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Stephan und Ellenor wandern weiter durch die gebirgige Gegend, in welche die Schrecken der Ketzerverfolgungen sie vom kürzesten Wege nach dem Meer abgetrieben haben.
Sie ziehen schweigsam dahin. In der Armut ihrer abgetragenen Gewänder und in der Kleinmut ihrer erschöpften Gefühle. 154 Stephan von seinen bohrenden Zweifeln durchwühlt; als ein vom Schicksal vor den Kopf Geschlagener, der des großen Rätsels Lösung im Staube sucht, den seine Füße treten. Ellenor von einer schwesterlichen Besorgnis um den Jüngling erfüllt, dessen Begeisterung auch sie einst durchglühte und dessen Verzagtheit sie darum noch tiefer schmerzt als das Mißtrauen, das er eine Zeitlang auf sie warf.
Mit der Sonne sind die Gestalten und Lockungen des nächtlichen Traumes für einmal wieder in ihr zerronnen; ihre biegsame Jugend gewinnt eine neue Spannkraft zurück und setzt sich tapfer mit der Wirklichkeit auseinander. Eustachius tritt allmählich in ihren Gedanken wie ein hoffnungsloser Wunsch zurück hinter Stephan, welcher für sie immer mehr eine Pflicht bedeutet, der sie genügen soll und genügen will. Hat sie das Schicksal nicht ihm als Königin an die Seite gegeben? Und als Königin fühlt sie sich um so mehr, je mehr er selber ihr den höchst unköniglichen Anblick völliger Zermürbtheit darbietet. In ihrer Brust will sie die große Glut bewahren, die in seiner Seele auszulöschen droht . . .
Sie steigen einer wenig hohen und unschwierigen Paßhöhe entgegen, immer demselben ausgetrockneten Bachbett entlang. Der Weisung gemäß, welche ihnen von Schafhirten zuteil wurde, müssen sie das Joch überschreiten, um dann, der jenseits absinkenden Bachrinne folgend, die verlassene Ebene und mit ihr die große Heerstraße nach der Küste zurückzugewinnen. Wie sie die Höhe erreicht haben, schauen sie von ihr durch ein von harzigem Tannenduft und blauem Nachmittagsdunst erfülltes Tal hinunter, in welches sie nach kurzer Rast in der Hoffnung hinabsteigen, bald wieder auf Behausungen und friedlichere Menschen zu stoßen.
155 Aber eine noch größere Überraschung ist ihnen beschieden. Nach kurzer Wanderung sehen sie von der rechten Berglehne da und dort Trüpplein ihres eigenen Kreuzheeres herniederwallen, die auf der Flucht den Höhenzug geradeswegs erklommen und überschritten haben! Ellenor blickt auf Stephan. Wird er sich ihnen zu erkennen geben? Aber er läßt sich, wenn sie mit ihnen zusammentreffen, immer nur die erlebten Greuel erzählen, ohne daß er, wie es doch seine Führerpflicht wäre, ihren Mut aufrichtet und sie um sich versammelte. Vielmehr findet er immer einen Vorwand, sie vorausgehen zu lassen und mit Ellenor und seiner Trübsal allein zurückzubleiben.
»Du hast mir vor ein paar Tagen den Vorwurf gemacht, ich denke nur an mich und ich sei keine rechte Königin!« beginnt da Ellenor aus übervollem Herzen heraus. »Du aber willst die vielen tausend Knaben und Mädchen, die nur auf deinen Ruf hin das Kreuz genommen haben und jetzt deiner Führung mehr denn je bedürfen, schmählich im Stiche lassen und dich wie ein Feigling vor ihnen, denen du deine letzte Kraft schuldig bist, verleugnen? Wenn du das wirklich tust, dann habe freilich auch ich nichts mehr mit dir zu schaffen!«
Stephan blickt kurz in ihre von einem dunklen Feuer glühenden Augen und nimmt das Bild ihrer bei aller äußeren Verwahrlosung von der Schönheit ehrlichen Zornes verklärten Gestalt unverlierbar in sich auf; er fühlt, daß er ganz allmählich sein besseres Teil in ihre Seele gelegt hatte und daß sie es ihm nun, wo er selber in Gefahr steht, es zu verlieren, in einem rein erhaltenen Bilde vor Augen stellt. Er erwidert nichts auf ihre Worte: aber dem nächsten Trüpplein Kinder, das ihnen in den Weg läuft, schließen sie sich an; und alle weitern, mit denen sie zusammentreffen, muntert er auf, bei ihnen zu bleiben 156 und mit ihnen zu gehen. Und gleichwie die einzelnen Rinnsale sich mehr und mehr zum kräftigen Bergbach vereinigen, so bilden auch die vielen kleinen Scharen jugendlicher Kreuzritter nach und nach wieder einen stattlichen Heereszug, an dessen Spitze Stephan und Ellenor schreiten, umgeben von frommen Fahnen, auf denen das dornengekrönte Haupt Christi und die Madonna mit den sieben Schwertern in der Brust zu sehen sind: sie erinnern die Kinder mit vereinigter Kraft an den hingebungsvollen Glauben, mit welchem sie einst aus der Heimat aufbrachen; und sie entfachen in ihren Herzen aufs neue die Glut jenes Gefühls, das sie so lange Zeit alle Mühsale in Geduld überwinden ließ.
