen eine Weile nach einwärts und rückwärts schauen, legt sich ein solch feines, wissendes Lächeln um ihren Mund, daß Albrecht und Gertrud, statt auf dem geliebten Antlitz das erwartete maßlose Staunen wahrzunehmen, nun sich selber mit beinahe verblüfften Blicken betrachten.
Da schlägt die Mutter wieder die zartgeäderten Lider auf und wirft aus klaren, blauen Augen auf ihre Kinder einen Blick voll Liebe und Dankbarkeit.
»So hat Gott doch mein Gebet erhört!« flüstert sie vor sich hin. »Ihr seid von allen, die damals aus unserer Stadt nach dem heiligen Land zogen, die ersten, die bis jetzt zurückgekehrt sind. Und ich fürchte fast, ihr werdet auch die letzten sein . . .«
»Du hast aber auch den Willen Gottes getan, Mutter!« erwidert Albrecht, dem sich auf einmal eine Aussicht auf die Mächte eröffnet, die sein Geschick so wunderbar leiteten. »Du hieltest mich nicht zurück, als die große Sehnsucht in mir 355 erwachte, und verhütetest so, daß sie zur trotzigen Wildheit verhärtete; und du ließest mich nicht unberaten in die Welt hinauswandern, sondern zusammen mit diesem guten Mädchen hier, so daß wir zuletzt beide uns der Erkenntnis entgegenführen konnten, wo das wirkliche Ziel all des dunklen Dranges lag, der uns in die Ferne trieb. Wahrlich, wir kehren aus einem heiligen Lande zurück: aus dem heiligen Lande der Liebe!«
»Ob ich Gottes Willen getan habe, weiß ich nicht,« versetzt nach einer Weile die Mutter. »Aber das weiß ich, daß ich wenigstens in demütiger Ergebung versuchte, seinem Willen nicht zuwiderzuhandeln . . . – Doch jetzt mach Licht, Albrecht! Es ist dunkel geworden. Und du, Gertrud, laß mich dein Kind halten, während du die Wiege vom Estrich herunterholst! – Du wirst schon wissen, wo sie steht . . .«
Albrecht findet noch an derselben Stelle das Steinfeuerzeug, wo es früher immer lag. Und wie jetzt die Ampel brennt und er, groß und breit geworden, in der freundlich erhellten Stube dasteht, mit dem Kopf fast an die Decke reichend, da muß sie immer wieder von dem Kinde auf ihren Armen nach ihm und von ihm wieder auf das Kind schauen – und indem sie im Geiste noch ihren verstorbenen Ehegatten vor sich sieht, ist sie ganz von der Empfindung erfüllt, selber nichts mehr als ein ausgedientes Gefäß Gottes zu sein, durch das der glühende Strom seines Lebens hindurchfloß und das, wo bereits andere da sind, die ihn auffangen, bewahren und weitergeben, in Frieden seinem letzten Tage entgegensehen darf. Stumm sitzt sie mit ihrem Enkelkind auf den abgemagerten Armen da, aus einer Priesterin des Lebens unversehens zu einem Altar des Lebens geworden, vor welchem jüngere Knie in Ehrfurcht sich beugen und heißere Herzen ihre Gabe darbringen.
356 Albrecht aber steht neben ihr und blickt auf ihre Augen, die sie in einem Gefühl tiefster Beseligung wieder geschlossen hält; und auf das Kind in ihrem Schoße, das mit den kleinen Fäustchen nach der niedrigen Zimmerdecke emporgreift und mit ihr wie mit etwas Altbekanntem ein lallendes Zwiegespräch beginnt. Wie wenig mehr gleicht die Mutter heute der kraftvollen Göttin der Gerechtigkeit! Wie hat sie gealtert in diesen wenigen Jahren unter dem Kummer um ihn und um Gertrud, die sie beide ihrem Gotte für immer glaubte geopfert zu haben! Sie ist in eben dem Maße, als er reifer geworden ist, verwelkt; und auf einmal wird er sich bewußt, daß fortan nicht mehr auf ihren, sondern auf seinen Schultern die Sorge für sie alle lasten muß.
