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»Manfred?«
»Vater?«
»Siehst du dort draußen die fernsten Wellen?«
»Ja, Vater. – Warum?«
»Erreicht doch eine jede zuletzt den Strand, um an ihm zu zerschellen . . .«
Manfred schweigt und folgt den Blicken des kranken Kaisers. Vor ihnen liegt in der Tiefe die apulische Küste mit dem dunkelblauen Meer, das mit unsichtbarem Horizont in Himmelsfernen verduftet. Eintönig tost die Brandung zur Burghöhe herauf und umklingt ihre wie gespannt aufhorchenden Seelen.
442 ». . . Ich möchte wissen, was das alles für einen Sinn hat! Welle auf Welle naht; die Sonne geht auf und unter, unter und auf; die Sternbilder drehen sich und kehren immer wieder an ihren alten Ort zurück. Ist die Welt nicht eine schauderhafte Maschine; eine gräßliche Mühle mit unzähligen Rädern, die mahlt und malmt – bis sie auch den Letzten zermalmt?«
»Die Welt ist dein Reich; und du bist ihr Kaiser! Wie kannst du so trüben Gedanken nachhangen? Sammelt sich nicht eben jetzt in diesen Gauen ein Heer, das nur deine Genesung abwartet, damit du es selber zur endgültigen Niederwerfung der rebellischen Lombardenstädte anführst und mit ihm einen so strahlenden Sieg erringst, daß ihn kein Bannfluch des Papstes mehr verdunkeln kann? Hast du nicht dem dritten Innocenz und dem neunten Gregor widerstanden? Du wirst auch über diesen vierten Innocenz triumphieren . . . Wie magst du nur so kleinmütig sein? Vater, ich habe dich noch nie so reden hören.«
»Und glaubst darum, ich habe nie früher so gedacht? Wer müßte nicht zuletzt müde werden, den zähen Teig der Menschheit zu kneten? Die List kommt zu langsam ans Ziel; und was hilft Gewalt? – So manchen habe ich in den Tod geschickt; und glaubte damit meinen Zielen nähergekommen zu sein – Heute weiß ich besser, was ich allein jeweilen getan habe: ihn mir vorausgeschickt . . .«
Friedrich liegt tief in den Sessel zurückgelehnt da, das Kinn wirr von dem ergrauten Barte umwuchert. Sein kahler Schädel glänzt auf den roten Kissen wie eine kleine Erdkugel; die Augen sind geschlossen und schauen in das Innere. Ein Blick nicht der Sinne, sondern des Geistes scheint über die heute mit ungewohnt 443 scharfem Zug hervortretende Nase nach der Zehenspitze des hochgelagerten rechten Fußes, der von dem »heiligen Feuer« schwärend angefressen ist, und über sie hinweg ins Unendliche zu zielen.
»Vater, trink hier von dem Wein; er wird dich stärken! Und spürst du nicht, wie wohlig warm dir die Sonne auf die Decken scheint? Wer glaubte in diesem ewigen Frühling, daß wir heute den dreizehnten Dezember schreiben, im zwölfhundertfünfzigsten Jahre nach Christi Geburt?«
»Du bist ein Spaßmacher! – Nein, keinen Wein! Das Schlucken macht mir Mühe; erregt Brechreiz. Und stillt doch den endlosen Durst nicht . . . Antworte mir lieber auf eine Frage, Manfred! Kannst du dir vorstellen, daß diese ganze Welt, Erde, Meer und Himmel, eines Tages von einem abfällt? Und daß wir uns dann irgendwo befinden; und irgendwem gegenüber? – Wem?«
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen! Ich würde auch die Beantwortung dieser Frage dem heiligen Vater in Rom überlassen und mich so wenig in sein geistliches Reich einmischen, als du dir jemals von ihm Übergriffe in dein weltliches gefallen ließest – Wie schade, daß er jetzt nicht deine erbaulichen Reden hört: dich, den er glaubte vor der Welt als Ketzer brandmarken zu sollen! – Wenn du erst wieder auf deinem Schlachtroß sitzest, so kommt dir das alles so vor, wie es mir jetzt vorkommt: als zwecklose Träumerei einer unfrohen Stunde . . .«
