Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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11. Der »Einzug Christi«

Die Sonne gießt ihre Strahlenglut auf die schmachtende Erde, die weithin sich als öde Heide breitet.

Wo immer ein Baum ihnen Schatten gewährt, rasten sie für kurze Zeit; aber stets aufs neue treibt eine wilde Sehnsucht sie vorwärts. Wie weit mag es noch sein bis zum Meer? Sie möchten am liebsten zu rennen beginnen und nicht mehr innehalten, bis sie ein Schiff unter den Füßen und dieses unheimliche Land hinter sich haben.

Stephan und Ellenor wandern stumm, begierig und bedrückt zugleich, nebeneinander hin; in ihrem Rücken folgen Eustachius und Alix und der ganze Zug der übrigen Kinder. Aber während Stephan und Alix den Erdstrich verwünschen, auf welchem der Fluch der Ketzerei liegt, kümmern sich Ellenor und Eustachius je länger je weniger um die Wirklichkeit um sie herum: immer mehr 50 reift die Gluthitze ein tolles Wollen in ihnen, so daß auch sie – wie jene wahnsinnigen Weiber! – alle Gewandung von sich schleudern und sich tanzend in den großen Rausch der Sonne hineinwerfen möchten, in welchem Erde und Himmel sie umflimmern. Wie anders war es doch, als sie auf dem Ochsenwagen durch blühende Obstgärten rollten und auf dem Floß den kühlen Strom hinabschwammen! Aber war es darum schöner als das Erleben, dem sie sich jetzt mit lustvollem Bangen entgegengetragen fühlen? Hat nicht auch die volle Hingabe, das unbedenkliche Sichverschenken an das unergründliche Schicksal, Jubel und Wonne – vielleicht die größte – in sich?

Seit einer Stunde liegt ein ihnen allen unerklärlicher Brandgeruch in der weißdunstigen Luft; wie wenn irgendwo das dürre Gras Feuer gefangen hätte. Wo wollten sie hinfliehen, wenn auf einmal vom Horizont ein Flammenmeer sich über die ausgedörrte Steppe daherwälzte? Sie schauen und schnuppern umher wie geängstigte Tiere: sie haben keinen andern Führer als die staubweiß blendende Straße vor sich; und die schweigt sich darüber aus, in was für eine Ferne sie hineinläuft. Stephan verlangsamt allmählich seine Schritte; und Alix fühlt immer schmerzlicher die Verzagtheit, die sich seiner bemächtigt – sind auch sie dem Bösen in die Schlinge geraten und steuern geradeswegs in ihr Verderben hinein?

»Seht dort!« ruft Ellenor mit matter, vor Durst heiserer Stimme. Und alle schauen in der Richtung aus, die ihnen ihr gestreckter Arm angibt; als wäre irgendwo die Enthüllung des Geheimnisses zu erhoffen, von welchem sie sich immer mehr umfangen fühlen. Sie wittern mit ihren jungen Seelen eine Spannung der Welt, die sich ihrer Entladung in furchtbaren Ereignissen nähert, ja, vielleicht schon in sie eingetreten ist.

51 Etwas abseits erkennen sie in ihrem Mauerring eine Stadt, aus welcher immer neue Rauchwolken aufsteigen und in der unbeweglichen Luft zu braunen Nebelschwaden auseinanderrinnen. Aber ist das wirklich eine Stadt? Oder ist es am Ende die Esse des Teufels? Über nichts mehr würden sie sich verwundern in diesem Reich der Hitze und des Hasses, in welchem sie sich längst wie in einer Wüste vorkommen.

Da blicken sich Ellenor und Eustachius plötzlich in die Augen und sehen in ihnen neben der leidenschaftlichen Begehrlichkeit, die nicht nur den geliebten Leib, sondern in ihm das Geheimnis des Lebens ergreifen möchte, einen kaum sich selber eingestandenen Zweifel, der sie warnt und mißtrauisch macht. Ist es nicht vielleicht doch eine höllische Versuchung, die ihnen als Seligkeit vorspiegelt, was ihr Verderben sein wird? Aber können sie sich dagegen wehren, daß sie die Sonne dieses Landes bescheint und daß sie seine Luft einatmen? Der brenzlige Geruch wirkt wohl abschreckend, doch auch heimlich aufreizend auf sie – denn hat nicht dort, wo jetzt die Asche qualmt, vorher jene Flamme gelodert, von der sie fühlen, daß sie auch aus ihren Herzen hervorbrechen will?

