Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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41. Der Tod im Schnee

Sie steigen den harten, felsigen Saumpfad hinauf und bestaunen bald die silberweißen Schneegipfel, welche aus den waldigen Seitentälern sonnebeglänzt auf sie hereinschauen, bald in der Tiefe den über braune Blöcke grünlich dahinschäumenden Bergbach, welcher ihnen das Lied von der Höhe singt, der sie entgegenstreben.

Sie überschreiten die zwischen himmelhohe Felswände in schmalem Bogen hineingebaute Brücke, lassen sich auf ihr von den tobend herabstürzenden Wasserfluten kühl anstäuben und gelangen auf dem jenseitigen Ufer alsbald, mit Schaudern ein langes, dunkles Felsentor durcheilend, auf eine grüne Talebene hinaus, auf welcher wenige Hütten stehen und das Vieh weidet.

Sie folgen dem von neuem ansteigenden Pfad in eine kahle Hügeleinsamkeit hinauf, wo keine Bäume mehr wachsen und in der herben Luft kaum das kurze Alpgras zu grünen sich getraut, ja, wo selbst das laute Wort von der offenen Ferne klanglos eingeschluckt wird . . .

»Sind wir erst einmal auf der Höhe,« ruft jetzt Georg durch die schmelzwasserdurchrieselte Hochgebirgsstille, »so kommen wir drüben in einen warmen, blühenden Garten hinunter, wo der Himmel nicht mehr so langweilig weißblau, sondern süß-durchsichtig-goldgrün ist. Habt ihr vergessen, was die Leute am See drunten sagten? Ja, alle diese Wunder werden wir schauen! Und da hätten wir uns noch lange sollen hinhalten lassen, weil das Wetter unbeständig sei? Scheint etwa die Sonne nicht immer noch?«

389 Wie ein verlorenes Schlänglein windet sich der Zug höher und höher durch die Einöde hinan. Hell klappern die Holzschuhe, welche ihnen mitleidige Frauen liehen, als sie sahen, daß sie von ihrem Vorsatz nicht abgebracht werden konnten. Gleich seltsam irrenden Farbenflecken flattern ihre Banner zwischen den schwankenden Kreuzen: als stumme Schreie des Lebens im Reiche des hartnäckig schweigenden Todes! Und sichtbar in der kühlen Sonnenluft keucht ihr Atem vor Anstrengung unter der Last ihrer Bündel und vor froher, durch keine Wanderqual zu besiegender Erwartung. Schon seit vielen Stunden sind sie unterwegs, erobern Windung um Windung des menschenleeren Saumpfades, zwingen den Kopf, der müde nach vorn fallen will, immer wieder in den Nacken zurück und spähen über die nahen Bergkuppen hinweg, ob das Aussehen des Himmels noch nicht die versprochene Änderung zeige.

Aber der Himmel bleibt blau, tiefblau sogar über den vereinzelten Schneegipfeln; und statt des süßen grünen Leuchtens quellen jetzt grellweiß geballte Wolken mit dunklem Kern über die Gräte herein, löschen wie durch einen bösen Zauber die Sonne aus und sinken, als grauer Dunst auseinanderfließend, alsbald auf Geröllhalden und Alpweiden hernieder. Ein kalter, harscher Wind reißt auf einmal den hungrigen Kindern an ihren Haaren und Gewändern und läßt ihre Banner erschrocken knattern; und binnen kurzem wächst er zu solchem Sturme an, daß sie auch ihre Kreuze nicht mehr aufrecht halten können, sondern sie über der Schulter weitertragen. Die ganz Erschöpften schleifen sie sogar hinter sich am Boden her und haben genug zu tun, sich selber gegen die Stöße der heulenden Luft im Gleichgewicht zu behaupten.

»Nur den Mut nicht verlieren, ihr Brüder und Schwestern!« 390 ruft Georg über die lang hintereinandergereihte Schar zurück. Aber der rasende Wind zerfetzt seine Worte; und nur diejenigen, die gerade nach vorn schauen, verstehen den Sinn seiner aufmunternden Gebärde und lassen sich von ihr noch einmal aufrichten. Hat er nicht den wilden Eber erlegt? Hat er nicht den schlimmen Räuber erschlagen? Er wird sie auch durch diese Drangsal hindurchführen!

