Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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38. Das Friedensreich

Schwer vornübergebeugt mäht er die letzte Mahd auf der kleinen Waldwiese, über welche, wie über das gesamte übrige Gelände, die morgendlich klaren Mauern und Türme des nahen Städtchens eine geheime Aufsicht ausüben. Endlich haben seine braungedörrten, aber noch mit zähem Schwung ausholenden Arme, vor denen die taufeuchten Gräser und Kräuter im Takte niedersanken, die ganze sommerliche Herrlichkeit von Farben und Düften zu Boden gestreckt! Er wischt die Sense mit einer Handvoll Gras ab, legt sie mit dem Steinfaß zusammen in die Stoppeln und setzt sich auf einen flachen, trockenen Felsblock vor den dunklen Tannen, um seinen alten Leib mit Trunk und Imbiß zu stärken.

Und während er ungelenk und bedächtig aus seinem Säcklein ein Stück harten Brotes und ein Krüglein voll gebrannten Wassers hervorholt, verkünden fern über dem allmählich verflachenden, von Waldgruppen durchsetzten Wies- und Ackerland blutigrot erglühende Wolkenschiffe den Ort, wo die Sonne aufgehen will. Langsam malmen die zahnlosen Kiefer in dem runzeligen Gesicht, als nickte er noch nachträglich einen grinsenden Segen über die vor ihm hingemäht daliegende Blumenpracht; und aus fast erloschenen, in ihren Höhlen tief in den Schädel zurückgesunkenen Augen staunen die Blicke in einem gleichmütigen Abschiednehmen in die allzulang geschaute Welt. In ewig junger Schönheit – aber als ein Zauber, der für ihn keine Wirksamkeit mehr hat – entfaltet sich das Licht- und Farbenwunder des Horizontes.

447 Was blitzt dort auf der Straße, die sich zwischen Waldhügeln dahinschlängelt? Das werden, mit ihren Eisenhüten und Speeren, die Reisigen der Stadt sein, die dem reichbeladenen Wagenzug der heimkehrenden Kaufleute das Schutzgeleite geben gegen die Angriffe der Raubritter, die seit vielen Jahren kein König und kein Kaiser mehr in Schranken hält. O, wie elend sind doch die Nachfahren derer verkommen, die einst, auf den großen Kreuzzügen, in Glanz und Stärke nach dem heiligen Lande ritten! Das heilige Land? Damit lockt man keinen Hund mehr vom Ofen: niemand treibt es mehr, dort das Heil seiner Seele zu suchen. Die Welt ist mit einem Spinnennetz von Händlern und Krämern überzogen, die nur an die leibliche Wohlfahrt und Bequemlichkeit der Menschen denken; und auch das nur so lange und so weit, als sie dabei ihre eigenen Taschen füllen können . . .

Da nähert sich Pferdegetrappel durch den nahen Hohlweg in seinem Rücken. Ein weißer Zelter streckt den Kopf an den Waldrand hinaus und wird von seiner schönen Reiterin angehalten, noch bevor der nachfolgende Braune, der einen kecken Jüngling trägt, sich ihm beigesellt hat. Stephan bleibt regungslos sitzen und äugt zu den beiden hinüber, die stumm der Sonne zuschauen, wie sie sich eben goldig flammend und erste Blitze versprühend in diese Erdenwelt hereinwälzt. Ei, ei! Seine junge Herrin, das Waffenschmiedstöchterchen, und der Nachbarssohn!

»Sieh doch, wie schön!« Und ihre kleine weiße Hand weist in die Ferne, deren Widerschein ihr das blühende Antlitz, ja, die ganze schlanke, biegsame Gestalt verklärt und selbst ihr silberweißes Pferd mit einem Rosenschein übergießt. Es ist, als ob der junge Tag, die ganze Natur ihrer Jugend huldigte! Der 448 Jüngling aber betrachtet nur sie, die ihm vom wilden Feuerzauber des Lebens umwoben vorkommt und seine Leidenschaft mehr als jemals anstachelt . . .

