Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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49. Leocadia

Sie sitzt im obersten Stockwerk des höchstgelegenen Hauses des steilen Maremmenstädtchens in der offenen Loggia, die Unterarme lässig auf das rote Gesimspolster aufgelegt, und schaut geruhsam über das zu ihren Füßen in die Tiefe sinkende Gewirr der Dächer hinweg, die sich so kreuz und quer durcheinanderschieben wie die Schicksale, welche unter ihnen sich erfüllen.

Was allein in ihre Höhe emporreicht, das sind die drei übriggebliebenen Säulen eines alten Aphroditetempels, welcher zu einer Zeit errichtet und besucht wurde, wo die Menschen der Liebe zwischen Mann und Weib noch nicht fluchten, sondern sie als heiligste Weltmacht priesen. An lichten Tagen zeigt sie sich hier, eine verspätete Himmlische, welche keine andere Verpflichtung anerkennt, als schön zu sein; und die Blicke, welche dann aus den abschüssigen Gassen und Gäßchen heimlich zu ihr emporgesandt werden, sind so gewiß, ihren goldenen Haarknoten in der Sonne leuchten zu sehen, als gewiß die Sonne selber am Himmel steht.

421 So thront sie über dieser kleinen, von einer wehrhaften Ringmauer umschlossenen Gemeinschaft von Menschen wie eine Schirmgöttin. Sie weiß: niemand würde es wagen, sie eine Dirne zu nennen und sie mit jenen feilen Weibern auf eine Stufe zu stellen, die früher auch in diesem Städtchen ihr Unwesen trieben, bald aber aus Mangel an Verdienst fortzogen; denn Mann und Jüngling hätten sich vor sich selber geschämt, sich an derartiges Gelichter wegzuwerfen, wo ihnen täglich ihre Schönheit vor Augen stand und jeder hoffen durfte, es werde der Tag kommen, wo sie ihn selber über ihre Schwelle rief. Alles sprach und spricht von ihr nur als von der »großen Freundin«; und nicht zuletzt die verheirateten Frauen lieben sie neidlos wie eine weise, ihnen nicht nur an Reiz, sondern auch an Güte überlegene Schwester.

»Geh zur Leocadia!« ist zum Kehrreim aller ehelichen Auseinandersetzungen und zuletzt zum allgemeinen geflügelten Wort geworden, das man sich in dem Städtchen überall dort an den Kopf wirft, wo man wünscht, der andere möchte Vernunft annehmen. Sogar im Palazzo Pubblico, der drunten bei der Piazza zinnengekrönt sich über die Häuser emporhebt, schloß einmal – so geht das Gerücht – ein übereifriger Ratsherr seine Entgegnung mit diesem Trumpf, der seinen Widersacher, der sich nicht hatte überzeugen lassen wollen, unter einem unsterblichen Gelächter begrub. Und seither erfreut sie sich einer fast abgöttischen Verehrung und fühlt sich von jedermann wie ein Kleinod angestaunt und um so zärtlicher behütet, als sie fremden Bewerbern, die ihr Ruf nicht selten anlockt, jedesmal unerschütterlich die Türe weist – worauf ihnen jeweilen von anderer Seite auch noch die Tore der Stadt gezeigt werden . . .

Jetzt schreitet drunten über den kleinen Platz vor ihrem 422 Haus der junge Priester, der erst vor zwei Monaten in das Städtchen versetzt wurde; und auch er kann sich nicht enthalten, einen verstohlenen Blick zu seinem wunderlichen Beichtkind emporzuwerfen, dem jetzt nicht nur das Leuchten seiner eigenen rotgoldblonden Haare, sondern außerdem noch der Abglanz der fern zum Horizont sinkenden Sonne das weiße, üppig blickende Antlitz verschönt. Sie bemerkt ihn, nickt ihm freundlich lächelnd zu und erinnert sich daran, wie sie vor vierzehn Tagen, als sie zum erstenmal zu ihm in die Beichte gegangen war, ihr Geständnis folgendermaßen schloß: »Ich weiß, daß als Sünde gilt, was ich tue; doch ich weiß auch, daß ich noch niemanden unglücklich gemacht, viele sogar vor manchen Unbedachtheiten bewahrt habe!«; und als der Mann Gottes sie in starrem Staunen fragte, wie so etwas nur möglich sei, teilte sie ihm, im Austausch gegen seine Gebote des Geistes, die Weisheit des Lebens mit: »In der Liebe ist entweder alles möglich oder alles unmöglich – es kommt ganz auf die Menschen an!« Und in der Tiefe ihres Herzens fragt sie sich kühl und sachlich, ohne Spott und ohne Neugierde, ob nicht dereinst auch dieser eifrige Bekenner des Wortes Christi an ihre Türe klopfen werde.

Der junge Priester aber, dem die Erinnerung an jene Beichte ebenfalls wieder durch den Kopf gegangen ist, denkt im Weiterschreiten darüber nach, wie ihm seither ihre stolze Rede von allen Seiten als Wahrheit bestätigt wurde. Bereits hat er eingesehen, daß er, mag er immerhin der Beichtvater des Städtchens sein, dieses in der Reife seiner Jahre stehende Weib wohl oder übel als dessen Beichtmutter wird gelten lassen müssen; und noch nie so sehr wie jetzt hat er bei sich die tiefe Erkenntnis gutgeheißen, daß, wenn zwei dasselbe tun, es doch nicht dasselbe ist. Und er hält sich einmal mehr ihre Geschichte vor Augen, 423 wie sie ihm von guten, mit der Lokalchronik vertrauten Freunden erzählt wurde und wie sie von jeher einer dem andern erzählt hat . . .