Da flaut plötzlich der Sturm zu einer unheimlichen Stille ab. Und siehe: Erst vereinzelte, dann immer zahlreichere Schneeflocken schweben aus dem Wolkengrau auf den wilden Geröllboden hernieder – und in wenigen Minuten ist alles, was nicht steile Felswand ist, von dem nämlichen gleichförmigen Weiß zugedeckt! Immer mehr umfängt sie eine seltsam warme Dunkelheit, welche nur noch der Schneebelag der Landschaft mit einem fahlen Leuchten erhellt.

Sie recken jetzt ihre von den Flocken lautlos-geschäftig umwirbelten Kreuze und Fahnen mit letzten Kräften wieder hoch und schreiten zwischen Angst und Hoffnung in dem weichen, kühlen, weißen Teppich weiter bergauf. Längst sind ihre kaum oder gar nicht geschützten Füße bis zur Gefühllosigkeit erstarrt. Aber muß nicht drüben der ewige Frühling kommen? Und je mehr sie die Dunkelheit umdüstert, um so mehr beginnt in ihren sehnsüchtigen Seelen das nächste Ziel ihrer Reise in tröstlichen Farben zu leuchten.

»Wenn wir nur schon in Rom wären, wo der heilige Vater auf goldenem Throne sitzt!«

»Gewiß denkt er jetzt an uns alle, die wir nach dem heiligen Lande ziehen, und bittet Gott für uns!«

»Mich wundert, was er für ein Gesicht hat! Christus kann man nicht mehr sehen; aber den heiligen Vater kann man sehen . . .«

391 Doch bald wieder legt sich das Schweigen der eindämmernden ungeheuren Einsamkeit schwer auf die jungen Lippen. Während die Vordersten stumm die Blicke auf den kaum noch erkennbaren und immer mühseligeren Pfad gerichtet halten, wagen die andern, die stumpfsinnig in ihre Spuren treten, nicht einmal mehr ein paar Flüsterworte auszutauschen. Und in immer größerer Hast, in immer dichterer Fülle stürzen die breiten Flocken herab, so daß die Hintersten durch den Himmelsschleier hindurch, welcher Weiß auf Grau stets neu gewirkt wird, nur noch undeutlich das ihnen allen beharrlich voraufsteigende große Kreuz wahrnehmen.

Georg schreitet, von einem unbeugsamen Mute erfüllt, mit zusammengebissenen Zähnen an der Spitze. Er weiß: Diese Kinder, die hinter ihm mit schon halb erfrorenen Füßen durch den bereits knietief liegenden Schnee waten, schöpfen ihre letzten Kräfte aus dem Vertrauen, daß er ihnen den richtigen Weg vorangehe! Aber ist es noch der richtige Weg? Klagende Seufzer, die immer lauter durch die emsige Schneeflockenstille nach vorn dringen, lassen es ihm allmählich geraten erscheinen, sich nach einer Zufluchtsstätte umzuschauen.

In dem unterschiedslos grauweißen Gelände, das sie keine zehn Schritte weit zu überschauen vermögen, wird bei einer kaum noch erkennbaren Gruppe von Felsblöcken Halt gemacht; und ohne daß es einer besondern Aufforderung bedurft hätte, wischen sich Knaben und Mädchen mit steifen Händen unter dem kalten weißen Flockenmus Sitz und Rückenschutz frei. Die Banner und kleineren Kreuze sind ihnen entfallen, versinken in dem tiefen, weichen Grund und werden im Nu zugeschneit; das große Kreuz aber haben sie in ihrer Mitte aufgepflanzt und von allen Seiten her mit Schnee festgemauert: zu ihm 392 schauen sie empor, während sie mit steifen Fingern die Bissen zum Munde führen, auf denen sich, kaum haben sie sie ihren Säcken entnommen, die kalten Flocken festsetzen. Doch diese magere Speisung kann nicht verhindern, daß der letzte Rest Wärme, den sie vom Wandern her noch in sich fühlten, im Augenblick verfliegt und daß sie schon nach kurzer Zeit einander mit todmüden, hoffnungslosen Blicken anstarren.

