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Der Zug der Kinder mit Kreuzen und Fahnen ist ihr vorausgegangen und dort vorn in der Stadt verschwunden, welche sich von dem nämlichen goldenen Abendsonnenlicht überflutet zeigt, das auch ihre einsame Gestalt auf der Landstraße warm umleuchtet.
Sie muß immer wieder mit der Taube plaudern und merkt darüber gar nicht, daß sie als letzte dahinzieht. Eben steckt sie zum hundertsten Male den Zeigefinger zwischen den Holzstäbchen hindurch und lacht, wenn das Tierchen sie zutraulich pickt. Da sieht sie plötzlich auf der leer gewordenen Straße einen Reiter in geistlicher Tracht ihr entgegenkommen und erkennt, daß sie nicht länger säumen darf, sofern sie nicht auf dem Felde nächtigen will.
Wenn sie nur schon an dem Reiter vorbei wäre! Aber da hüpft von links eine weißwollige Schafherde daher und trippelt 59 stumm und dichtgedrängt quer über die Straße, ihr das Fortschreiten wehrend. Eilen sie von Weideplatz zu Weideplatz? Oder werden sie zur Schlachtbank getrieben? Eine Staubwolke wirbelt zu beiden Seiten auf und hüllt sie halb in ihre grauen Schleier ein.
Drüben zieht der Reiter die Zügel an; hier hemmt Isa ihre Schritte und kann nicht weiter. Zwischen ihnen wogen wie die durcheinanderspielenden Wellen eines Stromes die Rücken der Böcke und Lämmer dahin: auch sie tragen auf ihren weichen Vließen das matte Gold der Abendsonne, deren zum Horizont gesunkener Ball durch den Staub hindurch in noch dunklerem Rot erglüht. Und über diese rastlos sich vorwärts bewegenden Tierleiber hinweg begegnen sich ihre Blicke in gegenseitiger Prüfung; und Isa erkennt ein bleiches, starkknochiges Gesicht mit heiß brennenden Augen.
»So allein, schönes Kind?« fragt drüben lächelnd der Reiter. Er verschlingt mit den Augen ihr rotes Haar und ihren weißen Hals: es dünkt ihn, ihre Liebe müsse süß sein. Wäre das nicht eine hübsche Abendbeute?
Isa schweigt und hält den kleinen Vogelkäfig fester in der Hand. Im Geiste sieht sie auf einmal das graubärtige Gesicht des alten Grafen vor sich. Dieses furchtbare Land! sagte er. Oder sagte er nicht so?
»Bist du nicht müde? Willst du nicht aufsitzen? Dann bist du im Nu in der Stadt; und ich weiß dir ein besseres Nachtlager, als deine Schwestern es haben . . .« Das Grinsen, zu welchem sich seine Lippen verziehen, setzt seine Rede deutlich genug fort. Das Pferd unter ihm wird unruhig.
Isa blickt starr auf die vorbeihüpfenden Lämmer. Wenn nur noch recht viele kämen! Aber da ist schon der Hund; und dort 60 sieht sie, durch den Staubnebel hindurch, den breitkrämpigen Hut des Hirten. Warum rieselt ihr ein kalter Schauder über den Rücken?
»Gehörst du zu denen, die unsere Sprache nicht verstehen? Getrost: Ich werde mit dir in einer Sprache sprechen, die überall die gleiche ist. Solltest du so lieb sein, wie du schön bist, und dieser Sprache nicht –«
Scharfes Gebell übertönt seine Worte. Die letzten Schafe, die vor dem tänzelnden Pferd ausbrachen, rennen, vom Hunde umkreist, der Herde nach; und jetzt trottet auch der Hirt vorüber, stumpf, gleichgültig. Die Straße ist frei – Soll sie zurück, ins Land hinaus fliehen? Aber er würde sie mit seinem Pferd einholen. Besser, sie versucht ihre Kräfte in einem Wettlauf nach der Stadt . . .
