Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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39. In der Sterbestunde

»Er wird die Nacht nicht mehr erleben«, begrüßt sie der alte Arzt, wie sie in die Stube eintreten. »Eben hat er den Leib des Herrn genossen . . .

Der Bürgermeister und die Bürgermeisterin müssen sich setzen. Ihr Blick schweift durch die Fenster auf die Laube hinaus, wo der kranke Enkel, umgeben von Vater und Mutter, in seinem Krankenstuhle mehr liegt als sitzt; und weiter, an den drei Häuptern vorbei, nach den frühlingsgrünen Hügeln, über welchen ein süßer, föhnklarer Abendhimmel, belastet von einer braunen, weichen Wolkenbank, seine lockenden Fernen öffnet. Warum bleiben sie zwei steinalten Leutchen von Gott und dem Tode vergessen, während einer der jüngsten Zweige am Baume ihres Geschlechtes verdorrt?

»Es geht nicht mit rechten Dingen zu, guter Freund!« flüstert erschüttert Meister Albrecht. »Was hat er mich und erst seinen Vater immer nach dem heiligen Lande ausgefragt! Es ist, als ob er sich in dieser Welt und in diesem Körper nie recht heimisch gefühlt hätte.«

»Es wird das Feuer sein, das er mit dem Blute ererbte!« erwidert der Arzt, indem er die Achseln zuckt. »Euch und Euren Sohn hat es belebt und groß und stark gemacht; ihn verzehrt 455 es. Es hat schon mehr Menschen gegeben, die vor Sehnsucht nach dem Himmel starben. Und in der Tat: Wozu eigentlich der Umweg über die Erde?«

Der Bürgermeister hört diese Erklärung und nickt in seinen weißen Bart hinein; aber sie will ihm nicht genügen. Er erhebt sich und nähert sich der Türe, die auf die Laube hinausführt: und hier schlägt ihm von den Hügeln und Matten jener laue, blumensüße Lenzhauch entgegen, von welchem einst auch sein Herz trunken war. Wenn aber jeder Frühling die holde Erinnerung an die vielen tausend Lenze in sich trägt, die ihm schon vorangegangen sind, wie sollte nicht auch die Sehnsucht längst vergangener Zeiten wie ein Vampyr in die Gegenwart hereingreifen und unbewehrten Seelen die Lebenskraft aussaugen können? Und müssen nicht gerade diejenigen, die schwachen Leibes sind, den Lockungen dieser zahllosen Scharen Vorausgegangener leichter und rascher folgen als die andern? Seit vielen Jahrzehnten zum erstenmal spürt er, der längst nur noch von den irdischen Sorgen des Alltags Erfüllte, jenen geisterhaften Zauber wieder, dem dieser bleiche Jüngling mit den dunkelglänzenden Augen und den roten Flecken auf den Wangen nicht anders erliegen wird, als auch sie ihm seinerzeit – beinahe! – erlagen.

Mutter Gertrud denkt nicht an solche Dinge; sie denkt überhaupt an nichts mehr. Sie steht neben ihrem Mann, hat den Eltern des Sterbenden – ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter – grüßend zugenickt und schweigt jetzt, über ihre betend gefalteten Hände gebeugt, ergeben dem Ende des Enkels entgegen. Sie trägt so schwer an der Bürde ihrer achtzig Jahre, daß die milde Frühlingsluft für sie keine Lockung mehr enthält und nicht mehr in ihre Seele dringt, welche wie in einer 456 zunehmend sich verdunkelnden Zelle längst auf die Hand jenes Pförtners hofft, der von außen öffnet.

Der alte Arzt hat sich zu Häupten des Kranken aufgestellt. Alle betrachten den bleichen Jüngling, der als ein rastloser Wanderer die endlosen Wüsten irdischen Fiebers bis hin zum blaurauschenden Meere der Ewigkeit durchquert hat und nun, erschöpft und abgezehrt, am Hafendamm sich kurze Rast gönnen darf, bis die große Geisterbarke anlegt, in die sein unsterbliches Teil einsteigen soll. Und es ist ihnen, als sähen sie hinter seinen geschlossenen Lidern die Bilder, die seine Seele erfüllen, so deutlich wie er selber; und als wüßten sie, wie er jetzt die Wimpern aufschlägt, die Worte zum voraus, die er sprechen wird –

In diesem Augenblick ist in die offene Zimmertüre der altersschwache Knecht Stephan getreten, der schon seit geraumer Zeit im Hause das Gnadenbrot essen und den ewigen Feiertag feiern darf. Niemand bemerkt ihn, während er mit einem freundlichen Lächeln dasteht und in seiner von der Lebenssonne braungebrannten Knochenhand ein Büschelchen tiefblauer Veilchen hält, welche er im Laufe des Nachmittags an den Hügeln drüben unter dem dürren Gras der Böschungen für den Kranken zusammensuchte. Er schaut in die starr und tief geöffneten Augen Jung Stephans, die nichts mehr in der Außenwelt wahrnehmen, sondern ein inneres Erlebnis in sie hineinstrahlen; und er spürt zwischen Entsetzen und Entzücken, wie sich in der Seele des Sterbenden Einst und Jetzt miteinander zu verbinden anfangen, weil sie schon halb zu Gott zurückgekehrt ist . . .

