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Wie flimmert der See so falsch zwischen den hohen Bergwänden! Wie trügerisch klar blaut der Himmel darüber mit seinen weißen Wolkenfischen! Gott sei Dank, daß sie herein sind . . .
Der Nachen fährt hinter die Steinwehr und an den Strand. Aber was trägt der Mann über Kisten und Säcke hinweg und legt ihr's noch vor dem Grüßgott in den Arm? Ein schlafendes Kind ist's, das mit dem rechten Fäustchen fest in ein Halskettlein greift, während ihm über der verzagten Zahnlücke an Stelle der geschlossenen Augen ein gläubiges Stumpfnäschen in die Höhe guckt, zusammen mit dem Zopfschwänzchen davon überzeugt, daß alles gut gehen wird.
»Das will auch über den Berg. Nach Rom, zum heiligen Vater. Und was weiß ich: noch weiter, ins heilige Land! – Sie haben's, als es vor Müdigkeit einschlief, einfach zurückgelassen! – Und auch auf dem Schiff sind ihm alsbald wieder die Augen zugefallen . . .«
»Herjeses! Schon gestern sind ganze Scharen angekommen und weitergezogen. Sie waren wie in einem Rausch und haben sich nicht berichten lassen, daß das Wetter ändern will. Die kommen heute sicher nicht mehr bis zum Hospiz . . . Da dieses Chrötli aber soll mir zuerst einmal ausruhen; und dann mag's der Bruder hinübersäumen, wenn's denn so sein muß!«
Und während der Himmel plötzlich fahl erbleicht vor dem Föhnnebel, welcher die Sonne umspinnt, und der See im Nu 386 verwandelt finster zu brodeln anfängt, schreitet sie mit dem todmüden Kind an der breiten Brust ihrem Hause zu, wo ihr die eigenen fünf aus der Türe entgegenspringen und an ihr vorbei nach dem Vater ausäugen, ob er ihnen wohl etwas mitgebracht habe. Und bis die Waren ausgeladen sind und der Mann nachkommt, saust und pfeift schon der Sturm um die Blockwände und über das mit Felsstücken beschwerte Dach hin und wird es Nacht vor der Nacht in der niedrigen Stube, in welcher die Kinder jetzt alle das fremde sechste betrachten, das so unvermutet und auf ganz andere Weise als die übrigen angekommen ist. Endlich ist es erwacht und sitzt mit der ganzen Familie am Tisch, auf welchem die abendliche Breischüssel steht und zum Zugreifen einlädt, während draußen in Fluten der Regen an die Fenster peitscht . . .
»Nun sag einmal: wie heißt du?« fragt die Mutter, nachdem das kleine Mädchen eine Schale Milch ohne abzusetzen ausgetrunken hat.
»Regula.«
»Und wohin willst du?« Alle schauen auf die Zahnlücke und horchen lautlos, ob es wirklich wahr sei –
»Nach Jerusalem.«
»Aber wozu denn?« Und ein jedes von ihnen lauscht noch gespannter wie auf eine Offenbarung –
»Damit der Herr Jesus macht, daß die Großmutter wieder besser schnaufen kann.«
Da drücken sich die andern Kinder scheu von dem mutigen Mädchen weg in dem Gefühl, daß sie so etwas nie zu vollbringen vermöchten. Die Mutter aber schickt sie vollends ins Bett, damit sie mit ihrem Mann, der nachdenklich über den Tisch gebeugt dasitzt, sich besser bereden kann. Und sie krabbeln 387 langsam auf das Lager hinter dem Vorhang, um dort von Zeit zu Zeit neugierig hervorzugucken.
Auch Regula rutscht jetzt vom Stuhl herunter und tritt zu der Frau, die so gut mit ihr gewesen ist. »Da nimm!« sagt sie ernst und drückt ihr mit ihrem Patschhändchen etwas in die hartgearbeiteten Finger. Es ist ein schöner, weißer, perlfarbener Milchzahn.
Sie hält ihn noch in der Hand, nachdem sie Regula ebenfalls zur Ruhe gebracht hat und zu ihrem Mann zurückgekehrt ist. Muß eine Frau, die fünf Kinder geboren hat, sich nicht für jedes Kind als Mutter sorgen? Ein warmes Gefühl sagt ihr, daß sie es nicht wieder den Fährnissen der Wanderschaft aussetzen sollte. Und dennoch –
»Behalten können wir's nicht. Wir haben schon mehr als genug!« seufzt sie betrübt. Und lächelt dann doch wieder über den Zahn, den sie wie ein Gastgeschenk vor sich hinlegt. Wie mancher ist ihr schon von ihren eigenen dargebracht worden!
»Dürften wir's überhaupt?« murmelt der Mann in die regendurchrauschte Stille hinein. »Es wird wohl Gottes Wille sein, daß so ein Kind immer wieder gute Menschen findet, die ihm weiterhelfen. Tun wir darum nichts anderes, als was Gottes Wille ist: sehen wir zu, daß es heil über den Berg kommt . . .«
Die Kinder schlafen alle; ihre eigenen so gut wie das fremde. Sie sitzen noch eine Weile beisammen, bevor auch sie das Lager aufsuchen: es ist zwischen Tag und Nacht die einzige Feierstunde, wo sie wissen dürfen, daß sie zueinander gehören. Und sie empfinden es heute um so mehr, als ihre Gedanken bei der in Gefahr über die Berge schweifenden Jugend sind, deren Sehnsucht noch kein eigenes Heim kennt – so wie sie keine Sehnsucht mehr kennen. 388