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Auf dem Fußweg, welcher zwischen schmalem Sommergras durch den Baumgarten führt, wandert Isa, trotz der schon hoch am blauen Himmel stehenden Sonne immer noch barhaupt, allein in den Vormittag hinein. So ist sie am freisten! So ist es am schönsten! Und das Wandern hat sie längst so gut gelernt, daß sie von Müdigkeit nichts mehr weiß. Seit jenem dunklen Abenteuer mit dem steinernen Weib und den fahrenden Schülern meidet sie die Menschen, wo sie kann, und hält lieber Zwiesprache mit Bäumen und Bergen.
Die Blütenblättchen sind im Winde längst abgefallen; überall bemerkt sie im Vorbeigehen den Ansatz winziger Äpfel und Birnen. Aber wird nicht eben jetzt wieder solch ein süßes Schneegestöber durch die warme Luft dahergetragen? Nein, nur weiße Schmetterlinge sind's. Von einem ganzen Schwarm sieht sie sich umwirbelt, als wären sie gerade ihr zugesandt.
,.Wollt ihr mir Gesellschaft leisten, liebe Tierchen? Zieht ihr wie ich nach dem heiligen Land?«
187 Und wie zur Antwort setzen sich ihr die lautlos durcheinandertorkelnden, so federleichten Flügelwesen ins Haar, auf die Ohrmuscheln, auf Schultern und Arme. Gewiß möchten sie ihr eine Meldung bringen! Von wem nur?
Der Pfad nähert sich, leicht absinkend, einem Gehöft; aber Isa, die sich mit dem Schmetterlingsschwarm in ein gegenseitiges neckisches Spiel eingelassen hat, merkt es nicht. Sie streckt ihre zehn Finger in die Höhe: sofort krabbelt ihr auf der Spitze eines jeden ein begieriger Weißling. Sie hält im Gehen, wenn auch nur einen Augenblick, das erhobene nackte Bein still: und im Nu lassen sie sich auf den Zehen nieder und umflügeln ihr sanft schmeichelnd unten die Knöchel und oben das Knie. Sie schaut mit zurückgeworfenem Haupt in den Himmel empor, um zu sehen, wie dicht denn der verzückte Schwarm sei: und schon setzen sie sich ihr verwundert auf die Nase; heften sich ihr süßigkeitserpicht auf die Lippen, ob sie sie gleich mit der dazwischenfahrenden Zunge erschreckt oder sie mit schnaubendem Atem fortbläst; umtaumeln ihr neckisch den straffgespannten Hals oder huschen ihr unter dem Nacken durch, so daß ihr der Kitzel der vielfältigen Berührung durch alle Glieder rieselt. Und so bringt sie der tolle Schmetterlingsreigen, welcher ihr jede Aussicht blendet, allmählich in eine immer größere Tanzlust hinein, bis sie zuletzt, nur noch mit den Tierchen und sich selber beschäftigt, im Takte ihrer Empfindungen die Hüfte wiegend dahinschreitet.
Bald aber fühlt sie sich von den zahllosen Sommervögeln nicht nur umschmeichelt, sondern auch bedroht. Zwei besonders starke Weißlinge, die ihr von der Kehle aus unters Wams gerutscht sind, beginnen auf einmal ein ängstliches Flügelschlagen zwischen ihren Brüsten, so daß sie kreischend die ganze 188 Knopfreihe ihrer Jacke aufreißt, um nur den Eindringlingen möglichst rasch die Freiheit wiederzugeben. Aber kaum empfindet sie mit Entzücken an ihrem Busen die wohlig warme Liebkosung des Sonnenlichtes, so stürzen sich die trunkenen Schmetterlinge vereint auf ihre beiden rosigen Leibesknospen; und das scharfe Einhaken ihrer feinbekrallten Beinchen ist ihr so unerträglich, daß sie eben in hellem Entsetzen aufschreien will –
»Seht die Heidin! Seht die rothaarige Hexe!« keift da die Stimme eines alten Weibes unter dem bemoosten Strohdach hervor, an welchem Isa nichts ahnend vorbeischreitet. »Seht, wie sie die verfluchten Sommervögel ins Land lockt, daß uns im Herbst wieder die Raupen den Kohl wegfressen! . . . Schlagt sie tot, die Hexe!« Und von der andern Seite, vom Stall her, kommen mit spitzen Heugabeln der Bauer und sein Knecht angesprungen. »Die werden wir, denk' ich, bald haben!« knirscht der Mann –
Wie aus einem Traum erwacht, bemerkt Isa plötzlich durch das weiße Schmetterlingsgewirbel hindurch zu ihrer Linken das schiefe Runzelngesicht der aus der Türe hervorhudelnden Bäuerin, die ihr mit triefenden Augen und mit dem letzten gelben Zahn im empört aufgerissenen Maul die Schläge des vorgehaltenen Besens zudroht; zu ihrer Rechten aber die beiden in Holzschuhen daherklappernden Bauern, die noch viel gefährlichere Werkzeuge in den Fäusten schwingen und, bis sie sie erreicht haben werden, ihr die lästerlichsten Schimpfworte wie Klötze zwischen die jäh ausgreifenden Schenkel werfen. Während sie vergebens versucht, das Kittelchen wieder zu schließen und so ihre gleich aufgeschreckten Zicklein am Bergeshang umherhüpfenden weißen Brüste zu bändigen, rennt sie in fassungsloser Angst – diesmal ist sie verloren! – von dem Gehöfte 189 weg und, dem Pfad folgend, nach dem Walde hin, wo sie – das oder nichts ist ihre Rettung! – von den dunklen Tannen das weiße Gemäuer und das Türmchen einer kleinen Kapelle sich abheben sieht. Der Schmetterlingsschwarm aber, welcher mit seinen Flügeln schneller fortkommt als die erbosten Bauern mit ihren krummen Beinen, ist ihr, nach anfänglichem Auseinanderstieben, in begeisterten Schwüngen nachgewirbelt und hat sie schon wieder erreicht, während ihr die zurückgebliebenen menschlichen Verfolger immer noch mit zäher Wut nachkeuchen . . .