Während sie noch stehen und starren, kommen zwei Eseltreiber auf ihren Tieren aus einem Seitenweg in die Straße hereingeritten. Sie tragen große Hüte, in deren Schatten ihre sonnverbrannten Gesichter noch dunkler aussehen; und das Weiß der Augen blickt, unter der breiten Krämpe hervor, forschend auf die junge Pilgerschar. Es ist ihnen, als wollten sie prüfen, ob die Kreuze auf ihrer Brust auch echt seien.

»Was ist das dort!« fragt Stephan, indem er nach den rauchenden Trümmern deutet.

»Eine Ketzerstadt. Sie haben sie heute Nacht angezündet . . .« 52 lacht der eine. Und der andere stellt, nachdem er ihre frommen Fahnen mit dem Blick überflogen hat, die Gegenfrage: »Bist du vielleicht der König der Kinder, die nach Jerusalem ziehen wollen?«

»Der bin ich!« versetzt Stephan. »Und ihr? Wollt ihr uns nicht den Weg zeigen?«

»Freilich wollen wir! Kommt nur mit uns! Wir führen euch in eine gute, christliche Stadt, wo ihr wie in Abrahams Schoß aufgehoben seid!«

Die beiden Burschen zwinkern einander zu und springen von ihren Tieren ab. Ob sie nun selber auf ihnen hocken oder jedem so ein mageres Kreuzfahrerlein aufladen, sie werden immer noch genug Kräfte behalten, um in der Nacht ihre Lasten aufs Land hinauszuschleppen. Und einen solchen Spaß gibt es nicht alle Tage, wie sie ihn sich mit diesen jugendlichen Schwärmern leisten können . . .

»Aber wollt ihr nicht lieber reiten als zu Fuß gehen?« lächelt sie der erste Treiber wiederum an. »Und das hier ist gewiß die Königin? Oder nicht? – Steig auf, Königin von Jerusalem!«

Stephan und Ellenor besteigen die beiden Esel. Was das für eine Wohltat ist, nicht mehr auf den brennenden Füßen und schmerzenden Beinen stehen zu müssen! Wären nur auch für die andern genug Tiere da, damit sie nicht vor ihren Brüdern und Schwestern etwas voraushaben! Aber schon setzen sie sich, und mit ihnen der Zug der Kinder, aufs neue in Bewegung. Die beiden braunen Burschen halten die Zügel und gehen nebenher; und alles scheint sich zum Bessern wenden zu wollen.

Die Erhöhung ihres Königs und ihrer Königin erhöht auch den Mut der übrigen Knaben und Mädchen, mag ihnen selber nach wie vor ein Wandern im heißen Staube beschieden sein. 53 Schon der Gedanke, nunmehr in der Obhut einer sicheren Führung zu stehen und ein Ziel vor sich zu haben, läßt sie die Mühsale des Marsches nur noch halb empfinden. Und so ziehen sie wieder stundenlang durch die versengte Heide und harren getrost aus, bis am Ende der Straße die verheißene Stadt auftaucht, mit einem großen, dunklen Tor in ihrer Mauer.

Siehe, da kommt ein Reiter mit Federbarett und Mantel aus ihm hervorgeritten und bewegt sich ihnen entgegen! Tief ziehen die Eseltreiber den breitkrämpigen Hut und verbeugen sich scheu vor ihm; er aber läßt im Vorbeireiten einen spöttisch forschenden Blick über ihre Schar dahingleiten und verschwindet in der goldenen Weite des Abends. »Das ist einer der Herren vom geistlichen Gericht!« murmelt der Bursche, der neben Stephan hergeht; und in Stephan wie auch in Eustachius, Ellenor und Alix klingt das dunkle Gefühl nach, als sei ein Raubvogel an ihnen vorbeigeflogen und habe sie nur deshalb verschont, weil er sie verschmähte.

Und auf einmal schauen sie mit bangen Ahnungen dem finstern Tor entgegen, von welchem sie nur noch eine geringe Entfernung trennt und das sie bald in sich aufnehmen wird. Wie kommt es, daß sie auch von dieser Stadt, die doch von rechtgläubigen Christen bewohnt sein soll, nichts Gutes für sich erwarten und sich zwischen den feindlichen Parteien dieses Landes immer unsicherer fühlen? In Stephan steigt auf einmal der Gedanke auf, daß der reine Glaube, der ganz nur Liebe und Gottvertrauen ist, sowohl der Kirche als den Ketzern ein Ziel des Hasses sei; zugleich aber erneuert er in sich den unbeugsamen Entschluß, an seiner Sendung festzuhalten und von der einmal begonnenen Nachfolge Christi in nichts abzulassen.