»Aber wenn ich niemals mehr das Schlachtroß besteige? Wenn schon der dunkle Reiter, dem wir alle eines Tages folgen müssen, drunten vor dem Burgtor hielte und auf mich wartete? . . . Manfred! Als ich in deinem Alter stand und nach der Krone 444 lechzte, die ein widriges Schicksal mir vorenthalten wollte, da war's, daß Tausende von Kindern aus Frankreich und Deutschland einen Kreuzzug unternahmen, aus einer dunklen Sehnsucht heraus, welche die Völker bestaunten – und die ich verlachte. Sie fanden auf ihrem abenteuerlichen Zuge fast alle den Tod: diejenigen, die das Meer erreichten, wurden von Sklavenhändlern nach Afrika an die Sarazenen verkauft, soweit sie nicht ein Sturm versenkte; ich habe selber zwei von diesen Halunken in Palermo aufgeknüpft und dafür gesorgt, daß der Ruhm meiner Gerechtigkeit die Welt erfüllte. Warum muß ich jetzt an diese Kinder denken, die in ihrer Einfalt ahnen mochten, daß in Wahrheit unser Dasein von einem Abgrund begrenzt wird, und, während sie mit wunden Füßen nach dem heiligen Lande wanderten, die Blicke ihres jungen Geistes gläubig nach dem gelobten Lande der Unsterblichkeit ausschweifen ließen . . . Manfred, was nenne ich mehr mein Eigen als jene armen kleinen Narren, welche einst in gleicher Weise über die Erde irrten, wie meine Seele bald durch die Welt irren wird? Sind wir Menschen nicht alle wie Pilger, die, kaum daß sie sich in einer Herberge wohnlich eingerichtet haben, wieder in die Nacht hinausgestoßen werden?«
Während Friedrich immer mühsamer seine Gedanken in Worte faßt und zu Sätzen formt, steht Manfred hinter seinem von schleichender Krankheit erschöpften, in sich zusammengesunkenen Körper; und schneller als drunten am Strande die Wellen heranrollen, eilen seine Gedanken über den daliegenden Vater hinweg in die Zukunft. Ist er selber auch nur ein wildes Reis am Stamme, so fühlt er dafür um so wildere Kraft in sich, seinerseits das große Stauferglück zu versuchen, wenn die Reihe einmal an ihn kommt! Sein Bruder Enzio liegt seit zwei Jahren 445 im Gefängnis zu Bologna, und wer weiß, ob es gelingen wird, ihn zu befreien; und der zum Nachfolger in der Kaiserwürde bestimmte Konrad ist von so zarter Gesundheit, daß niemand glaubt, er werde lange die Last der Krone tragen –
». . . Manfred, du kannst mich nicht verstehen. Was hilft es, sich täuschen zu wollen? Ich bin krank, schwer krank; und ein Gesunder kann einen Kranken niemals verstehen. Ein Kranker aber versteht jenen Nazarener, der zu der kranken Welt kam und sprach: Mein Reich ist nicht von dieser Welt! Daß es aber wirklich noch ein anderes Reich gibt, das fängt man erst an zu begreifen, wenn – – – Wie mancher mag schon so auf das Meer hinausgeschaut haben, wie ich es jetzt tue? Und was habe ich jetzt vor dem geringsten meiner Kriegsknechte voraus, der jemals unter meiner Fahne focht oder mir zuschaute, wie gut ich meine Komödie spielte? Und doch: Ich habe etwas vor ihm vorausgehabt und habe es jetzt noch. Daß ich wußte, daß ich eine Komödie spielte! Und daß ich weiß: das Beste an allen Komödien ist, daß sie ein Ende nehmen . . . Man löscht die Lichter aus. – Siehst du? – Man löscht die . . .«
Manfred sieht sich mit den Augen des Geistes zum Kaiser gekrönt und von einer Welt umjubelt. Er hat nicht gehört, was der Sterbende immer leiser vor sich hin murmelte; er hört nur auf einmal, daß er nicht mehr spricht. Und plötzlich führt ihn ein unsichtbarer Arm zur Wirklichkeit der Gegenwart zurück –
Er sieht, wie er sich über seinen Vater beugt, einen langsam sich öffnenden Mund und, unter weitaufgerissenen Lidern, in zwei erloschene Augensterne hinein . . . 446