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Mit der Tiara und im großen Mantel sitzt Papst Innocenz III. auf dem Thronsessel des Audienzsaales und blickt geradeaus.
Er weiß, daß jetzt die Anführer der nach dem heiligen Lande ausgezogenen Kinder ihn anflehen werden. Er hört, wie sich die Seitentüre öffnet und, von einem Kardinal geführt, zerlumpte, abgemagerte, hohläugige Knaben und Jünglinge scheu sich in den Raum hereinschieben; und wie bei seinem Anblick einer nach dem andern anbetend in die Knie sinkt. Er riecht, während sich der Saal allmählich füllt, immer deutlicher die Leiden ihrer Armut und die Prüfungen ihrer Wanderschaft.
»Das, Heiliger Vater« – beginnt der Kardinal als Sprecher der Unmündigen – »sind die Kinder, die sich in jugendlichem Übermut vermessen haben, das Grab des Erlösers den Heiden zu entreißen. Sie sehen ein, was ihnen deine Diener so gut wie die Diener der Welt voraussagten: daß ihre Kräfte für dieses Unternehmen nicht hinreichen und daß sie ihre Seele mit einem zu schweren Gelübde beladen haben. In Demut bitten dich diejenigen, die das Grab des Erlösers erlösen wollten, 434 daß du sie von dem Zwange ihres Vorhabens lösest, unter welchem sie in dieses äußerste Elend geraten sind, darinnen du sie zu deinen Füßen erblickst . . .«
Innocenz sieht sie und sieht sie nicht; er blickt über die vornübergeneigten Knabenhäupter, deren blondes, braunes und schwarzes Haar ein goldener Herbstsonnenstrahl erhellt, regungslos hinweg in die Unendlichkeit. Noch nie hat er seine Macht so tief empfunden wie jetzt, wo die von ihrer eigenen dunklen Glückssehnsucht verführte Jugend vor ihm kniet: er weiß auch, daß diese fiebernden Augen, die zwischen den hingeflüsterten Gebetsworten immer wieder zu ihm aufschauen, das Bild seiner thronenden Herrlichkeit unvergeßlich in sich aufnehmen und der verzweifelnden Seele als unverlierbaren Erinnerungsschatz fürs Leben einsenken werden. Ist es am Ende nicht gut, daß das heilige Grab in den Händen der Ungläubigen liegt und eben dadurch zu einem Ziele wird, welchem die Christenheit als ein stets neu anschwellender Strom entgegenwallt, auf seinen Wogen das Schiff der Kirche durch die Zeiten tragend? Er, der Statthalter Petri, muß immer wieder verlangen, daß das Grab Christi den Ungläubigen entrissen werde – aber darf er in seinem verborgensten Innern wünschen, daß es jemals geschehe?
»Hilf uns, Heiliger Vater! – Du hast die Kraft, zu binden und zu lösen: Nimm von uns ein Gelübde, unter dessen Last wir zusammenbrechen! – Wir wollten das Heil des Glaubens suchen und sind in die Sünde geraten! Unsere Füße sind blutig gelaufen; und sieh, unter unsern Lumpen sind die Glieder mit eiternden Schwären bedeckt! Wir sind krank an Leib und Seele und gestehen in Zerknirschung ein vor deinem Richterantlitz: wir sind zu schwach, wir sind zu unberaten! – Hör an unser 435 Flehen und hab Erbarmen mit unserm Elend: gib uns Erlaubnis, daß wir in die Heimat zurückkehren, die uns geboren hat! – Hilf uns, Heiliger Vater!«
Immer stärker flüstern, seufzen, stöhnen die Bitten um den erhöhten Thron, auf welchem der Greis sitzt und in seinem grauen Gesicht nicht ein Wimperzucken sehen läßt. Er weiß, daß er diese Knaben und Jünglinge nicht von ihrem Gelübde freisprechen wird. Wäre es klug, wenn die Kirche diejenigen aus der Hand gäbe, welche eines Tages Männer sein werden? Nur soweit lockern will er ihnen den selbstumgeworfenen Zügel, daß sie leben können. So wird die Kirche aller Welt ihre Barmherzigkeit zeigen und sich gleichzeitig in den Seelen dieser jugendlichen Schwärmer in ihrer Macht behaupten . . .
Er bewegt die rechte Hand. Sie begreifen, daß er sprechen will. Totenstille.