»Agnes, sag ein Wort – und wir fliehen aus diesem verfluchten Nest davon, soweit uns unsere Tiere tragen!«

Durch Stephan geht es wie ein Ruck. Sein altes Herz klopft noch einmal stärker und schneller: wie aus einem Grabesschacht steigt die Erinnerung an die Sehnsucht in ihm auf, welche einst, als er jung war, die Jugend – und auch ihn – in die weite Welt hinaustrieb. Was wird das holde braunlockige Geschöpf darauf antworten?

»Du lieber Narr!« schüttelt Agnes abweisend den Kopf. »Wenn du reiten willst, so reit allein . . . Soll es uns gehen wie jenen Knaben und Mädchen, die einst ins heilige Land ziehen wollten?«

»Was weißt du davon!« versetzt der Jüngling mit verhaltenem Grimme. »Das sind alberne Ammenmärchen, die uns den Mut brechen und das Gruseln lehren sollen . . . Ich will auch nicht ins heilige Land – ich will dich, dich, dich!«

»Und ich will nicht wie eine Landstreicherin hinter irgendeiner Hecke mit dir Hochzeit machen! Ich will, daß du wartest, bis mein Vater seine Einwilligung dazu gibt, weil er dich ihrer würdig findet! Ich will, daß wir, wie es Recht und Brauch ist, zusammen an den Altar treten und vor der ganzen Gemeinde vom Priester getraut werden! Ich will wissen, wo mein Herd ist und wo die Wiege meines Kindes steht und wer ihm Pate und Patin sein wird! Und wenn dir das alles nicht paßt, so kannst du ja unter den Mägden eine aussuchen, die sich deinen Launen gefügiger zeigt . . .«

Vor Staunen hält Stephan immer noch den Mund offen. 449 Nie hätte er gedacht, daß das zarte Jungfräulein, das zu ihm stets so freundlich ist, ihrem Bewerber eine solche Antwort geben könnte! Wohl, diese Jugend weiß, was sie will; und was sie will, das liegt nicht in himmlischer Ferne . . . Aber was wird nun der Jüngling erwidern? Purpurn ist ihm das Blut in die Wangen geschossen; und das Pferd tänzelt, von der Erregung seines Reiters angesteckt, unruhig hin und wieder –

Da dröhnt von der Stadt ein mächtiger Erzton herüber; und dann noch einer, ein dritter, ein vierter. Die große Domglocke läutet! Jetzt? Zu dieser ungewohnten Stunde? Aber schon fangen auch die kleineren Kirchen und Kapellen an und senden eine quirlende Flut von helleren Tönen, wie die Kinder und Enkelkinder der großen Klangmutter, rings in das Land hinaus. Die Sonne selbst, die nunmehr als strahlende Kugel über den Bergzügen des Horizontes im All schwebt, scheint zur Glocke geworden zu sein, die ein Ereignis, das die Erde bis in ihre Grundfesten hinein erschüttert, in alle Himmel weiterverkündet . . .

Das Liebespärchen hat jäh verwundert seine Pferde herumgerissen und reitet stracks in die Stadt zurück. Dort sieht Stephan Menschen auf den Mauern tanzen, jauchzen, schreien, die Arme verwerfen: als ob sie närrisch geworden wären. Und immer aufs neue rollen die dröhnenden Wellen des vielfachen Geläutes über den Stadtgraben hinweg, über die Fluren dahin. Was ist geschehen? Was soll diese beredte und dem Unkundigen doch so stumme Sprache besagen?

Stephan staunt und wartet. Aber die Heuerinnen erscheinen heute nicht auf der Wiese; und auch die andern Mähder sind nicht wie sonst angetreten: offenbar ist es gerade die Neuigkeit, die er von ihnen zu erfahren hoffte, was sie alle miteinander 450 in der Stadt zurückhält. Endlich begreift er, als läge es in der Luft: niemand arbeitet; alles freut sich. Und er schultert seine Sense, macht schon am Vormittag Feierabend und schreitet gemächlich dem Tore zu.