»Wen bringt ihr hier?« fragt an der Mauer die Wache, 54 die schon lange voller Staunen dem großen Zuge entgegenschaute.

»Das ist der König von Jerusalem und sein Heer!« lacht derb der eine der beiden Eseltreiber. »Heißt es denn nicht in der Schrift, daß er auf einer Eselin seinen Einzug halten wird?«

»Dann wird das die Frau Jesus sein!« gröhlt der zweite Wächter, auf Ellenor deutend. »Aber von der steht nirgends etwas geschrieben!«

»Zweifelst du deshalb, daß sie vorhanden war?« blinzelt ihm der Treiber zu, der Ellenors Esel führt.

Und wie sie jetzt durch das hallende Tor in die Stadt eindringen, zieht mit ihnen ein und eilt ihnen voraus ein Gekicher und Gelächter, welches das Volk aus allen Gassen und Winkeln hervorlockt. Was gibt es? Die närrische fremde Jugend ist da! Sie spielen den Einzug Christi – »Herbei! Herbei!

»Seht den König von Jerusalem mit seiner Liebsten!« johlt die Menge und bewirft sie mit dornigen Rosen und bald einmal auch mit ausgepreßten Zitronen- und Orangenschalen. Und halbgewachsene Jungen versuchen Stephan eine rasch verfertigte spitze Schandmütze aufzusetzen, während die kleinen Gassenbuben vor ihnen her das Rad schlagen, wie um zu zeigen, daß hier jedes fromme Gefühl auf den Kopf gestellt wird. Zum erstenmal sehen sie die Tat ihres unerschütterlichen Glaubens mit Hohn überschüttet und erkennen sie sich selber als einen Gegenstand des Spottes.

Stephan und Ellenor sitzen schweigend auf ihren Tieren. In Schmach und Schmerz schließen sie die Augen und versammeln alle Kraft ihres Herzens, um das Vertrauen zu sich selbst nicht zu verlieren; aber sie können nicht hindern, daß wenigstens die unflätigen Worte ihnen durchs Ohr in die Seele dringen und in ihr mit schmutzigen Fingern ihre abscheuliche Schrift schreiben. 55 Und je heißer ihnen die Scham auf den jugendlichen Wangen brennt, um so stechender sprühen links und rechts die schlechten Witze aus dem Volk, das mit fuchtelnden Armen auf sie hindeutet, weil es ihre Frömmigkeit als Vorwurf empfindet.

Da tritt auf die freie Seite von Ellenors Esel Eustachius, auf diejenige Stephans Alix; und beide legen wie schützend die Hände an den Zügel, damit sie in den Augen der Zuschauer noch eine andere Führung haben als nur die der beiden Treiber, die sich für ihre anfängliche Gutmütigkeit zum Schluß auf eine so grobe Weise schadlos halten. Die übrige Kinderschar aber drängt mit ihren Kreuzen und Fahnen zwischen dem neugierig aus Hof und Werkstatt herbeigeströmten Pöbel wie in einem qualvoll verlangsamten Spießrutenlaufen hinter ihnen nach, ängstlich die Blicke auf Stephans und Ellenors hochragende Gestalten heftend und nur noch von der einen, bebenden Frage erfüllt, was wohl weiter mit ihnen geschehen werde. Gänzlich eingeschüchtert schieben sie sich aus der engen Gasse auf den Domplatz hinaus, wo die Kathedrale mit ihren vielen Portalen, Säulen, Statuen, Tier- und Teufelsfratzen im goldenen Abendschein hoch über den niedern Wohnungen der Menschen sich in den lichten Himmel emportürmt, während in der Tiefe, die schon in dunklen Schatten liegt, die Volksmenge immer mehr anschwillt und sie mit jeder Minute bedrohlicher umgibt.

Ein Dominikanermönch kommt eben aus der Kirche, zu welcher in ihrer ganzen Breite eine Freitreppe von einem guten Dutzend flacher Stufen hinaufführt. Er hört das Geschrei und Gelächter des Volkes und begreift sofort, daß er ein Trüpplein jener jugendlichen Schwärmer vor sich hat, die sich größerer Taten vermessen, als sie ihren Vätern gelungen sind. Sein Blick fällt prüfend zuerst auf Stephan; und dann, länger 56 verweilend, auf Ellenor, über deren rechte Wange, die ein Rosendorn geritzt hat, langsam ein Blutstropfen herabrinnt.

