Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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5. Der Kinderkönig

So fährt der halblahme Knabe Nikolaus auf seinem Karren über Land. Er selber glaubt von jedem blühenden Bäumchen an seinem Wege, es wimple ihm einen süßen Willkommgruß entgegen; und wo im weiten Umkreis ein Auge die allenthalben 256 lieblich sich entfaltende Frühlingsherrlichkeit in sich aufnimmt und das Herz sich dabei überlegt, was es von dem frommen Knaben und seinem Unternehmen hat verkünden hören, da wird in der hoffenden Seele der Glaube stark, daß dieser Frühling ein begnadeter Frühling sei. Ein Ruf von Heiligkeit geht immer mehr von dem vorrückenden kindlichen Anführer aus und läßt die Aufhorchenden seine Gestalt im lichten Scheine des Wunders erblicken.

Wie sollte er nicht in Jerusalem ein Friedensreich errichten können, wo ihm schon hier alle Tierlein zulaufen und zahm im Zuge mitwandern oder mitfliegen? Und ist am Ende in diesem gütigen Knaben nicht Jesus selber wieder in die Welt gekommen, um auch noch die unvernünftige Kreatur zu erlösen, die er das erstemal über den Menschen vergaß? Wenn er sich aber diesmal der Tiere erinnert, wird er da nicht auch an den Menschen jenes Nötigste nachholen, das selbst heute, nach mehr als zwölfhundert Jahren, an ihnen zu tun übrig bleibt?

Solche Fragen greifen wie Magnete über Berg und Tal, zerren die Hoffenden und die Gläubigen und alle Neugierigen aus ihren Schlupfwinkeln hervor und stärken ihnen die Beine so lange, bis sie dem kleinen Kinderkönig in Wirklichkeit begegnen

Freilich: Damit, daß sie endlich von weitem seinen rund überdachten Wagen gewahren, welcher in der Menge der ihn umdrängenden Frommen sich dahinbewegt wie ein Schiff in der Flut, stehen sie ihm noch lange nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber; aber bis sie die ganze Schar der schon früher angelangten Andächtigen durchstoßen haben, fällt ihnen wenigstens dieses und jenes Wort über den jungen Heiligen ins Ohr. Wie er zu seiner Sendung kam? Einfach dadurch, daß er die Schafe, die er hütete, eines Tages nicht, wie er sollte, zur Schlachtbank 257 führte, sondern mit ihnen nach dem heiligen Lande aufbrach. Und da seien die Tiere dankbar vor ihm niedergekniet und dann fröhlich ihm vorausgetrippelt; und der Hund habe gegen jeden Fremden so furchtbar knurrend das Fell gesträubt, daß niemand ihnen ein Leides antat.

Seht, dort sitzt er! – Und dort sind auch die lieben Schafe und der treue Hund! – Nein, und die Tauben, die immer das Dach umflattern und sich zwischenhinein zum Ausruhen auf die Reifen niederlassen! – Aber jetzt hält der Wagen. Alles stellt sich im Kreise um ihn auf. Kommt, kommt, daß wir in der vordersten Reihe Platz finden! – Ach, ist das eine magere Kuh, die da vorgespannt ist! Aber sie freut sich, daß sie den frommen Knaben nach dem heiligen Lande ziehen darf. Und dort, vor ihr am Boden, liegt der Hund, streckt die rote Zunge heraus und blinzelt mit vergnügten Augen in die Sonne! – Ist es möglich: Jetzt pfötelt eine Katze herbei, richtet sich an ihm auf und leckt ihm das Ohr! Und was kommt da zwischen die Hörner der Kuh geflogen? Ein Rabe mit einem großen Brocken im Schnabel. Und jetzt flattert er zum Hund hinunter und gibt ihm den Brocken; und der Hund und die Katze teilen sich friedlich darein! – Wie listig glänzen die großen Augen des Raben! Ist es nicht, als ob er und alle diese Tiere, die sich sonst bekriegen, ein Geheimnis wüßten oder sich seiner wieder erinnerten? Doch sieh da: Er fliegt auf die Hörner der Kuh zurück und dem frommen Knaben auf die Schulter! Und dort bleibt er wahrhaftig mit gesenktem Kopfe nicht anders sitzen, als erwartete er, daß sein kindlicher Gebieter zu reden beginne! – Und in der Tat: Spricht er nicht? – Still, still, daß wir ihn hören!

