Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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48. Das Sterben am Meer

Tief draußen im Weltall hängt die Sonne.

Unter ihr breitet sich endlos das blaue Meer, überhaucht von dem goldenen Scheidelicht bis hin an die braunen, vom Tage noch warmen Uferfelsen, durch deren grünliche Grotten der ewig lebendige weiße Wellensaum aufrauschend hereindonnert und zischend und brodelnd wieder zurückfließt.

Das ist die ungeheure Mutter, in welcher alle Bäche, Flüsse, Ströme zur Ruhe kommen und die in ihrem nie erforschten Schoße, welcher den Himmel, Sonne, Mond und Sterne spiegelt, voll rätselhaft lockenden Schweigens bereit ist, auch alle Tränen in sich aufzunehmen samt den Seelen, die sie geweint haben und die sich zuletzt, müde von dieser bittern Erdenfahrt, verzweifelt ihr in die weitausholenden Arme werfen . . .

Auch den elend dahintrottenden Kinderscharen entirrt auf den kaum bewegten dunklen Wasserspiegel hinaus immer wieder der Blick. Sie sind blind geworden für die paradiesische 414 Schönheit durchsonnter Pinienwälder und kühlschattender Orangenhaine; und abgestumpft gegen die Schrecknisse schmaler Felssteige, die noch vor kurzem in dem fernen Bilde grauer Uferberge verborgen lagen und auf die hinaus ihnen nun von den durchwanderten Gärten in ihrem Rücken der süße Duft ewigen Blühens nachweht. Sie sehen nur noch das Meer vor sich, auf welchem ihre Sehnsucht vergebens sich in einen rauschenden Kiel zu verwandeln strebt und das ihrer erschütterten Gläubigkeit und ermatteten Jugendkraft als endgültige Schranke erscheint: von Schar zu Schar läuft das Wort, daß sie nach Rom ziehen und sich dort dem heiligen Vater zu Füßen werfen sollten, um durch ihn, der die Macht hat zu binden und zu lösen, von der Bürde ihres allzuschweren Gelübdes befreit zu werden.

Aber daran klammert sich nur die Hoffnung der jüngeren Kinder; die ältern Jünglinge und Mädchen schauen immer häufiger auf das glatte, blaue Meer hinaus. Müßte nicht in ihm alles Elend ein Ende nehmen? Könnte es nicht sein, daß jenseits seiner Tiefe wirklich der Himmel wartete, dessen Abbild es mit soviel lockender Sanftheit in sich trägt? Warum durch all die Mühsale hindurch sich bis nach dem heiligen Lande abquälen, wo es doch der kürzeste Weg ist, sich dort mit Christus zusammenzufinden, wohin auch er nach der Qual seines Erdenlebens zurückkehrte? Aber alle diejenigen, die sich heimlich oder unter irgendeinem Vorwand von ihrer Schar entfernen, um an dem rauschenden Strande nicht nur der sinkenden Sonne, sondern zugleich dieser letzten, größten Möglichkeit ins Auge zu blicken, scheiden damit aus ihrem Glauben aus – und in dem dunklen Freiheitsgefühl, daß es nur noch bei ihnen selber liege, ob sich die Pein des Leibes und der Seele abkürzen soll oder nicht, entbrennen ein letztes Mal alle die Wünsche, welche 415 sie in ihrem Leben nie zur Flamme auflohen ließen: ähnlich wie ein sterbendes Licht gerade vor dem Erlöschen noch einmal kurz und grell aufflackert . . .

Brigitte ist wie immer den Pilgerscharen gefolgt, ohne sich einer von ihnen dauernd anzuschließen; und vergebens hat sie auch von Zeit zu Zeit ihre Blicke und Gebärden spielen lassen, daß einer sich ihr anschlöße. Jetzt schreitet sie, immer mehr ein verlorenes irres Wesen, hinter den andern her und hat kaum für sich die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, geschweige denn um andern, die es nötig hätten, zu helfen. Sie trifft da und dort Kinder, vor Hunger und Durst umgesunken, verschmachtend am Wege liegen – und geht vorüber, als wären es nur Traumbilder ihres inneren Schauens. Sie sieht, wie auf den stotzigen Fußpfaden längs den Uferfelsen Knaben und Mädchen, plötzlich von Schwäche und Schwindel erfaßt, lautlos über die Schroffen hinabstürzen und drunten von der Brandung als zerschmetterte Leichen, deren Glieder sich widerstandslos nach dem Willen der Wellen bewegen, hin und her gespült werden – und sie wundert sich nicht, daß den übrigen Kindern kaum ein Schreckensruf darüber entfährt, vielmehr die gelichtete Reihe sich von selbst wieder schließt, als ob jedes Schicksal fortan stumm hingenommen werden müßte. Ja, bis sie jeweilen selber an die Unglücksstelle kommt, hat sie in dem Wirbel ihrer fiebernden Gedanken das Geschehnis bereits wieder vergessen und spendet den Opfern der Tiefe nicht einmal einen mitleidigen Blick.