Er wird das Wunder noch zeitig genug erfahren. Von seinen bald achtzig Jahren, die er schon die Sonne schaut, hat er fast die Hälfte als bescheidener Knecht zugebracht, der manches Herren Laune kennen lernte. Wie könnte es noch etwas geben, das ihn überrascht? Alles schon dagewesen!

»Alter, weißt du es schon?« eilt ein Unbekannter an ihm vorbei, wie er eben die Brücke betritt. »Die Welt hat wieder einen Kaiser! Den Habsburger haben sie gewählt! Jetzt wird alles gut werden . . .«

Und Stephan lächelt; und er lächelt überall, wo er hinkommt, um keiner Freude ein trüber Spiegel zu sein. Also der Habsburger! Einst hatte er den Staufer gesehen, in Jerusalem, mit der Krone auf dem Haupt: seit sie der starken Hand jenes fluchten, haben sie längst wieder gelernt, Gott um eine gepanzerte Faust, um einen eisernen Besen anzuflehen. Und nun ist es dieser! Was verschlüge es, wenn es ein anderer wäre? Noch ist der letzte Abend nicht gekommen . . .

In der Stadt aber ist jedermann überzeugt, daß der fromme Graf von Habsburg, von dem so viele erbauliche Geschichten bekannt sind, als römischer Kaiser der Welt den Frieden bringen und so das Jahr Zwölfhundertdreiundsiebzig in einem ganz besondern Sinne zu einem Jahre des Heils machen wird. Ein Leben wie in einem aufgestörten Bienenkorb herrscht den ganzen Tag über in den Gassen: bis endlich am Abend die Zünfte mit Sang und Klang umherziehen und auf ihren Stuben reden und bechern, daß es durch die offenen Fenster in die warm zwischen 451 den Giebeln verhockte Sommerluft hinausklingt. In den nächtlich dunklen Gassen, zwischen den hohen Häusern, schreitet einsam Stephan dahin: er kommt sich wie ein Fremder vor unter der von Wein und Freude berauschten Bürgerschaft; und aus den Trinksprüchen, die er da und dort als heimlicher Lauscher mitanhört, erkennt er allmählich mit tödlicher Klarheit, daß er in dieser Welt kein Heimatrecht mehr hat, sondern in ihr nur noch wie das Überbleibsel einer verrauschten Zeit geduldet ist.

Sie preisen das Walten der Gerechtigkeit auf Erden, das sie in der Person des neuen Herrschers verkörpert sehen. Aber warum? Weil sie unter ihm noch bessere Geschäfte zu machen hoffen als bisher. Und er fühlt, wie der in diesen Städten hinter dicken Mauern aufgehäufte Mammon es ist, welcher jeden Sehnsuchtsflug der Seele nach einem Ziele des Glaubens, jede ritterliche Opferfreudigkeit des Herzens im Dienste einer hohen Idee langsam aber sicher ertöten und die Menschheit immer mehr in die Sklaverei des Alltags und seiner nie gestillten Bedürfnisse stürzen wird.

Während Stephan noch vor sich hinsinnt, kommen aus der Metzgerstube, unter Musik und gefolgt von dem ganzen, lärmenden Nachwuchs, die Zunftältesten auf die dunkle Gasse heraus gepoltert und merken im weinseligen Selbstbewußtsein ihres wohlgemuten Weiterschreitens gar nicht, daß sie mit ihren respektablen Wänsten einen alten Mann unsanft an die Mauer drückten. Bald ist die Gesellschaft, die einer befreundeten Zunft einen Besuch abstatten will, um die nächste Ecke herum verschwunden; und Stephan schreitet unbehindert weiter durch die Stadt, in deren Gassen nur noch wenig Volk anzutreffen ist, da sich alles in den Schenkstuben zusammengefunden hat, um das große Ereignis zu verschwellen. Nur einmal steht er noch 452 still: vor dem stattlichen Hause der Schwertfegerzunft, wo eben die noch immer kräftige Stimme Meister Albrechts heraustönt und im Saale selbst, wie es sich dem Oberhaupte der Stadt gegenüber geziemt, größere Aufmerksamkeit findet, als sie irgendeinem Redner des Abends beschieden sein mag.