»Liebe Brüder in Christo! Was kommt ihr von allen Seiten und staunet mich an? Oder staunet ihr über diese Tiere, die so 258 friedlich nebeneinander leben wie einst im Paradies, als sie eben aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen waren? Wahrlich, wenn diese unsere armen Brüder in Feld und Wald sich an den großen Frieden erinnern, in welchem sie einst lebten, warum sollten nicht auch wir Menschen uns dieses Segens wieder entsinnen? Aber wehe: Wir haben uns weiter von Gott entfernt als hier diese stummen Geschöpfe, ob sie auch früher als wir erschaffen wurden; und wir vermögen, von uns aus, das Geheimnis nicht wieder zu finden! Und gewiß hatte es Gott einst auch uns in die Herzen gesenkt; und nur die Übermacht des Bösen hat es in unsern Seelen verschüttet, so daß wir es wieder suchen müssen. Zeugt uns aber dafür, daß wir uns auf dem rechten Wege befinden, nicht eben die Liebe und Anhänglichkeit dieser Tiere, die uns deshalb nach dem heiligen Lande begleiten, weil auch sie von Not und Tod erlöst würden, wenn nur erst wir Menschen davon erlöst wären? Und wo sollten wir auch das große Geheimnis der endlichen Erlösung eher finden als dort, wo unser Herr in Menschengestalt wandelte? Also zieht mit uns, ihr lieben Leute, nach Jerusalem, daß wir elenden Menschen den wahren Willen Gottes, den diese guten Tiere von sich aus ahnen, endlich erkennen und dauernd zu dem unsrigen machen! Das größte Leid der Tiere rührt von uns Menschen her, weil wir mit ihnen eben so schlimm verfahren wie mit uns selber; und so würden wir sicher auch liebreicher untereinander sein, wenn wir liebreicher gegen die Tiere wären. Seht, selbst von dieser Schlange, in deren Gestalt einst der Teufel Adam und Eva versuchte, kann ich nicht glauben, daß sie böse ist –«

Und die Vordersten nehmen mit Erstaunen wahr, wie er auf dem tischartigen Brett, das vor seinem Siechenstuhl befestigt ist, Milch in ein Näpfchen schüttet und wie eine große Ringelnatter, 259 die während seiner Predigt andächtig zu ihm aufzüngelte, sie demütig und dankbar zu schlürfen anfängt. Neben der Schlange reckt auf der einen Seite eine grüne Eidechse ihr kluges Köpfchen in die Höhe, als ob ihr seine Worte sänftigende Musik wären; auf der andern Seite ruht selig in sich aufgerollt eine Blindschleiche in der Sonne. Und gleichwie er eine Weile verträumt dem Gebaren und Gehaben dieser Tierlein zuschaut, so betrachten auch die Umstehenden voll Verwunderung das Schauspiel der frommen Einigkeit, das sie ihnen darbieten.

»Seht doch!« ruft da der lahme Knabe. »Man muß ihnen nur geben, wessen sie bedürfen: und sie sind vergnügt und zufrieden!« Er greift in einen Sack neben sich und wirft mit seiner schwachen Hand Körner über die Kuh hinweg, welche einen großen Bündel Heu vor sich am Boden liegen hat. »Und gibt es denn nicht genug Speise auf Erden, daß ihrer alle satt werden können?«

