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Kein Lüftchen weht. Und doch pfeift ein auskehrender Wind durch Marseilles Straßen, Gassen, Plätze, Winkel. Oder sind es die Töne von Querpfeifen, welche ein paar mit bunten Lappen und Bändern närrisch aufgeputzte Bursche blasen, kreuz und quer durch die Stadt ziehend?
226 »Wer mit dem Herrn Hugo Ferreus ins heilige Land fahren will, der soll zum Hafen kommen und seine Schiffe besteigen!«
Und da gehen allenthalben die Türen auf. Aus den Stockwerken eilen sie die Treppen herunter; aus den Spelunken schleichen sie die Gänge hervor; aus den Kellerlöchern kriechen sie die Stiegen herauf. Wo immer sie eine mehr oder weniger willig gewährte Unterkunft gefunden haben, verlassen sie sie mit ihren Kreuzen, Fahnen und den wenigen Habseligkeiten, die ihnen noch geblieben sind oder ihnen neu geschenkt wurden.
Ein Trippeln und Trappeln durch alle Gassen. Wie lustig die Pfeifen schrillen! Ein Zusammenströmen auf allen Plätzen und ein Einmünden in immer größere Straßen. Juhui, nun geht es ins heilige Land! Und an den offenen Fenstern sitzen die verschränkten Arme auf weiche Polsterkissen gelegt, die braven Bürgersfrauen von Marseille; und in den Werkstätten werfen Meister und Gesell durchs Fenster einen Blick von der Arbeit weg. Sie sehen alle, wie das unerwünschte Volk abzieht; und sie freuen sich, als ob sie von einer Mäuseplage befreit würden.
Vom Morgen bis zum Abend kichern die Pfeifen durch die Stadt und durch das weiße Zeltlager vor den Mauern, wo die größeren Kinder schon seit Wochen auf diesen Tag gewartet haben und nun in fieberhafter Hast ihre Siebensachen zusammenpacken; ja, viele, die längst nichts mehr ihr eigen nennen, laufen gleich hinter den vorbeiziehenden Pfeifern drein. Und überall, wo sie durchkommen, strömen Scharen von Müßiggängern herbei, staunen diese Besammlung des Kreuzheeres an und tauschen darüber gegenseitig ihre Gedanken aus. Was ist doch der mächtige Meister Ferreus für ein wohlmeinender und unterhaltsamer Herr, daß er nicht nur um Gotteslohn diese unmündigen Pilger 227 nach Syrien führen will, sondern dabei auch noch das Volk froh macht! Und nirgends so sehr wie am sonnigen Hafen, wo aus den schattendunklen Gassen immer neue Züge dahergepfiffen kommen, wogt ein farbiges Gewühl erregter Menschen durcheinander und ein unaufhörliches Getöse von Stimmen, Rufen und Gelächter auf und ab.
Wie aber werfen die Gaffer erst die Köpfe herum bei der vorauseilenden Kunde: »Seht doch! Der König und die Königin!« Auch das hat der Meister Ferreus nicht vergessen und Stephan und Ellenor von einer Schar auserlesener Trompeter abholen lassen: Es war kein kleiner Augenblick, wie die Musikanten sich vor dem Königszelt aufstellten und ihre Fanfaren zu blasen anfingen! Und nun durchziehen sie, von goldgleißenden Tönen vorausverkündet und vom Gewalthaufen des jugendlichen Kreuzfahrerheeres gefolgt, die von der Bevölkerung dichtbestandenen Straßen der Stadt, zwischen Menschenmauern eingekeilt, von beiden Seiten mit Blumen und Zurufen überschüttet und selber von der zweifelnden Frage bewegt, ob diese allgemeine Teilnahme Ernst oder Spott bedeute.
Wie anders ist dieser Empfang als damals, wo ihnen ein Herold des Königs von Frankreich den Weg vertrat! Jetzt kommen ihnen die Posaunen nicht drohend entgegen, sondern dröhnen gläubig schmetternd vor ihnen her: Kann es anders sein, als daß auch die Mauern der Gleichgültigkeit vor diesen Erzklängen zu wanken anfangen und alle Zuschauer zum Bewußtsein dieses großen Augenblickes aufrütteln? Es ist ihnen, wie sie so mit ihren Kreuzen und Fahnen durch die beidseitig hereinschauende Neugier der Massen hindurchschreiten, als glitten sie, von den Wünschen aller gestoßen, in die Weite des Meeres und eines ungeahnten Erlebens hinaus; und 228 Stephan und Ellenor, die ihre Herzenskämpfe ganz vergessen haben und es dunkel als Wohltat empfinden, daß sie sich endlich wieder von dem in Fluß geratenen äußeren Geschehen tragen lassen dürfen, geben sich alle Mühe, nicht nur durch ihre ärmliche Gewandung die Entbehrungen einer langen Reise zu verraten, sondern ebensosehr in Blicken und Haltung das ihnen vorschwebende hohe Ziel zum Ausdruck zu bringen.