Da gewahren sie plötzlich vor sich ein armseliges Hirtendorf und sehen neben und über ihm, von einem Wiesenhang herunter, ähnliche Banner im Abendwind flattern, wie sie selber sie tragen. Haben sich dort nicht schon andere ihres zahlreichen Heeres versammelt? Aber auch sie sind von jenen erblickt worden; und wie sie sich jetzt den Steinhütten nähern, tönt ihnen ein Jubelgeschrei entgegen, aus welchem sie immer deutlicher den Ruf »Stephan! Stephan!« vernehmen. Vor ihnen stehen im Gold der untergehenden Sonne ihre einstigen Paladine, noch acht von den zwölf, schlagen mit ihren Degen an die Schilde und jauchzen laut: »Hoch lebe Stephan, unser König! Hoch Ellenor, unsere Königin!« Und wie im Echo umbraust sie in ihrem Rücken derselbe Ruf der von ihnen geführten Scharen, die erst jetzt erkennen, wem sie sich anschlossen und wer der Jüngling war, der ihre niedergedrückten Gemüter aufrichtete.
Gab es jemals einen größeren Augenblick, während sie durch die blütenprangenden Frühlingsgefilde zogen, von den Zurückbleibenden mit heißen Segenswünschen begleitet, als es dieser 157 ist, wo sie sich aus Irrsalen und Gefahren neu zusammengefunden haben und wo der Mut des Führers am Vertrauen der Geführten und dieses wiederum an seinem Mute neu emporglüht? Im Triumph werden Stephan und Ellenor zu den Hütten geleitet, um welche alle Kinder zusammenströmen und wo die Hirten erst stumm und scheu den allgemeinen Jubel anstaunen, dann aber auseinandergehen, um bald darauf ein jeder mit einem Holznapf frischgemolkener Ziegenmilch zurückzukehren und ihn kniend Stephan und Ellenor darzureichen. Aus der stürmischen Begeisterung dieser Jugend, die nach dem heiligen Lande ziehen will, ist es wie ein Klang aus jener Zeit, da der Herr selber auf Erden wandelte, in ihre vom mühseligen Daseinskampf verhärteten Seelen gedrungen und hat in ihnen, die hier im Gebirge zu weit von allem Weltgeschehen entfernt leben, um auch schon von seinem Hohn und Spott vergiftet zu sein, ein neues Echo wachgerufen: sie wissen nur etwas von Christus, an den sich, als an den Gottgesandten, die Hoffnung aller elenden Menschen und darum auch die ihre klammert; und den gläubigen Widerschein dieser innersten Gewißheit in so vielen jugendlichen Augen leuchten zu sehen berührt sie gleich der Verkündigung eines Wunders, das sich zwar an ihnen nicht mehr erfüllen wird, das sie aber doch in Demut anbeten wollen.
Wie anders erfunkeln heute die Sterne über dem nahen Waldrücken in der Halle des Himmels! Die Hirten bieten dem jungen Königspaar die beste ihrer Hütten als Lagerstatt an – aber ist die Sommernacht nicht warm und trocken genug, um im Freien zu nächtigen? Von einem Felsblock aus, der sich in der Wiesenhalde erhebt, überschaut Stephan sein wiedergesammeltes Heer bis zu den Ziegen, die still auf ihrer Weide liegen; und laut und feierlich spricht er das Abendgebet, während 158 alle die knienden Knaben und Mädchen sich mit den Blicken über ihre gefalteten Hände neigen und mit der Seele an ihm als ihrem wiedergefundenen Führer hangen. Dann ist nichts mehr hörbar in dem einsamen Bergtal als ein leises Rauschen verborgener Wasseradern, das Raunen des in erfrischender Kühle herabsinkenden Höhenwindes und der Ruf, mit welchem da und dort eines der Kinder, ehe es sich zur Ruhe legt, nach alter, frommer Gewohnheit seine neu entflammte Sehnsucht zum Himmel emporsendet: »Hilf, heiliges Graaab! – Hilf, heiliges Graaab!«