»Sie kommen!« hauchen die fahlen Lippen. Und während der glänzende Blick sich in der silbernen Abendferne verliert, dünkt es sie alle, als lausche er einer Musik, die sich ihm vom Rücken her nähert. Und von neuem verbreiten sich flüsternde 457 Worte: »Seht ihr – am obern Tor – ganz dunkel wird es von den Kreuzen und Fahnen, die sich hereinzwängen . . .«

Das Fieber spricht wieder aus ihm! denkt sein Vater, Meister Heinz der Waffenschmied, und wechselt einen Blick mit seiner Frau. Wenn nur ihr unglückliches, so gar nicht für diese Welt passendes Kind endlich einmal ausgelitten hätte! Der Arzt und der greise Bürgermeister aber halten lauschend ihr Ohr hin; und Stephan der Knecht senkt andächtig das weiße Haupt über die Veilchen in seiner Hand. Was sind das für Erinnerungen, die den Sterbenden heimsuchen?

»Hört ihr, wie sie singen? – Ach, und dort: die brennenden Kerzen! – Warum weinst du, schönes Mädchen? Weil dir der Luftzug dein Flämmchen ausgelöscht hat? – Sieh hier den Knaben, der dir's wieder anzünden will! – So! Und jetzt wird er dich durchs Städtchen begleiten –«

Der alte Arzt, der sich von obenher über den Sessel hereinbeugte, richtet sich in jähem Staunen auf.

»Das ist nicht nur das Fieber, das aus ihm spricht. So war es wirklich! Ich selber bin es gewesen, der am Tor einem Mädchen die Kerze wieder anzündete und neben ihm bis zum untern Tor mitwanderte –«

Aber schon hebt Jung Stephan das schweißbedeckte Haupt höher; und sein Mund stammelt weitere Rede:

»Was winkt ihr mir zu? Ich soll das Fenster aufmachen und zu euch hinunterspringen? – Ich folge euch nach, sobald ich das Schwert des Vaters blank gescheuert habe! – Wie? Und das Mägdlein, das am Spinnrad sitzt, soll auch mitkommen? Oder willst du etwa nicht? – So seht uns denn beide gerüstet und nehmt uns auf in eure Schar! – Wie lieblich lacht vor dem Tore die Welt . . .«

458 Meister Albrecht blickt über den Enkel hinweg voller Entsetzen dem Arzt ins Gesicht –

»Großer Gott, das bin ich ja selber! Ihr war't es, der mir ans Fenster hinaufwinkte, ich solle mit euch fahren. Aber dann bliebt Ihr zu Hause; und nur wir gingen . . . Weißt du noch, Mutter?«

Doch bevor der Bürgermeister Zeit findet, sich nach seiner Ehefrau umzusehen, stößt Jung Stephan abermals Bilder der Seele hervor, mit einer verklärten Wanderfreude im zermarterten Gesicht:

»Nehmt eure Kräfte zusammen . . . Noch über diesen Berg hinüber und wir werden ihn sehen: Stephan, den König von Jerusalem! . . . Dort – dort kommt er! Er sitzt auf einem Wagen; und die Fahne mit der allerheiligsten Jungfrau weht um ihn . . .«

Da hebt Stephan der Knecht seinen trüben Blick von den Veilchen auf und heftet ihn auf den Jüngling, den er liebt wie seinen eigenen Sohn. Wie könnte, was in der Vergangenheit liegt, verloren sein, wenn es einer noch lebenden Seele auf so wunderbare Weise erkennbar ist? Aber da legt sich auch schon ein Schatten – ist es der Schatten des Todes? – über das Antlitz des Sterbenden, der angestrengt vor sich hin lauscht –

»Was ruft ihr? ›Hilf, heiliges Grab!‹?« Dann überlegen, mit schmerzlichem Vorwurf: »Laßet die Toten ihre Toten begraben!« Und ganz leise, als Ausdruck seines innersten Glaubens: »Hilf, heiliger Geist! . . .«

Auf einmal merkt Stephan der Knecht, der vor soviel göttlicher Offenbarung den Blick andächtig auf seine gefalteten Hände zurückgezogen hielt, wie die greise Bürgermeisterin, die eben so unverwandt ihren Enkel betrachtete, zu lautem Gebete 459 niederkniet. Und erst jetzt sehen auch die übrigen Anwesenden, einer nach dem andern, daß in Jung Stephans dunklen Augen, ob sie gleich offenstehen, kein Glanz mehr lebt: aus seinem blassen Antlitz ist wie durch Zauber die Seele entflohen, um nur noch im Reiche ihrer Traumgesichte zu wohnen und es nicht mehr mit dieser dunklen, schweren Welt zu teilen. Sanft schließt ihm der Arzt über den erlöst sich glättenden Zügen die Augenlider; und den Hinterbliebenen ist es, als wäre damit auch die kurze Schau in ein Jenseits, von dessen Geheimnis ihnen bereits ein Schimmer entgegenleuchtete, wieder verschlossen worden.

Und wie nun alle knien, die Eltern, die Großeltern, der Arzt und der Knecht, und ihre ergrauten und durchfurchten Häupter in Ehrerbietung vor dem Unerforschlichen neigen, da spüren sie immer deutlicher einen wundersüßen, tief und kühl erquickenden Duft, der sie wie eine liebliche Kunde umwittert und umschmeichelt. Es ist der Geruch der Veilchen, welche Stephan unverwandt in der Hand hält und auf die aus seinen alten, blöden Augen selige Zähren herabtropfen, während in sein müdes Herz, gleich der goldenen Abendherrlichkeit über dem Hügelhorizont, die tröstliche Gewißheit einzieht, daß das große, übermächtige Erlebnis, das einst ihm und seinem Kinderheer aus ihrem Glauben erwuchs, irgendwo in der Welt unvergänglich nachhallt und widerklingen wird, solange es auf Menschenseelen stößt, in denen es anklingen kann. Und er ergibt sich nicht nur vor dem Hinschied des sanften, von ihm so sehr geliebten Jünglings, sondern vor allem, was als Schicksal noch über ihn und die Menschen kommen mag, mehr denn je mit blind vertrauender Seele in den Willen Gottes . . . 460

 


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