Georg sitzt neben dem großen Kreuz auf einem flachen Block und betrachtet aus blau gefrorenem Gesicht heraus seine Schar, die im Halbkreise vor ihm lagert. Einige der ältern Mädchen haben die kleineren Kinder, die überhaupt nur durch die Hilfe dieser jungfräulichen Mütter so weit gekommen sind, auf den Schoß und liebreich in den Arm genommen. Schlafen ist für diese Jüngsten das Beste! Und für die andern? Er sieht durch den dicht fallenden Flockenschleier hindurch, wie da und dort ein Pärchen, das sich unterwegs zusammenfand, innig aneinandergeschmiegt sich umfangen hält, als könnte es in solcher Vereinigung der Todesdrohung besser und länger widerstehen.

Selbst mit einem Scherz scheint sich das erstarrende Leben dem erhaben gleichgültigen Walten des Schicksals gegenüber zur Wehr setzen zu wollen. Dort – unter denen, die erst in diesem rauhen Bergland zu ihnen gestoßen sind – spricht ein Knabe gleich einem heilenden Zauberspruch Worte auf sein frierendes Schwesterlein ein, die die andern nicht verstehen:

»'atzi didi dee-li,
Schnuggi, schnaggi, schnee-li,
Schneuggi, schnuggi, schnag-gi,
'uffeli ufs Bag-gi!«

393 Und er küßt dem kleinen Mädchen, in dessen erfrorenem Gesichtchen nur noch die Augen den stummen Dank des Herzens abstatten können, mit einer zärtlichen Bewegung die wachsbleichen Wangen durch die ihnen anhaftenden, immer aufs neue zugewehten Schneeflocken hindurch.

Zuerst schütteln sie sich noch von Zeit zu Zeit den Schnee von den Kleidern; aber bald sind sie auch zu dieser Anstrengung zu schwach und begnügen sich damit, sich gegenseitig mit blödem Staunen zu betrachten und jedes am andern zu verfolgen, wie die weißen Wülste gleich einem stummen Nicken über die Kappe herein, als ein zweiter Mantel von den Schultern herunter und als eine dicke Decke von den Knien und vom Leibe herauf sich langsam entgegenwachsen. Und geht jetzt nicht die Dämmerung des Grau in Grau über ihnen lastenden Schneegewölkes allmählich in wirkliche Nacht über? Das Geriesel und Gehusche der wirbelnden Flocken wird immer mehr ein süß singendes Geräusch, das die Ohren wunderbar ausfüllt und in die Seelen tönende Tropfen träufelt, die sich wie vom Himmel fallende Sterne zu warmglänzenden, farbenbunt glühenden Sehnsuchtsbildern auseinanderfalten –

»O Jerusalem!« schreit ein Mädchen aus seinem innern Traume auf. Es klingt in dem flaumig knisternden Schneezauber wie das letzte, schmerzhafte Geflacker eines erlöschenden Feuers. Und erst nach einer ganzen Weile, und wie aus weiter Ferne, gibt eine Knabenstimme die lallende Antwort: »Ja, wenn ich ausgeschlafen habe . . .«

Dann bleibt alles still. Während der Nacht füllt der unablässig weiter niederschwebende Schnee nicht nur zwischen den verlorenen jungen Kreuzfahrern, sondern auch zwischen den Steinblöcken den Raum zu einer sanften Mulde aus; und wie 394 endlich der Tag anbricht und das Gewölke sich im klaren Morgenhimmel verflüchtigt, unterscheidet sie sich nur durch das Kreuz, das ihr wie auf einem Gottesacker entsteigt, von den übrigen Unebenheiten des Geländes. Am südlichen Horizonte aber schmilzt der bleiche Äther in süßen, grünlichen Farben, in die von Osten her, wo die Sonne ihren Aufgang vorbereitet, ein schmaler Streifen jungglühenden Lichtblutes einfließt.

Da kommen über das mattweiße, im hehren Schweigen seiner Vollendung ernst errötende Hochgebirge drei schwarzblau glänzende Bergdohlen dahergeflogen und lassen sich flatternd auf dem Kreuz nieder. Die eine setzt sich auf die Spitze seines Stammes; die beiden andern je auf das äußerste Ende seiner feierlich ausgreifenden Arme. Und alle drei zielen regungslos, aus dunklen Augen dem Schnabel entlang, auf ihre scharfen Fänge, als überlegten sie, wie lange es dauern wird, bis der Schnee weggeschmolzen ist . . .

 


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