Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

19. Sie singen . . .

Sie singen.

Sie singen und wandern Tag und Nacht. Rasten und schlafen, wenn sie müde sind oder wenn das Wetter sie zwingt; singen und wandern wieder, wenn die Sonne lacht, das Herz sie treibt und ihre Ungeduld nicht mehr warten kann, bis sie den weiten Weg zurückgelegt haben. Ihr Sang ist das Rauschen und Leuchten eines Stromes von jungen Menschenleibern, der wie alle Ströme nach dem Meere wallt; und ihre Hoffnung sucht in seinem blauen Jenseits um so inniger das Heil der Seele, als sie jetzt wissen, daß überall auf der Erde die Knaben und Mädchen nach demselben Ziel unterwegs sind.

80 Auf der Landstraße ziehen Ochsen und Maultiere die Fuhrwerke, die ganze Wohnungen tragen, bekränzt von Blumen und grünem Laub; und in diesen fahrenden Hütten spielen Kinder, lachen oder weinen. Wer alt genug ist, um zu Fuß zu gehen, geht zu Fuß; viele Mädchen und Knaben eilen jubelnd auf waldigen Seitenwegen links und rechts dem Hauptzuge voraus – überschüssige Stromeskraft, die auf Umwegen sich austobt und manches stille Wasser unversehens mit sich fortreißt! Und jedesmal, wenn irgendwo der Sang verstummt, nimmt ihn am jenseitigen Talhang eine andere Gruppe wieder auf; und diejenigen, die selber schweigend dahinziehen, hören doch vor, hinter und neben sich das Reiselied ihres jungen Heldentums. Mit durcheinanderverschlungenen tönenden Armen greift die Wandersehnsucht in den blauen, weißwolkigen Himmel empor; und die Füße achten weder auf die harten Steine des Waldweges, noch auf den heißen Staub der Heerstraße.

Sie singen und kommen näher.

Es ist eine Weise, ähnlich wie sie in den Kirchen erschallt. Aber nicht alte, vertrocknete Kehlen und welke, plärrende Lippen formen gedankenlos die Töne, sondern junge Herzen jauchzen ihren Glauben und schreien ihre Not; und die einfache, einstimmige Melodie wird zur hingebenden Gebärde, deren Bild vor jedem aus der Erde wächst, der sie vernimmt. Die waldige Biegung der im Frühdämmer dahinlaufenden Straße läßt immer noch nichts von dem Zuge sichtbar werden; aber es liegt schon in dem schwebenden Ausschwingen einzelner Klänge etwas wie flehend gebreitete Arme, starkmutig dargebotene Brust, vertrauensvoll aufblickende Augen.

»Wie elend müssen sie sein, daß sie Eltern und Heimat dahintenlassen können!« Alix zittert vor Kälte auf dem 81 taufeuchten Rasenbord, auf dem sie wartend die halbe Nacht verbracht haben; und dennoch schwillt mit dem anwachsenden Getöne des näher und näher rückenden Gesanges eine Glut in ihr an, die sie in heißes Schluchzen ausbrechen läßt: es ist das Weh über den Abschied von der Stätte ihrer Kindheit, durchschüttert von der immer mächtiger heranflutenden Welle einer ins Unbekannte lockenden Sehnsucht. Eustachius, der den Arm um ihren zusammengekauerten Leib geschlungen hält, blickt stumm nach der Straßenbiegung aus, wo links auf der durchblümten Matte und hinter ihr auf dem zartgrün ansteigenden Laubwald schon goldig verklärendes Sonnenlicht liegt.

Und jetzt kommen die Vordersten in das Licht hereingeschwenkt, mit alten Kirchenfahnen und leeren Weihrauchfässern, gleich einer Prozession. Grauer Staub qualmt an Stelle des süßen Rauches um ihre Füße und schwebt ihnen wie ein Wall voraus, hinter welchem, gestaut, der unendliche Zug vergebens hervorzubrechen versucht. Während ihre Köpfe immerfort klar in der Luft stehen, werden die der Nachfolgenden in den zurückflutenden Staubwolken gedämpft, wie durch einen Nebel hindurch sichtbar, welcher, je näher sie kommen und je mehr Scharen sich in ihm zeigen, ihrer nur um so mehr vermuten läßt.

Sie singen und sind da.

Die Wucht der schreienden Töne schlägt so stark an Alix' Ohr, daß sie wie unter einem Mahnruf mit versiegten Tränen sich erhebt. Neben Eustachius, der gleichfalls aufgestanden ist, schaut sie aus weitgeöffneten Augen in die ersten bleichen, bald qualvoll verzerrt, bald gläubig entflammt den Himmel anflehenden Gesichter. Und zwischen den Kreuzen und Fahnen hindurch gewahren sie, von den größeren Knaben getragen, Piken, Schwerter und Schilde, die alle verwegen in der 82 Morgensonne flimmern, als sollte die Seligkeit mit stürmender Hand erobert werden.

Kaum ein Wort von dem Gesang wird ihnen verständlich; auch ziehen die Singenden an ihnen vorüber, ohne sie mit einem Blick zu bemerken: sie psalmieren so eifrig, als ob sie wirklich mit diesen Tönen den Widerstand einer Welt zum Wanken bringen könnten. Der Zug kriecht auf der Erde dahin; aber ein wundersamer Opferwille schwingt sich in den Himmel hinauf: als sähen die Augen den Gott, dem sie sich anvertraut haben, greifbar vor sich, so heben sich da und dort die Arme eines Betenden empor. Es ist dieselbe jugendliche Zuversicht, mit welcher die Bäume ihre blühenden Äste hochstrecken, nur süßer, inniger und darum auch schmerzlicher; Fahnen, Spieße, Hände, Blicke, Töne dringen gleich Beschwörungen nach oben, die Gnade einer Entrückung herabzuflehen.