Stephan lächelt vor sich hin und denkt sich die vielen Jahre zurück, wo er ihn in der Mühle beim Sonntagstrunk traf und in dem bereits hochangesehenen Manne einen der Jünglinge erkannte, die einst unter seiner Fahne nach dem heiligen Lande auszogen. Damals war er, Stephan, der König und jener sein Dienstmann gewesen: nun ist der damals Unbekannte schon seit langem der allmächtige, nicht nur gefürchtete, sondern auch verehrte Bürgermeister; und er, Stephan, verdient seit manchem Sommer in der Familie seines Sohnes als Knecht sein Brot. So rollt das Rad der Fortuna durch die Zeiten, Oben und Unten miteinander vertauschend!

Von der Zeit des Friedens und der Arbeit, die nun kommen müsse, spricht der greise Magistrat. Durch den Ausschnitt des Fensters sieht Stephan gerade sein Kraft und Würde kündendes Antlitz, in welches der mächtig wallende silberweiße Bart so etwas wie einen Abglanz göttlichen Geistes zurückwirft; und neben ihm sitzt sein Sohn Heinz – sein Brotherr –, selber schon fast ein Sechziger, der längst allein die Waffenschmiede führt und wohl gerne die Mühen des Geschäftes jüngeren Händen überließe, wenn solche nachgewachsen wären. Aber Stephan, sein Erstgeborener, ist ein von Gott Gezeichneter, der nicht leben und nicht sterben kann und trotz seiner dreißig Jahre immer noch wie ein Jüngling aussieht, den eine innere Glut verzehrt; und ob die jüngere Agnes – deren voll erblühte Jugendschönheit im Handumdrehen aus einem Juni- ein Auguströslein 453 geworden sein wird – just einen Schwiegersohn anlockt, der Schwerter schmieden will, das scheint ihm seit heute früh etwas fraglich zu sein.

Stephan wandert weiter: durch die kaum belebten Straßen; zwischen den Häusern hindurch, aus denen immer wieder verworrene Worte und Becherklang herdringen. Und zuletzt führt ihn sein Schritt – er weiß selber nicht warum – aus der Enge der ineinandergreifenden Giebel auf die freie, offene Ringmauer der Stadt hinauf, wo die Sterne nicht nur im schmalen Ausschnitt der Gassen, sondern als großer, flimmernder Himmelsmantel erscheinen, welcher sich – schwer von vergangenen und schwanger mit künftigen Schicksalen – von einem Ende zum andern über die ahnungsvoll schlummernde Erde hinbreitet.

Dort setzt sich der einstige König von Jerusalem in eine der Scharten und lauscht, an dem dunkelbrodelnden Freudenlärm der Stadt vorbei, in das Herz der Welt hinein. Ist es möglich, daß das, was von allen Menschen einst sie, die schweifende Jugend, als größtes Erlebnis beseligte, mit ihnen ins Nichts versunken sein sollte? Kehrte es nicht vielmehr in Gottes Schöpferbrust zurück, wo alles Wo und Wann eins ist mit der Fülle seiner Kraft? Er gäbe sein Leben darum, wenn jetzt ein einziger Hauch aus dem Geisterreiche der zu Gott Heimgegangenen ihn streifte und ihm die Gewißheit schenkte, daß, wenn auch ihre Tat, so doch ihr Glaube nicht umsonst war –

Schwer sinkt Stephan der Kopf in die Hände: er schaut nicht mehr den unergründlichen Sternenhimmel über sich, sondern sucht in sich selber die Gesetze der eben so unfaßbaren Seelentiefe zu lesen. Warum war ihr Unternehmen erfolglos? Erfolglos, auch wenn es wider alle Wahrscheinlichkeit von Erfolg gekrönt gewesen wäre? Sie wollten nur das Grab Christi 454 befreien, wo doch kein Besitz auf Erden – selbst dieser nicht! – den Menschen anders machen kann, als er ist. Seither hat er in langen Jahren der Demut gelernt, was es heißt, in Wahrheit ein Christ zu sein: Einander lieben und einander dienen . . .

 


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