»Wohin denn so eilig? Können wir nicht zusammen den Rückweg antreten? Zuletzt siehst du von selber ein, daß vor mir im Sattel noch Platz ist und daß ich kein Unhold bin.«
Er schwenkt sein Roß herum und reitet behaglich Schritt neben ihren gehetzten Schritten. O, sie weiß, wie sich's vorn auf einem Sattel sitzt! Warum schickte ihr Gott nicht abermals jenen blonden Jüngling entgegen, sondern diesen finstern geistlichen Herrn? Sie spürt den schnaubenden Atem des Tieres in ihrem Nacken, als ob es der seine wäre; sie fühlt vor diesem Menschen einen größeren Schrecken als damals, wo sie nackt vor dem alten Grafen stand. Sie schaut hilfesuchend nach der Stadt aus: grau stehen ihre Mauern und Türme auf einer Ferne von Blut und Feuer.
»Was hast du da für einen Vogel? Sonst tragen hierzulande nur die Ketzer solches Getier mit sich herum! Laß mich doch einmal das Tierchen aus der Nähe ansehen! Ich gebe dir meine Liebe dafür – ist das kein guter Tausch?«
61 Isa hört sein Gelächter nicht mehr: schon rennt sie in offener Flucht dem Stadttor zu, dessen dunkle Höhlung ihr wie ein rettender Hafen erscheint. Sie hält den Käfig krampfhaft fest an die Brust gedrückt; und innig fleht sie vor ihrem geistigen Auge das Bild des graubärtigen Mannes an, der gütig ihre unberatene Jugend beschützte. Ihr Atem keucht, ihre Füße durchwirbeln den Straßenstaub; und immer dicht hinter ihr, und jetzt wieder an ihrer Seite, tönt ihr der Hufschlag des Pferdes in die Ohren.
»Bist du vielleicht gar keine Kreuzfahrerin? Gehörst du nicht nur scheinbar, sondern wirklich zu der verfluchten Rotte der Ketzer? Dann danke Gott, wenn ich dich in meinen Schutz nehme; und schenk mir deine Liebe, wenn du willst, daß ich dir das Leben schenke –«
Diesmal sind es nicht die Nüstern des Pferdes, sondern die heißen Atemstöße seines Mundes, die sie spürt. Tief neigt er sich zu ihr nieder: sie aber stürmt so wild dem nahen Tor entgegen, daß ihr Haarknoten sich löst und die rotgoldenen Flechten in der Luft flattern. Doch immer bleibt ihr der Trab des Pferdes im Nacken; und jetzt greifen ihr gierige Finger in die entfesselten Strähne.
»Hab' ich dich, du Hexe mit dem bösen Blick? Willst du jetzt nicht lieber in die Stadt einreiten, statt in sie geschleift zu werden? Bist du endlich zahm, roter Teufel –?«
Da springt Isa an dem Roß empor: doch nicht, um sich in seine Umarmung hineinzusetzen, sondern um ihn in die Hand zu beißen. Wie toll brüllt er auf; und während er dem Tier die Sporen gibt, daß es im Galopp auf die Stadtmauer losrennt, hält er nur um so grimmiger die vollen Flechten in der zusammengekrampften blutenden Faust. Sie aber umklammert 62 jetzt mit beiden Händen den Vogelkäfig, hört, mehr durch die Luft fliegend als auf der Erde geschleppt, die Rufe der Torknechte, die den Reiter umringen, und die wutschäumende Rede des Brünstigen –
»Nehmt hier die Satansjungfer! In den Kerker mit ihr! Sie kann morgen mit den andern brennen!«
Isa reißt an dem Käfig den Schieber auf. Wie aus einem gräßlichen Traum fällt sie in die noch schlimmere Wirklichkeit hart zupackender Schergenfäuste hinein. Der Reiter aber verschwindet durch das dunkle Tor der Stadt.
Ihr letzter Blick sieht die Taube in den bleichen Abendhimmel emporsteigen.