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In dem waldigen, von Bächen durchrauschten Gebirge, das sie als letztes Hindernis von dem Meere trennt, halten sie Rast, obschon sie ihre Ungeduld kaum mehr zügeln . . .
»Das war doch noch eine schöne Zeit, als wir mit unserm jungen König im Reifenkarren durchs Land zogen!«
»Kam uns damals nicht so vor! Und war auch nicht nötig, daß wir uns nach seinem Tode lange mit der Komödie abplagten, statt an unser eigenes Fortkommen zu denken. Noch jetzt wollen sie immer wieder irgendwo den Karren gesehen haben und glauben steif und fest, daß, wenn er am Meeresstrand angefahren kommt, die Wasser sich teilen werden und eine hohle Gasse bilden bis nach dem heiligen Land . . .«
»Soviel ist wahr: Schlimmer als wir konnten auch die Juden von den Ägyptern nicht verfolgt werden! Aber damals geschahen Wunder; heute geschehen keine mehr. Heute darf man nur noch an Wunder glauben . . . Möchte wissen, wo Otto, Reinhold und Anton geblieben sind, als dieses Gesindel über uns herfiel, wie wir eben glaubten, mit den Schneebergen das Schlimmste hinter uns zu haben!«
»Sieh, dort kommt eine neue Schar die Schlucht heraus! – Denen wollen wir uns anschließen und dann gemeinsam mit ihnen weiterwandern . . . Wenn auch das Meer sich nicht 408 auftut, so nimmt uns doch gewiß ein Schiff auf; und unsere armen Beine haben endlich Ruhe . . .«
»Wie du das so zuversichtlich sagst! – Ich glaube es nicht mehr. Mir scheint dieses Gebirge noch rauher zu sein als die Alpen!«
Jetzt schwenken die Ankömmlinge um die letzte Biegung des Saumpfades herum und nähern sich matten Schrittes ihren rastenden Schicksalsgenossen. Kaum ein lauter oder auch nur stiller Gruß wird zwischen ihnen gewechselt: diejenigen, die eben stundenlang bergauf gestiegen sind, haben die Kraft nicht mehr dazu; denjenigen, die schon geraume Zeit auf der felsigen Alpmatte ausruhen, ist der Anblick erschöpfter Nachzügler ein zu gewohntes Schauspiel, als daß es noch Eindruck auf sie machen könnte. Sie wissen alle, daß die eigenen Augen ebenso tief in ihrem Schädel liegen und ebenso flackernd blicken wie die Augen derer, in die sie stumm und trostlos hineinschauen . . .
Da springt der eine der beiden Rastenden auf und redet einen der Vorbeisteigenden an.
»Otto, du lebst noch?«
Der bleiche Bursche nickt sonderbar bejahend.
»Und Reinhold und Anton?«
»Sind eines Morgens nicht mehr aufgestanden . . . Tot . . . – Grüß dich Gott, übrigens!«
Er streckt ihnen die Hand entgegen. Aber sie denken noch an Reinhold und Anton. Grüßen im Geiste die Erlösten.
