Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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4. Der finstere Franz

Auf der moosigen Felskanzel im Walde liegt er auf der Lauer, den Ellenbogen aufgestemmt und das dunkle Haupt in die Hand geschmiegt, und starrt auf das schmale Sträßchen hinab, auf welchem durch die sternenflimmernde Frühlingsnacht die Paare einzeln vom Tanz zurückkehren.

Drüben auf der Wiese schweben fast unbeweglich weiße Nebel; wie die Seelen Verstorbener, welche in Erinnerung über die Erde hinwegträumen, in deren Glück und Weh auch sie einst verstrickt waren. Und er selber kommt sich vor, als wäre er schon ein Abgeschiedener und blickte aus einer andern Welt in diese hinein.

Ist es möglich? Sie, die so lange ihre starken Arme um seinen Nacken schlug und ihre Lippen heiß und voll auf die seinen drückte, geht mit einem andern? Und das verlegene Lachen und Achselzucken, mit welchem sie sich bei ihrer letzten Begegnung von ihm abwandte, sollte wirklich die einzige Erklärung sein für diesen unfaßbaren Verrat?

Da taucht an der Wegecke eben wieder ein Pärchen auf. Sie sind es! Sie schreiten, ohne sich anzufassen, nebeneinander; und schauen zu Boden, als suchten sie etwas. Sie sind offensichtlich in einer Auseinandersetzung begriffen, welche eine für beide überraschende Tatsache nachträglich begründen soll.

»Warum ich dich lieber mag als den Franz? Weil er so finster ist und in seinen Augen etwas Unheimliches hat. Der kann nicht lachen wie du! Und küssen auch nicht! Er ließ sich immer nur 253 küssen. Es war, als warte er stets auf etwas. Und er sprach auch immer vom Warten. Bis er sein Meisterstück gemacht habe und einen eigenen Hausstand gründen könne. So in zwei, drei Jahren, meinte er. Und bis dahin hätt' ich mir die Sterne vom Himmel herunterwünschen können . . . und vertrocknen wie ein Blümlein ohne Wasser . . .«

Ihr Begleiter lacht hell auf und steht still. Und Franz sieht, wie sie ihm um den Hals fällt, ihn mit ihren vollen Armen herzt, mit ihren heißen Lippen küßt – genau so, wie sie noch vor drei Wochen ihn herzte und küßte! Und er erkennt in seinem Nebenbuhler einen jungen Adeligen, dessen Familie erst vor einem Jahrzehnt von ihrer Burg in die Stadt gezogen ist. Wohl, das Rauben muß ihm noch im Blute liegen!

»Also mein Strohhaar gefällt dir besser als sein schwarzes? Und die grimmige Hakennase, die er hat, und die zusammengekniffenen Lippen – als ob er die ganze Welt auf die Hörner nehmen wollte! Hahaha! Und ist doch nur ein Zimmermann, welcher die Häuser baut, in denen andere wohnen werden . . . So hast auch du, Agathe, bei ihm die Liebe gelernt: bei mir aber soll sie dir Freude machen!«

Und Franz sieht, wie er das liebestolle Mädchen so wild umfängt und umkrallt, daß es rücklings wie eine Beute in seinen Armen liegt und zu Boden sinken will. Und die Hand zuckt ihm ans lange Messer; und er springt auf, um sich in blinder Wut auf die beiden zu stürzen und sie mit einem und demselben Stoße zu durchbohren. Da fahren die beiden plötzlich auseinander, als ahnten sie den Überfall, und stehen, in die Ferne lauschend, unbeweglich da.

Was hören sie? Was hört er? Ein Gesang reiner Kinderstimmen naht sich durch den seitlich einmündenden Hohlweg. 254 Der dunkle Wald ist auf einmal wie von einem frommen weißen Leuchten erfüllt, auf welches die Sterne in schweigender Ehrfurcht herabnicken.

»Das sind wieder von den jungen Narren, die nach dem heiligen Lande ziehen!« lacht der gestörte Liebhaber, indem er sein anfängliches Zusammenschrecken zu verheimlichen sucht. »Die meinen auch, im Hoffen und Harren liege die Seligkeit; und wollen durchaus nur in Jerusalem glücklich sein . . . Wir aber haben nicht so weit und brauchen nicht so lange. – Komm hier in den Busch hinein, bis sie vorbei sind!«

Und unter dem Felsen, auf welchem Franz steht, verschwinden sie in der kaum begrünten Buchenhecke. Das Sträßchen liegt wieder leer da, um die kindlichen Sänger zu empfangen und sie, ohne daß sie es ahnen, an einer Stätte der Treulosigkeit vorüberzuführen. Wie vieles doch auf einem solchen Wege zusammenkommt! denkt Franz; und lauscht und wartet.

Schon erkennt er die vordersten im fahlen Sternenschein. Es ist eine kleine Gruppe Kinder: zwölf- bis vierzehnjährige Knaben und Mädchen, welche sich paarweise bei der Hand halten und singend und wandernd in die Tiefen des flimmernden Weltalls emporschauen. Sie tragen weder Fackeln noch Laternen; nur das silberne Licht des nächtlichen Himmels erhellt ihren Pfad . . . Woher? – Genug, daß sie wissen wohin!

»Ein Tier! Ein wildes Tier!« rufen da die ersten, wie sie gerade vor dem Felsen angelangt sind. Sie werfen entsetzte Blicke nach dem Buchenlaub, welches Agathe und ihren Liebsten in sich birgt. Und während ihr gläubiger Gesang jäh abbricht, sieht Franz die ganze Kinderschar in wilder Angst auf der Straße davonlaufen und sich mit ihr im Dunkel des Waldes verlieren.

255 Und er? Soll er wieder in die Stadt zurückkehren und tagtäglich mitanschauen müssen, was er jetzt, in der nächtlichen Stille, immer deutlicher hört? Was ist Sünde, wenn nicht dieses unaufhörliche Sichfortwerfen, bald hier, bald dort; und was Reinheit und Glück, wenn nicht die Treue zu etwas, das über diesem qualvollen, sinnlosen Wechsel alles Irdischen steht?

Und plötzlich sieht er vor Augen, was diese Kinder in der Seele tragen: das Grab Christi, der auf diese Welt kam, um den elend von ihren Wünschen umhergetriebenen Menschen den Rückweg in die göttliche Heimat zu zeigen. Fahrwohl Meisterstück! Fahrwohl Haus und Ehestand, darin das Herz doch nie ein sicheres Ausruhen findet! Fahrwohl Liebe und Haß um irdischen Glückes willen! Und er rennt neben dem Felsen die steile Böschung auf den Weg hinunter, halb auf der Flucht vor den Lauten der Liebesraserei, die er hinter sich zurückläßt, halb mit dem Vorsatz, die erschreckte Jugend einzuholen und mit der größeren Kraft seiner Jahre zu beschützen.

»Haltet an, ihr Kinder! . . . Fürchtet euch nicht mehr; ich will euer Führer sein! Solange ich bei euch bin, soll euch kein wildes Tier bedrohen . . . – Zu wem wollt ihr? Zum König Nikolaus? – Also gehen wir zusammen zum König Nikolaus . . .«

 


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