Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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16. Gerolds Schwermut

Der Pfaff hat sie eingesegnet: sie sind ein Paar; und niemand hat mehr dawider zu maulen. Weder seine Angehörigen in Thüringen, die ihn nach Frankreich schickten, damit er dort Lebensart lerne – und wo er das Leben fand –; noch ihre zahlreichen Verwandten, die sie beharrlich meiden, weil sie sich erlaubte, der Burg – und ihrem Herzen – einen neuen Herrn zu geben! Und wie sollten sie selber es empfinden, daß die Welt sie allein läßt, wo sie sich gegenseitig eine Welt bedeuten?

Was war dieser erste Winter für eine stille Liebesfeier! Noch ritten sie einige Male durch die Wälder, welche Frau Adelheid zuletzt so oft allein, Gerold früher nur mit dem Grafen 323 zusammen durchstreift hatte; dann brach der stürmische Spätherbst herein, raffte rauh und kalt das braunrotgoldene Laub von den Bäumen; und Schnee und Regen trieben sie alsbald in die Burg zurück, in deren dunklen Gängen sie sich oft mit einem Lächeln begegneten, anhielten und der Zeit gedachten, wo sie nur so ihr Geheimnis wahren konnten, daß sie an ihm hochmütig, er an ihr ehrerbietig vorüberging. Nun gab es kein anderes Geheimnis mehr für sie als ihre Liebe, welche einem Brunnen glich, den sie niemals leer und an dem sie sich niemals satt zu trinken vermochten, sondern zu dem sie sich mit immer neuer Sehnsucht niederbeugten, um in ihm – mit immer neuem Glück gespeist aus den unbegreiflichen Tiefen ihres Wesens – den Quell der Kraft randvoll zu finden.

O diese stillen Abende, wenn sie sich beide, von den Geschäften des kurzen Tages herkommend, am flackernden Kamin zusammenfanden und sich müde in seinem roten Scheine niederließen! Da lag sie denn auf der einen Seite der knatternden Glut, halb an den Pfühl des Lagers angelehnt und das Haupt in die aufgestützte Hand geschmiegt, und hielt die dunklen Augen nur auf ihn, auf ihn geheftet, den das Wunder einer doppelten Schicksalsfügung ihr für immer geschenkt und zugeführt hatte, während sie selber nichts sein wollte als ein Weib, das genommen wird und sich selige Beute fühlt. Er aber starrte auf der andern Seite in die Flammen, sah in ihnen, die sich vor seinem Schauen ins Ungeheure dehnten, Städte zerfallen, Burgen abbröckeln, Menschenleiber hinwegschmoren; und wußte doch vor all diesen Bildern einer aufrührerischen Erinnerung, daß eine kleine Wendung des Blickes genügte, um ihn zum Bewußtsein der Gegenwart zurückzuführen, wo eine holde Frau bereit war, ihn mit eben so süßen als starken Armen zu umfangen und die vor seinem 324 geistigen Auge auftauchenden Dämonen des Entsetzens an ihrer treuen Brust zu ersticken.

Der Winterschnee schwand; allenthalben sproßte Frühlingsgrün hervor. »Seht doch unsere Herrin!« ging oft ein Geflüster durch das Gesinde, wenn Frau Adelheid des Morgens aus dem Schlafgemach herunterkam und mit ihren dunkel glänzenden Augen, weiß leuchtenden Wangen und rot prangenden Lippen den eigenen Lebensfrühling wiedergefunden zu haben schien. Und ihr selber war zu Mute wie einer glühenden Rose, die endlich in der Sonne ihre tiefste Blütenfülle erschlossen hat und über sich wie über ein Wunder erstaunt; und all ihr Glück wandelte sich je und je in die dankbare Fürsorge um, mit der sie den Jüngling-Mann an ihrer Seite umgab.

Gerold jedoch versank immer aufs neue in jenes Nachdenken, in welchem eine anklagende Verzweiflung über den Menschen Macht gewinnt; und zuletzt konnte sie sich nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß sie in seiner Seele gegen einen furchtbar hereinragenden Schatten anzukämpfen hatte, vielleicht mit ihm um ihn selber zu kämpfen haben würde. Wie er damals mit der toten Isa im Sattel durch das von der Sonne versengte, von brenzligen Rauchschwaden überlagerte Ketzergefilde geritten war, ehe er den Ort fand, wo er sich der Leiche entladen und sie begraben konnte, so trug er nun auch das vergangene Erleben mit sich herum, vermochte es nicht von sich abzuschütteln und es in Vergessenheit zu bestatten, und wurde so langsam von ihm vergiftet. Versiegt war der gesunde Quell der Kraft, welcher das Erlittene allmählich aus der Seele fortspült und sie der Gegenwart wie der Zukunft als reiner Spiegel erhält.