Da nähert sie sich, wie sie jetzt unten am Meere allein dahinwandert, einer mächtigen, von kleinen Schluchten durchsetzten Felsenfeste, vor welcher ein allmählich abflachender Sandstrand die Wellen sanfter empfängt und wo wie nirgends eine mild 416 überredende Aussicht in die Ferne sich eröffnet. Warum setzt sie sich gerade an dieser Stelle hin und staunt nach der golden zum Wasserhorizont sinkenden Sonne, als ob von dorther ein Schicksal heranrückte, bestimmt, in dem ewig gleichen Wechsel schmerzlichen Morgenrotes mit noch schmerzlicherer Abendröte die entscheidende Änderung zu bringen? Plötzlich lacht sie wild und heiser auf, wie ein Mensch, der sich etwas Unvermeidlichem gegenübersieht und eben deshalb, im Bewußtsein seiner völligen Hilflosigkeit, in ein letztes Gelächter ausbricht . . .

Einer aber, der wie sie einsam durch diesen in Blau, Gold und Grün glühenden Abend hinwandert, lacht innerlich, hinter knirschend zusammengebissenen Zähnen. Unter der schwarzüberkrausten Stirne hervor stiert er auf all den Untergang vor ihm, um ihn, hinter ihm; und seine große Nase nickt bei jedem Schritt Bestätigung in das Grinsen seiner krampfhaft verschlossenen Lippen hinein. Ist diese Welt nicht das Werk des Teufels, wenn in ihr nichts anderes geschieht, als daß endlos Leben gezeugt und endlos Leben vernichtet wird? Oder ist nur das ein Werk des Teufels, daß sie alle gelockt worden sind von dem fernen Leuchten des heiligen Landes, das vielleicht gar kein heiliges Land ist, sondern auch nur eine von den vielen Masken, die sich der Böse vorbindet, um desto gründlicher sein Werk zu tun? Bedarf es am Ende bloß des männlichen Entschlusses, um sich aus diesem uralten Banne herauszureißen, plötzlich die Welt in einem andern, freieren Lichte zu erblicken und von diesem Leben nicht nur das Leid, sondern unbekümmert auch die Lust zu kosten? Fände er doch den Menschen, der auch diesen Willen hat, sie könnten einander wohl aus ihrer Verzweiflung heraushelfen!

Da sieht er auf einem Uferfelsen eine Frauengestalt kauern. 417 Sie hat die Füße angezogen, die Hände um die Knie geschlungen und starrt aus vorgebeugtem Haupte über das gleichförmig anrauschende Meer hinweg in das rotgoldene Sonnenauge hinein, das sich immer größer und erwartungsvoller öffnet. Denkt nicht auch sie daran, ihre Lumpen abzuwerfen und mit ihnen all den Wahn, der sie so unglücklich gemacht hat? . . .

»Was tust du hier?«

»Ich warte auf den Tod. – Und du?«

»Ich will ihm entfliehen . . . – Wie heißt du?«

»Brigitte. – Und du?«

»Franz. – Und warum willst du denn sterben?«

»Weil ich meine sieben süßen Kinder verloren habe . . .«

»Kann ich nicht machen, daß du sieben andere bekommst?«

»Wolltest du das? – Du sprichst deutsch wie ich. Warum bist du aus der Heimat fortgewandert?«

»Weil mich mein Mädchen verraten hat . . .«

»Darum? – Gibt es nicht noch genug Mädchen für dich auf dieser Welt?«

»Möchtest du eines von ihnen sein? Du mit deinen sieben süßen Kindern, von denen du gewiß nur in deiner Seele träumst?«

»Wenn ich dir nicht zu alt und zu häßlich bin – Wenn du glaubst, daß auch du glücklich sein kannst mit mir –«

Und er gewahrt in ihren Blicken jenen eben so wahllosen als entschiedenen Willen zum Zugreifen, der ihn selber beseelt. Daneben aber auch einen scheuen, blassen Schimmer von Freude, so daß sie ganz einem armen, verstoßenen Kinde gleicht, dem noch zu allerletzt eine Heimat winkt. Wahrlich, das ist für sie beide die Rettung!