Aber auf den Balkonen zu beiden Seiten, hinter den Vorhängen, verbergen sich diejenigen Jünglinge und Mädchen, welche dem großen Traum ihrer Sehnsucht untreu geworden sind, indem sie sich, müde der Fährnisse des mächtigen Stromes, der sie bisher mit sich fortriß, links oder rechts von lauschigen Uferbuchten zum vorzeitigen Landen verlocken ließen. Wieviel süßer ist es doch, der Diener einer schönen, reifen Frau zu sein, ihr tagsüber die Früchte des Herbstes auf zinnenem Teller anzubieten und dafür in heimlicher Nachtstunde das Gegengeschenk ihrer vollen, weichen Lippen zu erhalten, welche rot wie eine mohnblumendurchblühte Talmulde sich öffnen und den Küssen erlauben, aus ihnen sich seligsten Schlaf zu schlürfen! Und was bedeutet erst einem jungen, eben zum Weibe erblühten Mädchen, das von der Kraft des Mannes durchdrungen und umschlungen wird, die ganze Welt außerhalb des Ringes ihrer Liebe? Es lehnt sich an, schließt halb die Augen und läßt die Wirklichkeit als fernes Schattenspiel an sich vorüberziehen.
Überall, wo das jugendliche Kreuzfahrerheer auf dem Wege nach dem Hafen durchkommt, folgen ihm aus dem Verborgenen die scheuen Blicke dieser Abtrünniggewordenen. Ist es wirklich eine Sünde, glücklich zu sein, wie ihnen früher so oft gesagt wurde? Warum dann läßt Gott es zu, daß alle diese, die 229 ihm treu blieben, von Sklavenhändlern nach Afrika verkauft werden, während sie selber sich geborgen wissen dürfen? Aber keiner der Jünglinge, keines der Mädchen wagt, den Dahinschreitenden warnend zuzurufen, was die ganze Stadt weiß und nur ihnen, den Opfern, gegenüber verschweigt; sie stehen auf einmal im andern Lager und beruhigen sich zuletzt mit dem Gedanken, daß Gottes Wege wunderbar seien, und daß es vermessen wäre, sie durchkreuzen zu wollen . . .
Durch starke Taue ist der Einsteigeplatz abgesperrt, wo die sieben Segelschiffe mit hochragenden Masten vor Anker liegen und den Ankömmlingen bis tief in die Gassen hinein mit ihren Wimpeln zuwinken. Bei dem einzigen, schmalen Eingang steht lang und hager in seinem gelben Wams der Meister Ferreus, dessen Kahlkopf den Knaben und Mädchen schon lange in der Sonne entgegenglänzt, bevor sie von seinem freundlich prüfenden Grinsen entweder eingelassen oder, »weil sie noch zu jung für eine Meerreise seien«, zurückgewiesen werden. Diese Unbrauchbaren sehen sich nach links abgeschoben, wo mitleidige Bürgerinnen und Weiber aus dem Volke sich ihrer annehmen und nur zu gut wissen, daß sie in diesen weinenden Kleinen nicht dem Herrn Jesu, sondern dem Teufel eine Seele wegstehlen: denn wenn auch niemand es mit nackten Worten herauszusagen getraut, so ist es doch allen bekannt, von den Ratsherren an bis zu den Straßenbettlern herunter, wohin die Schiffe fahren werden, sobald sie einmal den Hafen verlassen haben.
»Bist du auch noch ein Kind, Alter? He?« Meister Ferreus drückt das linke Auge zu und zeigt lächelnd seine langen, gelben Zähne. »Kehr heim in dein Kloster, Mönch!«
Aber ein paar Mädchen, denen die Röslein des Lebens auf 230 den Wangen brennen, hängen sich dem also Angeredeten an die Kutte. »Bruder Augustin muß mit, sonst bleiben wir auch da!« rufen sie laut und ungestüm. »Er weiß so närrische Geschichten zu erzählen, daß man nie müde wird zuzuhören!« Und schon will es eine bedrohliche Stockung geben, weil die übermütige Haghexen den einfältigen Mönch mit gutgespielter Leidenschaftlichkeit umarmt halten und im Frieden nicht von ihm zu trennen sind.