Da kommen, mit den Händen in den Hosentaschen, eifrig eine Menge rotbrauner Hühner dahergetorkelt, flattern dem lachenden Hund fast zwischen den weißen Zähnen seines aufgesperrten Rachens hindurch, ohne daß er sich im mindesten darüber wunderte, und fangen sofort emsig an zu picken. Es kommt mit Wichtigkeit eine gewaltige Henne angegluckt, umpipt von einem Dutzend goldgelber Küchlein, die wie willige Schulkinder zu ihrem lehrhaften Schnabel emporäugen und ihr jedes Picken und Scharren unverzüglich nachmachen; und ohne die Katze zu fürchten, die gelegentlich wie zum Scherz unter die gelben Vögelchen hineinspringt, spazieren sie um ihre Mutter herum, hüpfen und krabbeln ihr auf den Rücken hinauf und gleiten wieder über ihr glänzendes Gefieder herunter. Und endlich kommen vom Wagendach auch noch die Tauben angeschwirrt und teilen sich, 260 kaum daß es jemals eines mahnenden Schnabelhiebes bedarf, friedlich in das allgemeine Futter.

»Seid ihr nun alle satt, ihr lieben Tierlein? Können wir wieder weiterfahren nach Jerusalem?«

Freilich können sie! Die Kuh zieht an, der Karren rollt, die Schafe blöcken hintendrein; der Rabe flattert mit den Flügeln, der Hund macht bellend seine Freudensprünge, die Katze ist zu dem frommen Knaben emporgeklettert; die Hühner gackern und glucksen; die Küchlein hüpfen und pipen; und die Tauben umschwärmen das Reifendach. Alle die Knaben und Mädchen aber, die während des Aufenthaltes von den herbeigeströmten Zuschauern milde Reisegaben in Empfang genommen haben, recken wieder steil ihre Kreuze und Fahnen in die Luft, setzen sich ebenfalls in Bewegung und rufen gläubig jubelnd: »Auf, nach Jerusalem!«

Und so brechen sie durch den dichten Gürtel der Neugierigen hindurch, von denen die erst Hinzugekommenen sich ihnen eine Strecke weit anschließen, während diejenigen, die schon eine gute Weile mit ihnen gewandert sind, allmählich zurückbleiben und die wunderbare Kunde von dem Geschauten in ihre Täler und Hütten heimtragen. Je mehr sie sich von dem gütigen kranken Knaben entfernen, um so deutlicher glauben sie auf seiner Stirne den Abglanz jener Friedenskrone wahrgenommen zu haben, die er sich in Jerusalem auf das blasse Kinderhaupt setzen wird; und wo zwei und drei zusammen des Weges gehen, ist sein heiliger Geist in ihnen mächtig und tauschen sie untereinander die Frage: »Ja, warum können denn wir Menschen nicht den Frieden erlangen, der selbst den unvernünftigen Tieren möglich ist? Einige aber äußern auch besorgte Zweifel, wie sie auf dem Boden vielfach getäuschter Seelen aufzusprießen pflegen: »Ob sie wohl 261 bis nach dem heiligen Lande kommen werden? Wie krank und elend sah dieser heilige Knabe aus! Gewiß, er wird nicht lange mehr leben . . .«

Doch zuletzt sind es immer wieder einzelne rührende Bilder, die ihnen im Gedächtnis haften blieben und die sie sich stets aufs neue vergegenwärtigen, während sie schon lange wieder am eigenen Herdfeuer sitzen. »Ach, und da war ein kleines Mädchen, das seine alte, blinde Katze brachte und sagte: ›Mutter erlaubt nicht, daß ich selber mitziehe nach Jerusalem – aber nimm hier meine gute Lola mit, damit wenigstens sie erlöst wird‹ . . .« Und den staunenden Zuhörern wird der Wagen des armen Knaben Nikolaus immer mehr zu einer wunderkräftigen Bahre, auf welcher man so manches sterbenskranke Wünschlein seiner Auferstehung und Erfüllung entgegenführen könnte.

Weiter aber noch als diese ausführlichen Berichte von Augenzeugen dringt die eine große, allgemeine Kunde ins Land: Sie sind unterwegs! Der fromme Friedenskreuzzug hat begonnen! Mache sich auf, wessen Seele von der Sehnsucht wund ist, ihr Glück zu finden! Das ist der Tag des Herrn, der in keines Leben ein zweites Mal wiederkehrt!

 


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