Auf diese übernächtige Vorhut des Glaubens folgt, zwischen größeren und kleineren Karren, auf denen die jüngeren Kinder noch schlafen, der Gewalthaufe von bewaffneten Knaben und bekränzten Mädchen, die die Reise zu Fuß machen; sie zeigen offen ihre Müdigkeit und haben, obschon sie nicht singen, für alles, was außerhalb ihres Weges steht, nur stumpf abgleitende Blicke. Schon ist der Gesang der an der Spitze Schreitenden verhallt, da flammt er plötzlich wieder auf dem Waldpfade auf, den Alix und Eustachius in der Nacht hergekommen sind: so jubeln die Töne der ungebrochen quellenden Jugendkraft, die die Nacht zum Tage hinzunimmt, um das Leben tief genug ausschöpfen zu können; und immer mehr ist ihnen, den Flüchtlingen, als träfe sie jetzt nicht nur das Licht des frei über die Hügel emporgestiegenen Weltgestirns, sondern auch noch ein Strahl aus jener Seelensonne, welche den Menschen zu allem 83 Großen voranleuchtet. Im Nu sehen sie sich von Jünglingen und Mädchen in ihrem Alter umringt, die von einem in froher Abenteuerlust eingeschlagenen Umweg hier wieder zum Hauptzug stoßen wollen und in ihnen unter dem Rufe »Kommt mit nach dem heiligen Lande!« auf den ersten Blick neue Reisegefährten erkennen.

Ein warmes Gefühl durchströmt die noch eben so Einsamen. Zwei einfache Bürgermädchen umarmen nacheinander Alix, die doch das Gewand als ein adeliges Fräulein verrät, und drücken ihr auf beide Wangen den Schwesternkuß; und Eustachius, der bislang immer von einem Herrn zum andern gestoßene arme Schüler, fühlt um jede Schulter einen kräftigen Arm sich legen und sieht zugleich, daß sie Rittersöhnen gehören, die ein Schwert tragen. »Dort kommt unser König! Dort kommt Stephan!« ruft da ein dritter und zeigt nach dem großen, von der jugendlichen Schildwache umgebenen Wagen, auf welchem, thronartig erhöht, ein Knabe sitzt, im Schaffell des Hirten und mit dem Krummstab in der Hand, unter einer golden leuchtenden Krone von Löwenzahnblüten verträumt in die Ferne lächelnd, in welche er seine Lämmer hineinführen will.

»Hoch unser König! Hoch der König von Jerusalem!« rufen die Jünglinge und treten mit den beiden neugewonnenen Kreuzfahrern an den Wagen heran, dessen mächtig gehörnte, reich bekränzte Ochsen bedächtig und gläubig der Bauer Christian führt. Stephan wendet das Haupt, scheint die Grüßenden zu erkennen und ihnen zuzunicken – dann gewahrt er plötzlich Alix, welcher wieder die beiden Löckchen in die Stirne gefallen sind, und bedeutet ihnen mit einer Handbewegung, sie möchten sie auf den Wagen heben. Eustachius sieht, wie einer der Adeligen den Befehl ausführt; er hört, wie Alix errötend seinen 84 Namen ausspricht und auf ihn hinweist; und er merkt, daß er auch auf den Wagen steigen darf.

Dort sitzen noch andere Jünglinge und Mädchen unter dem Reifendach, dessen Blahe weggezogen ist; sie teilen ihr Essen und Trinken mit ihnen und staunen wie sie die Gegend an, durch die sie fahren, während die Sonne sich höher und höher in den blauen Himmel hinaufhebt und eine wohlig die Glieder durchrieselnde Wärme sie diese Nacht wie schon so manche andere vergessen läßt. Ist es nicht, als trüge sie ein Strom durch die blühenden Auen? Ist es nicht, als wären sie jetzt schon von heiligem Land umgeben, sie, die sich jenem heiligen Lande entgegenbewegen, wo aller gläubigen Christen Sehnsucht ihre Wurzeln hat und allein zur wahren Seelenblüte sich entfalten kann? Alle die schönen Ausblicke auf eine liebliche Frühlingslandschaft mit Wäldern und Wiesen, Baumgruppen und Bächlein ziehen an ihnen vorüber wie irdische Sinnbilder eines Glückes, dessen himmlische Heimat zu gewinnen sie sich aufgemacht haben.

Alix aber betrachtet nur noch Stephan, den jungen König von Jerusalem. In seinem in die Weite staunenden Blick erkennt sie deutlich die unbegreifliche Kraft, die alle diese Knaben und Mädchen aus Bergen und Tälern an sich gezogen hat und jetzt in ihr Schicksal hineintreibt – auch sie! Und mit einem Gefühl scheuer Bewunderung legt sie in der verborgensten Tiefe ihres Herzens, mit freiwilligem Entschluß und doch ihr selber kaum bewußt, ihr Mädchenwesen in seine Hände.

So singen, fahren und wandern sie in den steigenden Tag hinein, welcher allmählich die Erde mit einem süßen, weißen Dunst übergießt. Eustachius sitzt hinter Alix, mit ihr auf demselben Wagen; sie weiß es. Und doch – wo ist Eustachius geblieben? 85

 


 << zurück weiter >>