Dieses Schicksal erfüllte sich um so sicherer an ihm, als es für ihn nichts mehr zu erringen gab. Nicht nur war auf die 325 gefahrvolle Abenteuerfahrt des Kreuzzuges statt dem erwarteten Zweikampf mit einem mächtigen Nebenbuhler ein Dasein in der ruhigen Sicherheit einer festgebauten Burg gefolgt: auch seine Liebe kannte nicht das zweifelnde Hangen und Bangen, das aufreizende Erraffen und Entschwinden, wie es zweien im April des Lebens stehenden Menschen eigentümlich und bekömmlich ist, sondern sie ruhte in der mütterlichen Weisheit einer ihre Reife überlegen verschenkenden Frau wie in der Sommersonne, die herrschend im Zenith steht und doch allem Wachsenden, Blühenden dient. Es kam ihm gar nicht erst zum Bewußtsein, mit welch feinem Gefühl Frau Adelheid Flut und Ebbe seiner Liebeskraft vorauserriet und mit einem anfeuernden Blitz ihrer Augen oder einem sanft wehrenden Lächeln ihres Mundes Sturm und Stille darnach verteilte; und eben dieses ruhige Wellenspiel ereignisloser Tage, Wochen und Monate, das selbst in seinen stärksten Ausschlägen bei ihrer gegenseitigen Rücksichtnahme ohne eigentliche Erschütterung dahinglitt, gab all den furchtbaren Erfahrungen, welche einst drangvoll überstürzt in sein junges Gemüt eingebrochen waren, die verhängnisvolle Möglichkeit, immer wieder an die Oberfläche des Bewußtseins emporzusteigen, von ihr mehr und mehr Besitz zu ergreifen und so sein ganzes Wesen in steigendem Maße zu durchwuchern und zu durchsetzen.

»Wieviele mögen jetzt noch unterwegs sein und weder die Heimat der Seele noch die Heimat des Leibes jemals finden!« Diese Frage trat ihm mehr als einmal über die Lippen, während sie Schulter an Schulter vom Fenster aus die blühende Pracht der Apfelbäume betrachteten oder nebeneinander durch die sommerlichen Fluren schritten; und Frau Adelheid mußte mit Schmerzen erkennen, daß er durch den großen Schicksalszug, 326 welchem sie ihn einst in der Verwirrung ihres Herzens überlassen hatte, selbst jetzt noch mit all jenen andern Unglücklichen verknüpft blieb und dadurch immer noch und immer mehr ihre Leiden nach- und mitfühlte, ob er auch schon längst seinem äußeren Zwange enthoben war. Und endlich kam der goldene Herbst wieder und mit ihm doppelt mächtig die Erinnerung an die Zeit, wo er der Welt den Rücken gekehrt hatte und in ihre Arme zurückgeflohen war, welche ihm offener standen, als er glaubte hoffen zu dürfen . . .

So ist – wenn sie jetzt zurückblicken – das erste Jahr ihrer Liebe gewesen! Wie ein holder Traum ist es vorübergegangen und doch getrübt von einer dunklen Qual, die beharrlich in seiner Seele großwächst. Frau Adelheid fühlt sich in ihrem Glück wie gestählt gegen alles, was die Welt noch Häßliches und Niedriges enthält; Gerold aber wird von ihm immer mehr erweicht und steht zusehends hilfloser der Unfaßbarkeit alles Geschehens gegenüber. »Wie ist es möglich, daß wir uns so unaussprechlich lieben; daß wir ganz Eins geworden sind – und daß doch die ganze übrige Menschheit sich befehdet und sich wie in einem Tollhaus zerfleischt!« Und er lehnt vor dem Kaminfeuer das Haupt an ihr Knie und lauscht den abermals nahenden Winterstürmen entgegen, während er mit seiner großgewordenen Frage, die stärker sein wird als er selber, in die prasselnden Flammen hineinstarrt.