418 »Statt uns im Meer zu ertränken, wollen wir lieber in ihm ein Bad nehmen!« lacht er. »Fort mit den Fetzen unseres Wanderelends; und mit dem Schmutz des Leibes spül dir die Sünde von der Seele! . . . Und dann sieh, ob wir nicht Freude aneinander haben können!«

Und er schleudert Hut, Kittel und seine ganze Gewandung von sich und schreitet mit fiebrig glänzenden Augen und wildem Munde in herber Jünglingsnacktheit an ihr vorbei, durch einen der mit Geröll angefüllten Felsenschächte auf den Sand hinunter und durch den brodelnden Wellenschaum in die blau-goldene Flut hinein, bis sie ihm um die Hüften schwillt und er ihr kühles, nach Salz und Seetang riechendes Umfangen wie eine Taufe empfindet, durch welche er aus einem Reiche des Wahns in die harte, aber schöne Wirklichkeit zurückgerissen wird.

»Ich bin zum längsten ein Narr gewesen!« ruft er aus, indem er sich das Wasser über Arme und Schultern wirft und, sich selber betastend, das Spiel der vom langen Marsche gestählten Muskeln zwischen den Fingern fühlt. »Laß du die andern nach Rom ziehen oder ins heilige Land! Ich will nichts mehr von diesem ganzen Zauber wissen; will nur noch dieses Leben leben und kein anderes Schicksal mehr haben, als jedes Wesen es hat! Dieses Meer ist herrlich wie die Welt – freier und leichter schwimmt sich's in ihm als zu Hause im Nixenteich!«

Brigitte sieht, wie er seinen hellen Leib in die dunklen Strandwogen wirft und mit starken Armen hinausrudert, um im Kampfe mit ihnen selber ihrer rücksichtslosen Kraft und Stärke teilhaftig zu werden. Und: »Wahrlich, das ist die Rettung!« durchblitzt es jetzt auch sie. Alles beiseite stoßen, was einem im Herzen hindern will, das Leben mit einem geliebten Menschen 419 zusammen zu erleben – die Gedanken an Eltern, Heimat, Gott und Teufel nicht anders, als er dort draußen das leichthinschwankend seine Brust umdrängende Gewoge! Und sie lacht und jubelt, während auch sie ihr zerschlissenes Gewand von sich wirft, um ihm zu folgen und sich wie er in dieser Hochzeit mit der Welt Vergessen und Verjüngung zu holen für die Hochzeit ihrer Leiber. Und schon steht sie mit ihrem dürftigen, verwelkten Mädchenkörper auf dem Felsen in der Abendsonne und will auf den Sand hinuntereilen –

Was naht dort draußen wie ein kleines, graues Segel durch die Flut und schießt, eine deutliche Furche hinter sich ziehend, gerade auf den Mann zu, welcher ihre Liebe heischt und dem sie das letzte Gefühl geben will? Plötzlich schlägt der Schwimmende mit den Armen um sich, schreit furchtbar auf und schnellt mit einem wilden Versuch, zu fliehen, aus dem Wasser empor – und neben ihm eine dunkle, spitze Fischnase mit einem auf der Unterseite gräßlich aufgerissenen halbrunden Rachen voll scharfgezackter weißer Zähne! Dann steht dort, wo die Nase sichtbar wurde, über aufspritzendem Schaum einen Augenblick lang eine große, unregelmäßige Schwanzgabel in der Luft; und kaum daß auch diese wieder in der Tiefe verschwunden ist, erscheint und verbreitet sich über der quirlend verebbenden Oberfläche ein heller, purpurroter Fleck.

Brigitte schreit auf wie ein rasendes Tier, das sich einer unbekannten Übermacht entgegenstemmen will, rennt mit fliegenden Haarsträhnen auf den Strand hinunter und durch den Wellenschaum hindurch – alsbald sich überstürzend und durch die Wogen nach dem Verlorenen sich vorwärtswühlend, – in das weite, stille, spiegelblanke Wasser hinein, welches sie, wie ihr der Grund unter den Füßen schwindet, mit eben 420 derselben Gleichgültigkeit wie vorher Mann und Fisch in sich aufnimmt, um dann, unbewegt auch von diesem letzten seiner vielen furchtbaren Geheimnisse, wieder in tiefleuchtender Glätte dazuliegen.

Draußen in der Welt hat die Sonne, eine glanzlos gewordene Goldscheibe, die schwarzblaue Horizontlinie erreicht und fängt eben an, langsam unter sie hinabzusinken . . .

 


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