Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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27. Die kerzentragenden Kinder

Kein Lüftchen weht über dem frisch aufgerissenen Acker. Die feuchte, tiefbraune Erdscholle ist unter der heißen Nachmittagssonne an der Oberfläche hellgrau geworden. Das Feld haucht die Kraft des Bodens noch in die Abendkühle hinein.

Unter einem verblühenden Apfelbaum sitzt der junge Bauer mit seinem Weib, seiner Mutter und drei Knechten; in der Nähe steht der Pflug mit den Ochsen. Sie trinken Most und essen von dem Brot, das ihnen eben diese Erde letztes Jahr brachte: mit harten, schwieligen Händen brechen sie die Krume, schieben die Stücke zwischen die Zähne und schauen schweigsam kauend nach der Straße. Alle ihre Glieder sind voll und schwer von der Arbeit, die sie getan haben.

Unter den süßduftenden Ästen durch, von denen die Schollen dann und wann rötlichweiß beschneit werden, sehen sie über der Straße drüben den alten Nachbar mit seinen fünf erwachsenen Söhnen die Karste schwingen: die machen immer erst eine halbe Stunde später als andere Feierabend. Aber was hält jetzt der zu äußerst links, der einen Ruf der Verwunderung ausstößt, das erhobene Werkzeug wie gebannt in der Luft, worauf auch die andern mit ihren sonst taktartig nachfolgenden Hieben 335 erlahmen? Und jetzt stützen sich alle auf die vorgestemmten Stiele und schauen regungslos in die Weite: es ist, als ob eine unsichtbare Hand in dieses Uhrwerk menschlicher Geschäftigkeit hineingegriffen und es zum Stillstand gebracht hätte.

Auf der Straße ist in einiger Entfernung ein Trüpplein weißgekleideter Kinder erschienen. Wie kleine Prinzen und Prinzessinnen bewegen sie sich in ihren Festgewändlein durch den Staub; in den Händen aber halten sie mit fast klösterlicher Ehrfurcht brennende Wachskerzen aufrecht, ängstlich darauf bedacht, daß von den kaum sichtbaren Flämmchen keines der Luftzug ausblase. Wenn es trotzdem immer wieder, bald diesem, bald jenem geschieht, so stehen sie jeweilen alle still, stellen sich eifrig um den unglückseligen kleinen Kerzenträger herum und suchen mit ihren brennenden Flämmchen sein erloschenes wieder zum Leben zu erwecken.

Die Kinder sehen nichts anderes, wissen nichts anderes. Von weitem gleicht ihr Zug einem langsamen Tänzchen, in welchem paarweises Vorwärtsschreiten mit runden Reigen abwechselt: es sind kleine Frühlingsgeister, welche den vollen Glauben an die Sonne haben, nicht an den Abend denken und sich der Nacht wegen nicht eilen. Wie sie jetzt in die Nähe des Apfelbaumes kommen, sehen die Leute ihre lieblichen Gesichter und zartfingerigen Händchen, aber auch ihre heiter und froh glänzenden Augen, die bald von Löcklein umkraust, bald von Strähnen umhangen sind und nur auf die brennende Flamme vor dem ungeputzten Näschen schauen.

»Was sucht ihr, Kinder?« fragt das junge Weib mit dem roten Kopftuch.

»Gott.«

»Wo geht ihr denn hin?« ruft drüben der Alte hinter seinem Karst hervor.

336 »Zu Gott.«

»Und was wollt ihr bei Gott?« fragt das Weib wieder und streckt die Arme aus, wie um eines der Kinder für sich zu behalten.

»Seine Engelein sein.«

Sie sind vorübergezogen, ganz in den Bannkreis eingeschlossen, der mit ihnen wandelt und alles Irdische von ihnen fernhält.

Die Bauersleute starren ihnen nach und staunen noch über das selige Lächeln auf ihren Lippen, wie sie schon von ihnen nichts mehr sehen als von hinten ein paar Ringellöckchen oder seidenfeine blonde Haarsträhne. Woher kommen sie? Sind sie von einer größern Schar der überall das Land durchziehenden Jugend abgeirrt, ohne es selber zu merken; oder suchen sie erst Anschluß bei einem größeren Zug? Wer aber gab ihnen die Kerzen in die Hand und wer stellte sie auf den Weg? Sie sind erschienen wie aus der Kirche; und sie verschwinden jetzt, da die Straße unfern über eine Bodenwelle läuft, wie in den Himmel hinein.

Zwischen den Leuten liegt wieder die leere Straße, mit dem von tiefen Karrengeleisen gekneteten, trocken zu Staub zerfallenden Kote. Allmählich sind ihre Blicke aus der Himmelsweite zurückgekehrt, als ob sie einem Trugbild nachgeschaut hätten, und begegnen sich gegenseitig aus ungläubigen Mienen heraus: aber noch steht ihnen vor den Augen des Geistes das rührende Bild, das ihr leibliches Auge nicht mehr wahrnimmt und fast nicht mehr glauben kann. Und plötzlich entsinnen sie sich, daß sie vergessen haben, diesen Kindern, welchen die Tore der Seligkeit nicht verschlossen bleiben können, Gebete für ihr eigenes Seelenheil aufzutragen.

»Bittet für uns!« ruft das junge Weib, mit gefalteten Händen in die Knie fallend. Sie streckt sehnsüchtig die Arme nach den Entschwundenen aus und schreit nochmals unter lautem Aufweinen: »Bittet für uns, ihr lieben, süßen Kleinen!« Dann fährt sie sich mit den Händen in die Haare, schaut irr um sich und fragt: »Oder habe ich wieder nur geträumt? Ich träume soviel von einem Kindchen . . . Sagt mir's doch!«

Doch auch die andern sind in die Knie gesunken und beten über ihre verschlungenen Hände hinweg. Vom Himmel, wo die Sonne sich dem Horizont entgegen neigt, leuchtet ein purpurner Schein auf die blühenden Bäume herab. Weit hinter der Hügelwelle läutet ein Vesperglöcklein.

»Du hast nicht geträumt. Es waren Kinder!« sagt der Bauer, aus dem Beten heraus. Und auch das Weib murmelt jetzt ein Ave Maria. Und weint wieder dazwischen.

»Es waren sieben schneeweiße Kinder!« spricht drüben über der Straße der Alte, umgeben von seinen fünf Söhnen, in die Stille des Abends hinein. »Und alle trugen sie Kerzen! Brennende Kerzen!«

 


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