Da geht die Türe auf; Gertrud bringt zusammen mit der scheu blickenden jungen Magd die Wiege herein und nimmt der Mutter das Kind ab. Und erst jetzt fällt es Albrecht auf, wie groß und breit und stattlich sie geworden ist, seit sie das letzte Mal in dieser niedrigen Stube stand; wie sehr jetzt sie es ist, die der Gerechtigkeit auf dem Brunnenstock gleicht. Und er erkennt, daß fortan Gertrud die Mutter des Hauses sein wird.
Auch der weißhaarige Gesell ist eingetreten, welcher für Albrecht seit seines Vaters Tode bis heute das Geschäft geleitet hat; er möchte der erste aus der Werkstatt sein, welcher den zurückgekehrten jungen Herrn begrüßt, ihn seiner immer noch gleichen Treue versichert und ihm zu Frau und Kind Glück wünscht. Unterdessen trägt die Magd, die Gertruds ehemalige Stelle versieht, das Abendessen auf; und endlich sitzen alle, auch die Gesellen, um den Tisch herum und können es nicht fassen, daß sie nun diejenigen, von denen sie so oft sprachen und an die sie immer dachten, sicht- und greifbar vor Augen haben 357 und sich mit ihnen nicht nur im Geiste, sondern in Wirklichkeit unterhalten können. Ohne jede Feiertagsvorbereitung erleben sie die schönste Feier, das trefflichste Festmahl miteinander.
Kaum daß sie den ersten Hunger gestillt haben, müssen Albrecht und Gertrud erzählen. Immer wieder, und oft vorzeitig, nimmt das eine dem andern den Faden ab; und sie versäumen beide nicht, die furchtbaren Erlebnisse so schlimm auszumalen, als sie es waren, damit das Wunder ihrer Rückkehr den Hörern um so eindrücklicher vor der Seele stehe: wo aber dazwischen selige Abenteuer zu berichten wären, die nur sie beide angehen und nichts mit der Schilderung von Land und Leuten zu tun haben, da gleiten sie jedesmal unter einem verständnisvoll lächelnden Blickwechsel darüber hinweg, so daß das rotbackige Mägdlein und die grünen Gesellen gerade diejenigen Dinge nicht zu hören bekommen, auf die ihre noch unerfahrenen Herzen am begierigsten warten und welche die Mutter und der alte Gesell, aus dem Schatze ihrer eigenen Jugenderfahrung heraus, stillschweigend selber dem spannenden Bericht am geeigneten Orte einflechten. So ist denn von gemordeten Ketzern und niedergebrannten Städten Schreckliches des weiten und breiten zu hören, während von der Liebe, welche das mutige Kreuzfahrerpärchen durch einen Irrgarten von Gefahren hindurchgeleitete, nur das Kindlein in Gertruds Armen Kunde gibt, das an der weichen, warmen Quelle ihrer Brust träumend seinen Durst und Hunger stillt und noch nichts weiß von alledem, was einem Menschen in diesem Dasein zustoßen kann.
Noch lange berichten die einen und lauschen die andern. Und oft und öfter verstummen sie alle miteinander: die Erzählenden, weil das heraufbeschworene Erinnerungsbild sie noch einmal gefangen hält; die Zuhörer, weil die sichtliche Ergriffenheit 358 der Erzählenden ihnen verbietet, mit neugierigen Fragen sie vorzeitig weiterzudrängen . . . Und dann hat jeweilen der Wind der Herbstnacht, der an den Fenstern rüttelt, das Wort; und das Glück der Zurückgekehrten, das alte Dach wieder über sich zu wissen, wird durch nichts getrübt als durch den Gedanken an diejenigen, die immer noch verloren in der Fremde umherirren mögen und den Rückweg niemals finden werden . . .
Durch das sternenüberglitzerte Städtchen aber geht wie ein Lauffeuer die Nachricht: »Der Schwertfegerin ihr Sohn ist aus dem heiligen Lande heimgekehrt! Und mit der Magd hat er auch gleich noch einen kleinen Christusknaben als Reiseandenken mitgebracht! – Haben wir's nicht gesagt? Haben wir's nicht gesagt?«