»Willst du uns etwa auch den Tempel säubern, junger Fant, wie der Herr in Jerusalem?« hohnlacht er. »So laß vor allem diese blonde Teufelin draußen!«

Da schwingt sich Stephan aus dem Sattel. »Komm!« flüstert er Alix zu und ergreift ihre willig dargebotene Hand. Und schon hat auch Eustachius Ellenor von ihrem Esel herabgeholfen und hält sich, zu jeder Verteidigung bereit, in ihrer Nähe. Und Stephan und Alix voraus, dann hinter ihnen Eustachius und Ellenor, so fangen sie an, die Stufen zu dem Dom hinanzuschreiten bis zu der obersten, wo sie feierlich niederknien, gefolgt und nachgeahmt von all den übrigen Knaben und Mädchen, welche sich, über die ganze Treppe verteilt, ebenfalls hinwerfen, als wollten sie damit andeuten, daß sie ihre Jugend Gott zum Opfer darbringen.

Die Not des Augenblicks hat sie wie in Blindheit gezwungen, sich nach der Verwandtschaft ihrer Seelen zusammenzuschließen. Stephan und Alix vertiefen sich in ein Gebet, das ihnen unwillkürlich zur Beschwörung all der dunklen Gewalten wird, die sie immer mächtiger an ihrem Wege anwachsen fühlen; und auch Eustachius und Ellenor sehen sich noch einmal in seinen Bann hereingezogen und erfahren, wie sie gestärkt werden gegen die Lockung jener heidnischen Unbekümmertheit, die in diesem Sonnenlande mächtig ist und sie in dem schwülen Duft unsichtbarer Orangenblüten, der ihnen durch die Gassen nachfolgte, selbst jetzt noch umgibt und aufreizt. Aber die Verwirrung ihrer Herzen wird darum nicht behoben: immer noch schweben sie zwischen der hochmütigen Lebensverneinung, deren ketzerisches Bekenntnis sie mit so tiefem Entsetzen vernahmen, und dem 57 heidnischen Lebensüberschwang, den hier selbst die Luft zu verbreiten scheint und mit dem ihr junges Blut ebensosehr zusammenklingt, als ihre Gedanken sich gegen die überhebliche, gottesfeindliche Ungläubigkeit zur Wehr setzen.

Eine ganze Weile neigen sie das Haupt, halten die Hände gefaltet und beten. Wenn sie auch der Spott und der Hohn der Lebenden umgibt: diese gewaltige Behausung Gottes, vor der sie knien, hat das Göttliche errichtet, das in allen jenen mächtig war, die vor ihnen lebten, und das auch in den Heutigen nicht ganz erstorben sein kann. Und eben diesen Funken Gottes, der in eines jeden Seele schlummert, ruft Stephan mit Inbrunst an, auf daß er angesichts ihres mutigen Glaubens in Flammen aufschlage, die in ihrer Finsternis tobende Menge erleuchte und sie ihr reines Wollen in einem reinen Lichte erblicken lasse.

Und siehe: Während er auf diese Weise lange betet, und alle die Kinder mit ihm, verstummt allmählich der Lärm des Volkes. Die lautesten Schreier weichen immer mehr zurück; und die Gutgesinnten unter den Bürgern und Bürgerinnen werden unwiderstehlich angezogen von dieser jugendlichen Andacht, deren Aufrichtigkeit sie gerade an ihrer Unbeholfenheit erkennen und mit einer kaum eingestandenen Sehnsucht sich selber zurückwünschen. Und wie jetzt Stephan sich erhebt und alle die Knaben und Mädchen hinter ihm, da schauen sie in lauter gütige, freundliche Augen hinein, die ihnen Fürsorge und Unterkunft versprechen, und sehen zahllose hilfebereite Hände vor sich, deren Führung sie sich ohne Furcht anvertrauen dürfen.

Im Abgehen bemerken Ellenor und Eustachius, wie zwei Bürgersfrauen, halb hinter den Schultern anderer Neugieriger verborgen, verstohlene Blicke auf sie werfen und mit einander flüstern. »Was sagst du? Das sollen eigentlich auch junge 58 Ketzer sein? Aber sie sehen doch ganz anders aus als jene, die der Bischof morgen verbrennen läßt!« Und ein Schauder überweht sie und läßt sie bis in die Lippen erbleichen, während sie sich dicht an ihre fremden Beschützer anschmiegen und mit ihnen in einer engen Gasse verschwinden.

Auch das übrige Volk verläuft sich; und der Domplatz liegt wieder leer da. Nur dort, wo der Zug der Kinder durchgezogen ist, leuchten neben den zerquetschten Früchteschalen rote Rosen am Boden. Als hätten Engel sie heruntergeworfen von den glühenden Wolkenschiffen, welche im grünlichen Abendhimmel langsam über die Stadt hinschwimmen . . .

 


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