Und immer häufiger kommt es jetzt vor, daß er des Nachts laut im Traume spricht, sich gar schlafwandelnd erhebt und mit Worten und Gebärden noch einmal die tote Isa vor sich liegen sieht, ihr noch einmal das Grab gräbt; oder daß ihn im innerlichen Bilde plötzlich wieder erlebte Greueltaten bedrängen, welche ihm jede geistig geformte Rede verschlagen und 327 ihn nur in ein langes, furchtbares Schreien ausbrechen lassen. Dann führt Frau Adelheid in der Einsamkeit ihrer Burg den Kampf der Liebe gegen das Schicksal! Sie umfängt den Verwirrten, den nichts aufzuwecken vermag, wie einen Sohn und wartet geduldig, bis in den zuckenden Leib an ihrer Brust die ihm und ihr entfremdete Seele allmählich wieder zum Bewußtsein der Gegenwart zurückgekehrt ist. Und wenn er endlich erschöpft, aber doch in natürlichem Schlafe daliegt, betrachtet sie wie eine Mutter sein Antlitz, in das sich immer tiefer ein leidender Zug eingräbt, und fragt sich schaudernd, ob ihr etwa dafür, daß sie einst ihrem Ehegatten den Tod wünschte, jetzt der Geliebte ihres Herzens entrissen werden solle.

Am Tage (wo Gerold sich kaum je seiner nächtlichen Entrücktheit erinnert) mag es ihr wohl gelingen, das alte Liebesglück neu zu entflammen und sich in der schönen Täuschung zu wiegen, die Kraft des Mannes habe sich auch wieder seiner Seele mitgeteilt. Aber bald einmal will es ihr scheinen, als fange er an, diesen Augenblicken der Selbstvergessenheit auszuweichen; und die Stunde kommt, wo ihr heißer Mund umsonst auf seinen Lippen ruht und ihre Nasenflügel, die sich in andächtiger Erregtheit auf und nieder bewegen, vergebens versuchen, in ihm den süßen Quell der Lust zu erschließen. Und bei einem solchen Versagen ist es, daß er ihr, während er immer noch matt im Sessel zurückliegt und in den grauen Tag hinausschaut, mit einem Lächeln, das um Verzeihung bittet, seinen Zustand offenbart.

»Begreife mich, Liebste!« flüstert er, mit den Händen sich über Brust und Flanken streichend. »Mir ist, als sei hier alles offen und wund; und als dränge alle Vernichtung, die in der Welt geschieht, in mich herein. Ich bin mit jeder Pore meines 328 Wesens, des Leibes und der Seele, schmerzhaft sehend geworden und kann mir nicht länger die Einsicht fernhalten, daß alles Leben früher oder später in den sinnlosen Wirbeln der Zerstörung endet. Und ist vielleicht das, was wir Liebe nennen, in Wahrheit etwas anderes als die verruchte Anstrengung, dafür zu sorgen, daß dieser teuflischen Weltmühle das Korn nicht ausgeht? Und wäre es nicht besser, es ginge ihr aus? und zwar so bald als möglich? Mich dünkt fast, nicht Gott kann uns Menschen, sondern wir Menschen sollten Gott erlösen, indem wir selber Nein sagen zu etwas, das nur Qual ist und nur den Tod vor sich sieht! Und siehst du: Ich glaube, das ist der wahre Grund, warum Tausende sich nach dem heiligen Lande aufmachten, wenn schon die meisten es nicht wußten. Sie wollten sich opfern! Sie wollten das Ende nicht mehr erleiden müssen, sondern selber ein Ende machen! Für sich und alle, die noch kommen könnten . . .«

Solche Reden, in denen wirklich ein Echo dessen nachhallt, was so viele der in frommer Begeisterung Ausgezogenen zuletzt an sich erfuhren, führt er nun immer öfter vor ihr, ein vorzeitig von Erlebnis und Erkenntnis Getöteter; aber obschon sie sich entsetzt fragt, ob er aus dem Lande der Ketzer selber als ein Ketzer zurückgekehrt sei, fühlt sie doch in sich die Bereitschaft, ihr eigenes Seelenheil dahinzugeben, wenn sie nur seine Seele wieder in Licht und Lust emporheben könnte. Wie wenig sie auf eine solche Wendung hoffen darf, das sieht sie freilich je länger je mehr aus den Gesichtern ihrer Leute, welche immer lauter von der Strafe des Himmels munkeln, von welcher auch geheimgehaltene Sünde eines Tages offensichtlich heimgesucht werde; und langsam muß sie erkennen, daß sie es ist, die allen als Trägerin des Unheils gilt, und daß ihr in demselben Maße, in welchem 329 ihr Glück verwelkt, auch Achtung und Ehrerbietung entzogen werden. In nicht mehr weiter Ferne taucht vor ihr der Tag auf, wo sie in dieser Welt allein dastehen und an ihr selber die Wahrheit jener Erkenntnis sich bestätigen wird, welche Gerold immer mehr die Seele versengt und seinen Geist – ihren Armen, ihrer Liebe, ihrer Hingebung täglich weniger erreichbar – rettungslos in der ewigen Dunkelheit versinken läßt. . . .

 


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