»Herein denn! Herein denn!« lacht Meister Ferreus und läßt ihn um der jungen Schönen willen durch. »Du sollst so sicher als ich ins heilige Land kommen, alter Knabe . . .« Und hinter dem Mönch und seinen Verehrerinnen drängt jubelnd die angestaute gläubige Jugend nach.
Die auf den Einsteigeplatz Hereingelassenen können unter den Schiffen nach Belieben die Wahl treffen; erst zuletzt, wie die meisten der Fahrzeuge bereits besetzt sind, helfen Kapitäne und Galeoten die ratlose Jugend unterbringen. Einzelne stehen immer noch wartend auf dem Steindamm und können sich nicht entschließen, an Bord zu gehen. Vergebens schaut hier ein Jüngling nach dem Mädchen, dort ein Mädchen sich nach dem Jüngling die Augen aus, welche ihnen um den Preis ihrer Liebe die Reise mitzumachen versprachen! Aber nachdem diese Helden und Heldinnen erst das wahre Ziel der Schiffe erfahren hatten, reichte ihr Mut nicht einmal mehr soweit, denjenigen, die sie doch zu lieben vorgaben, eine Warnung zukommen zu lassen. Selber unbemerkt, streichen sie jetzt irgendwo in der Nähe herum, um wenigstens dabei zu sein, wenn die Segel gehißt und die Anker gelichtet werden; denn wenn sie ihr Schicksal auch nicht miterleiden möchten, so wollen sie doch sehen, wie es seinen Anfang nimmt.
231 Am Abend sind alle Galeeren angefüllt; Stephan und Ellenor haben mit viel Pomp auf dem Admiralsschiff des Meisters Ferreus, dessen farbige Flaggen in der milden Septembersonne niederhangen, ihren Platz bezogen. Lustige Trompetenstöße verkünden, daß den Ausgehungerten eine treffliche Mahlzeit vorgesetzt wird, damit sie fröhlich und guter Dinge von der festen Erde Abschied nehmen und das richtige Vertrauen zu ihrer Zukunft gewinnen. Und wölbt sich der Himmel nicht so warmblau über der Stadt und dem Meer, als kehrte das Jahr noch einmal in den Sommer zurück? Die ganze Bürgerschaft ist am Hafen zusammengelaufen, staunt die Galeeren an, welche schwimmenden Nestern gleichen, und macht sich einen Hauptspaß daraus, diese zusammengepferchte Menschenbrut flott werden zu sehen.
Die Kinder aber sitzen hoch an Bord, schmausen und schwatzen und rufen und singen durcheinander, haben tausend Neuigkeiten auf dem Schiff zu betrachten und mit gegenseitigen Vermutungen sich zu erklären, und spüren doch durch alle Fröhlichkeit hindurch mit kräuselndem Unbehagen das leise Schwanken des Bretterbodens, dem sie sich in dem tröstlichen Bewußtsein anvertraut haben, daß es die letzte Probe ihres jungen Mutes sein wird. Dazwischen forschen ihre Augen immer wieder unter den vielen Gesichtern am Hafen nach den ihnen im Laufe der Wochen bekannt und lieb gewordenen; und wo sich verständnisinnige Blicke gefunden haben, folgt jedesmal von beiden Seiten ein eifriges Zeichen mit Arm und Hand. So spinnt hinüber und herüber ein letztes Mal jenes lebendige Gewebe von unerfüllten Hoffnungen oder dankbaren Erinnerungen, immer wachen Sorgen oder nachglühenden Wünschen, gegenwärtigen Enttäuschungen und einstigen Seligkeiten.
232 Seht! Seht! Wird da nicht von den Galeoten das große Segel hochgezogen? Auf dem Admiralsschiff zuerst, dann nacheinander auf den andern sechs Schiffen schwebt es wie weiße Flügel empor und füllt sich mit dem frisch von den Bergen her wehenden Abendwind, während am Ufer die Taue gelöst werden und aus der dichtgedrängt fuchtelnden Menge Schreien und Rufen sich erhebt. Und langsam entgleiten die Galeeren, eine nach der andern, der schützenden Umarmung der Hafenmauer, wie dem zurückbleibenden Gelärme des nachwinkenden Volkes und fahren jetzt, unter ihrer eigenen Musik, in die dunkelblaue Meeresstille der sinkenden Sonne hinein – nach dem heiligen Lande!