»Euer Gelübde kann ich nicht von euch nehmen –«
Schauderndes Entsetzen weht über die Häupter der Knienden und läßt alle ihre Bewegungen erstarren.
»Ein Gelübde darf nur durch ein schwereres ersetzt werden. Wie aber solltet ihr ein schwereres erfüllen, wo ihr diesem nicht gewachsen seid? Und was gäbe es überhaupt für euch, das noch schwerer wäre?«
Lautlos zerreißt das vielfältige Band, mit welchem ihre jungen Augen an seinen alten Lippen hingen. Mutlos senken sich die Stirnen, von einer Erkenntnis getroffen, die ihnen bereits kleinere Ratgeber zu überdenken gaben. Aber während sie noch in ihrer Zerknirschung die vorgerechnete Rechnung nachzurechnen suchen, dringt auch schon die Botschaft der Gnade an ihr Ohr –
»Aufschub sei euch gestattet, bis eure Kraft stark geworden 436 ist! Zieht nach Hause und harrt in Demut der Zeit, wo nicht mehr übermütige Verwegenheit euch treibt, sondern ich, der Herr der Christenheit, euch und alle zur Fahrt in das heilige Land aufrufe! Dann mögt ihr euch abermals aufmachen und Sühne leisten für einen Ungehorsam, den der Himmel so sichtbarlich an euch bestraft hat; denn es ist nicht gut, daß der Gläubige von sich aus etwas unternehme, ohne Vorwissen und Zustimmung seiner Obern: euer Beispiel zeigt einmal mehr, wie sehr die Lämmer, wenn der Hirte fehlt, in der Irre gehen, den Wölfen verfallen und in Abgründe stürzen . . .«
Seine Worte, in denen väterliche Milde durchklingt, gehen unter in dem dankbaren Schluchzen aufgetauter Herzen. Die Vordersten küssen seine Füße; und alle die andern rutschen nach vorn und wollen dasselbe tun im Überschwang ihrer von neuer Hoffnung belebten Gefühle. Und immer mehr erheben auch die Augen sich wieder zu seinem Antlitz, das in ewige Fernen schaut und über weltumspannenden Gedanken den Sturm jugendlicher Hingebung kaum oder doch nur wie etwas Nebensächliches bemerkt.
»Wir kommen, Heiliger Vater, wenn du uns rufst! – Dank dir, Heiliger Vater, du bist barmherzig und gerecht! – Gib uns deinen Segen, Heiliger Vater, daß wir jenen Tag erleben mögen und einst mit reineren Lippen die Erde küssen, wo unser Herr Heiland für uns starb! – Deinen Segen, Heiliger Vater! – Deinen Segen!«
Er breitet still beide Arme aus und besänftigt zu tiefster Verinnerlichung den Rausch, der sie so rasch wieder ergriffen hat und sie alle Schmerzen des Körpers, alle Leiden der Seele vergessen läßt. Sie knien gebeugt in ihren Lumpen und in ihrem Schmutze vor ihm und fühlen seinen Vatergeist 437 wegweisend und bestimmend in ihre jugendlichen Gemüter eindringen. »Geht hin in Frieden! Amen!« klingt es über ihren Häuptern und hallt es noch in ihren Herzen nach, während sie, vom Kardinal geführt, den Saal verlassen und den Scharen, die drunten auf dem Platze versammelt sind, den mit Zweifel und Bangen erwarteten Bescheid bringen.
Innocenz aber steht langsam auf, räuspert sich und geht in ein Nebengemach. Dort nehmen ihm dienstbereite Hände die Tiara und den Mantel ab; und er selber nimmt wieder das Aussehen und Gehaben eines alten Mönches an, der in seiner weißen Kutte und seinem weißen Käppchen einem vornehmen Einsiedler gleicht. Er tritt in sein Arbeitszimmer ein, wo bereits ein anderer Kardinal zum Vortrag auf ihn wartet und wichtigere Fragen seiner Entscheidung harren: für die großen Ketzer in der Provence gibt es keinen Aufschub, keine Gnade, sondern nur den Tod durch das Feuer, wenn das geistige Feuer, das sie anzuzünden sich vermaßen, nicht binnen kurzem den ganzen stolzen Bau der Kirche zum Einsturz bringen soll . . .
Unterdessen sind im Audienzsaal die Diener damit beschäftigt, den Fußboden reinzuwaschen, während sie gleichzeitig alle Türen und Fenster aufgesperrt haben, um auszulüften.
Ende des zweiten Buches.