»Und das sagst du so gleichgültig?«
»Ist es denn nicht gleichgültig? Man gewöhnt sich daran, zu verlieren. Zuerst die Kameraden, dann die eigene Kraft, und zuletzt das Leben . . .« Er blickt auf einmal in die Ferne; und seine Stimme sinkt zum sehnsüchtigen Flüstern herab. 409 »Wenn ich daran denke, daß ich einmal ein Heim gehabt habe: ein Strohdach bis zum Himmel hinauf und bis zur Erde herunter; einen Stall voll glänzender Rinder und Kühe; mit dem herrlichen großen Nußbaum davor, der mit seinen Ästen über Haus und Scheune weglangte; mit den schönen, fruchtbaren Äckern rings herum, wo reichlich Brot für uns alle wuchs – und daß ich hätte darauf Herr und Meister werden können . . .« Dann reißt er sich plötzlich zusammen und gibt ihnen die Hände: »Wahrlich, ich bin erstaunt, daß ihr zwei es schon bis hierher gebracht habt! Hab' euch auch zu den Toten gezählt . . . – Hast du mir nichts zu essen, damit ich's noch bis ins heilige Land aushalte und meiner guten Mutter einen Splitter vom Kreuz Christi bringen kann?«
Er lächelt irr und bitter vor sich hin; und sie teilen mit ihm das Wenige, das sie selber haben, und versinken zuletzt alle miteinander in dumpfes Sinnen. In der Tat: Hätten sie einander nicht mehr begegnet, so wäre auch das gleichgültig gewesen – drüben in der andern Welt wird auf alle Fälle der Sammelplatz sein! Und sie blicken über die nahen waldigen Hänge hinweg, zu den fernen, im Sonnendunst sich auflösenden Bergzügen hinüber und in den Himmel hinauf; und haben alle das dunkle Gefühl, daß sie langsam zu diesem Erdendasein hinausgedrängt werden . . .
Aber vorerst müssen sie sich noch einmal auf die Füße zwingen: und so ziehen sie denn alle miteinander weiter über den Höhenrücken; und überall, wo ein Seitenweg einmündet, stoßen neue Kinderscharen zu ihnen. Ein Zug von Hunderten, Tausenden bewegt sich über diese schmalste und doch immer noch so breite Stelle des Apenninengebirges und drängt mit Leib und Seele dem großen Seehafen entgegen, von welchem ihnen die Leute 410 gesagt haben, daß er nicht mehr ferne ist, und wo alle ihre Leiden ein Ende nehmen sollen. Noch eine Nacht armseligster Unterkunft: dann erheben sie sich mit größerer Hoffnung denn je aus ihrem todähnlichen Schlafe und mühen sich mit ihren Kreuzen und Fahnen die letzte Anhöhe hinan, wo plötzlich die Vordersten stillestehen und betroffen vor sich hinschauen.
Am Fuße steil abfallender Hänge liegen, von einem eckig ein- und ausspringenden Mauerband umfaßt, wie ein Häuflein dichtgedrängter heller Würfel die Häuser einer mächtigen Stadt. Nach beiden Seiten verläuft eine schön geschwungene Einbuchtung, die wie mit hoch und weit ausgestreckten Armen ein zu tiefstem Farbenton geronnenes Himmelsblau in sich einfaßt, als ob das Firmament sich auf wunderbare Weise in die Erde eingesenkt hätte. Und gleichzeitig, wie das Auge an diesem vorgewölbten Busen die flimmernd erschauernde Bewegung wahrnimmt, welche die auf dem Wasser hinstreichenden Winde verursachen, sieht sich der begreifende Geist hinausgerissen in eine ungeheure, silbern hinschmelzende Ferne . . .
»Das Meer!« schreit ein Knabe auf und weist mit der Hand hin. »Das Meer! Das Meer!« wiederholen die andern Kinder, recken die Köpfe und verwerfen die Arme und zeigen einander die blaue Unendlichkeit, die nicht mehr Erde und doch noch nicht Himmel ist. Mehrere Mädchen stürzen, wie vor etwas Göttlichem, in die Knie und stammeln aus den Schmerzen ihrer wunden Füße heraus, unter hervorbrechenden Tränen: »Gelobt sei Jesus Christus, Amen!«
Und während jetzt, nach dem ersten freudigen Erschrecken, alle in heiligem Staunen verstummen und erstarren und die Blicke auf der hoch oben verduftend durchziehenden Horizontlinie wie auf einer Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits 411 ruhen lassen, pflanzen sich in ihrem Rücken die aufgeregten Rufe und Winke immer weiter in die nachsteigenden Scharen hinunter fort, gleich als ob, durch die schauenden Augen der Vordersten hindurch, eine erste Welle des ewigen Weltwunders in ihre sehnsüchtigen Seelen einflutete . . .