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So reisen sie nun schon den dritten Tag durch den herbstlichen Sonnenschein. Albrecht führt zu seiner Rechten den schlau-geduldigen grauen Esel; und auf ihm sitzt wie eine heimliche Königin Gertrud, an der Brust ihr Kindlein in den Armen haltend. Wenn sie nicht in die hügelige Ferne träumt – die sie als Ferne gar nicht mehr wahrnimmt – so lüftet sie mit leisem Finger ihren Mantel, der wie ein Vorhang das zarte Geschöpfchen vor Wind und Sonne bewahrt, und schaut das holde Wesen, das ihr als Bild immerdar vor der Seele steht, auch mit den leiblichen Augen, wie um sich zu versichern, daß sie sich wirklich seines Besitzes erfreut.
»Erinnerst du dich an diese Gegend? – daß wir hier einst durchkamen?« fragt da auf einmal Albrecht.
»Nein!« lächelt Gertrud. Aber sie sieht nicht zuliebe hin: sie ist damit beschäftigt, ihrem Knäblein etwas vorzuplaudern und seine Blicke durch das Spiel ihrer Finger an sich zu fesseln. Genug, daß Albrecht das Maultier sicher am Zügel führt und den rechten Weg nicht verfehlt! Was kümmern sie Wiesen und Wälder im warmen Septembergold?
»Hier ist die Stelle, wo dich der Landstörtzer überfallen wollte? Weißt du es wirklich nicht mehr? – Ich kenne sie gut genug . . .«
Gertrud schweigt immer noch und beugt sich über ihr Kind; und so ziehen sie ohne Halt an dem gewaltigen Baume vorüber, unter welchem sie einst saß und dessen gelichtetes braungelbes 313 Blätterkleid jetzt überall den milden blaßblauen Himmel durchscheinen läßt. Das Rauschen der Waldquelle, an welcher Albrecht Wasser schöpfen wollte, hören sie bald einmal nicht mehr; aber ein Schatten von Nachdenklichkeit hat sich auf sie beide gelegt und wandert mit ihnen durch den reif leuchtenden Spätnachmittag. Nur der Esel trippelt unverdrossen davon, der Stallruhe entgegen, die am Ende eines jeden Tages seiner wartet, und ganz in den einfachen Gefühlen seiner Tierheit befangen.
»Wenn das süße Kleine von einem andern als von dir wäre?« flüstert Gertrud nach einer langen Stille. »Ich kann mir's nicht vorstellen . . .«
»Ich auch nicht,« versetzt Albrecht trocken. Dann aber sucht er mit einem Lächeln ihren Blick: »Ich könnte mir für mein Kind auch keine andere Mutter denken . . .«
Und sie schauen wieder am Wege die Wälder mit ihrem rötlichen Laub, das sich an der Sonne eines langen Sommers satt getrunken hat und der Stunde entgegenträumt, wo es lautlos zur Erde schweben wird. Und während allmählich die silbernen Fäden verblassen, die während eines Reigens milder Stunden den blauen Himmel mit der in leichtem Nebelduft aufgelösten Landschaft verbanden, steigt über den nahen Wipfeln als friedliche Weltampel die goldene Schale des zunehmenden Mondes in den klaren Äther empor. Wie unstete, schwermutvolle Gedanken, die noch nicht wissen wo sich einnisten, flattern die ersten Fledermäuse durch das beginnende Dämmer und lassen sie auf einmal die sichere Nachtherberge herbeisehnen, in welcher sie jedesmal die endgültige Geborgenheit, der sie zustreben, vorauskosten.
»Oft scheint mir's wie ein Märchen, daß wir einst so töricht in die Welt hineinliefen!« redet da Gertrud wieder vor sich hin. »Aber vielleicht taten wir doch immer, was wir jetzt tun: der Heimat entgegenziehen!«
»Nur daß wir so verblendet waren, die Heimat zuerst an jedem andern Orte zu suchen, nur nicht in der Heimat!« bemerkt Albrecht. »Aber nun ist der schwierige Umweg bald vollendet! Nicht mehr lange dauert's, so kommen wir an den großen See; dann ist noch ein Gebirge zu übersteigen – und dann geht es stromabwärts, zu unserer guten Mutter . . . Wolle Gott, daß sie sich über uns nicht zu Tode gehärmt hat und noch an dem Kind ihre Freude haben kann!«
»Amen!« haucht Gertrud. Und wenn sie auch die Hände, die ihr Kleines halten, nicht falten kann, so faltet doch ihre Seele betend die Hände. Beide fangen sie, nun sie selber Vater und Mutter geworden sind, wie von ferne an, das Elternschicksal zu begreifen.
Sie wenden sich von der einst so verlockenden Fremde, welcher sie seit Monaten den Rücken kehren, immer mehr auch in ihrem Denken und Fühlen ab und sind nur noch darauf bedacht, das junge Leben, das Gott ihrer Liebe geschenkt hat, aus den Gefahren der Welt in jene sichere Hut zu bringen, in welcher sie selber heranwuchsen. Gleich jenem heiligen Ehepaar, welches in grauer Vorzeit das Christusknäblein vor dem Grimm des um seine Macht besorgten Königs nach Ägypten flüchtete, so flüchten auch sie ihr unschuldiges Kind aus den blutigen Händeln einer in ihren dunklen Wahn verstrickten Menschheit in die holde Stille der Heimat, mögen sie immerhin derartige Bedrohungen ihr nur deshalb fern glauben, weil sie selber als Kinder nie etwas von ihnen hörten. Sorgfältiger führt Albrecht den unermüdlichen Esel durch die mehr und mehr sich verbreitende Dunkelheit; und inniger, wärmer preßt 315 Gertrud das junge, still und süß atmende Wesen an ihr Mutterherz – denn wer kann von einem Menschenkindlein sagen, ob nicht gerade es dereinst dazu berufen sein wird, in die Stapfen desjenigen zu treten, der sich des Menschen Sohn nannte und Gottes Sohn war, um aus dem großen Lichte, das mit ihm einst in die Welt trat, seinen immer noch in Finsternis ringenden Brüdern und Schwestern eine neue Erleuchtung zu bringen?