Vor anderthalb Jahrzehnten war Leocadia als schlanke Schönheit in Begleitung eines jungen Florentiners in das Städtchen gekommen und, als dieser ihr Liebhaber, von dem man annahm, er habe sie entführt, nach einer kurzen, heftigen Krankheit starb, unter allgemeiner Zustimmung in ihm zurückgeblieben; denn schon durch ihr bloßes Erscheinen hatte sie das Herz eines jeden einzelnen dermaßen für sich eingenommen, daß niemand sich vermaß, näher nach ihrer Herkunft zu forschen, sondern männiglich sich einfach ihrer beglückenden Gegenwart erfreute, alle aber, falls von anderer Seite Rechte auf sie geltend gemacht worden wären, eher sich in einen zweiten trojanischen Krieg gestürzt, als in ihre Auslieferung eingewilligt hätten. Sie trauerte ihrem verstorbenen Geliebten lange und innig nach und gab mehreren Bewerbern um ihre Hand freundlich, aber bestimmt zu verstehen, daß sie nach dem ersten Mann, den sie als ihren rechtmäßigen Gatten betrachte, keinem andern mehr fürs Leben angehören könne: dagegen ließ ihre lächelnde, fast kindliche Natürlichkeit es nicht zu, daß sie, wie vielleicht eine andere es getan hätte, gegen die Forderungen ihrer jungen und heißen Sinne einen ebenso törichten als nutzlosen Kampf unternahm; und so kam es, daß sie die Männer, die sie als Gatten ablehnte, gern als Freunde annahm und ihnen auch ihrerseits eine gute und ehrliche Freundin wurde. Mochten sich daraus auch mehrfach nicht ganz einfache Verhältnisse ergeben, so gelang es doch immer ihrem Feingefühl und der Güte, mit welcher sie nicht nur das augenblickliche Glück ihrer Liebhaber, sondern ihr wirkliches Bestes im Auge hatte, die dunklen Mächte 424 eifersüchtiger Begehrlichkeit zu bannen und sich bei allen, denen sie ihre Liebe schenkte, auch über die Zeit ihrer näheren Bekanntschaft hinaus in dankbarer Verehrung zu erhalten.

Sie ließ sich niemals kaufen und verkehrte mit keinem Manne, den sie nicht um seiner selbst willen achten konnte; und nur, wer ihr das, was sie zum Leben brauchte, mit derselben Zartheit zu schenken verstand, mit welcher sie ihm durch ihre Liebe Freude in sein Leben brachte, durfte hoffen, daß seine Gabe nicht zurückgewiesen werde. Schüttete ein verheirateter Mann ihr sein Herz ans, indem er erklärte, bei ihr alles das zu finden, was er in seiner Ehe entbehren müsse, so kannte sie kein höheres Ziel, als ihn früher oder später, wenn sein Blut sich abgekühlt hatte, in die Arme seiner Gattin zurückzuführen, indem sie ihn deren gute Eigenschaften besser als bisher schätzen lehrte; und manchem Jüngling, dem sie von ihrem Fenster herab noch bei seinen Knabenspielen zugeschaut hatte, sänftigte sie eines Tages den wilden Sturm seiner unberatenen Männlichkeit, indem sie ihm gleichzeitig von dem Erlebnis der Geschlechter mit überlegener Hand den Fluch wegnahm, welcher schon seit Adams und Evas Zeiten auf ihm lastet. Aber nicht nur wie eine weise Mutter, sondern wirklich wie eine Göttin thronte sie über den sehnsüchtig aufblickenden Augen der Jugend: die Knaben träumten – wie von einer Auszeichnung, die nur den edelsten zuteil wurde – schon Jahre vorher von dem Tage, an welchem sie den stets verhüllten, aber der Sage nach mit Goldstaub besprenkelten milchweißen Frauenleib schauen und genießen durften, und verboten sich jede gemeine, herabwürdigende Rede über diese Dinge wie eine Gotteslästerung; und die Mädchen sahen in ihr das Vorbild eines Weibes, das für das verständige Maßhalten wie für das lächelnde Gewähren stets den richtigen 425 Zeitpunkt zu wählen verstand und sich dadurch über den Mann eine eben so schöne als berechtigte Herrschaft sicherte; und kaum eine Jungfrau trat in den Ehestand ein, ohne sich vorher bei ihr den gerne und natürlich erteilten Rat geholt zu haben.

Nun hatte Leocadia wenige Jahre, nachdem sie in das Städtchen gekommen war, einen etwa dreijährigen Knaben an Kindesstatt angenommen. Jedermann, und später auch der Knabe selbst, glaubte, daß er ihr leiblicher Sohn sei; und allgemein ging die Vermutung dahin – und sie widersprach ihr nicht –, daß sie ihn von einem früheren Liebhaber empfangen, ihn aber erst, als ihre Verhältnisse es ihr erlaubten, in ihr Haus geholt habe: er war aber in Tat und Wahrheit der mit einem andern Weibe zusammen gezeugte natürliche Sohn jenes in der ganzen Stadt hochangesehenen Mannes, welcher ihr, als sie durch jähe Schicksalsfügung plötzlich allein im Leben stand, zuallererst seinen Schutz hatte angedeihen lassen. Als bald darauf auch er zum Sterben kam, versprach sie ihm aus Dankbarkeit dafür, den Knaben wie ihren eigenen Sohn zu behüten und zu erziehen, zumal ihr die Natur, wie um sie nicht von der ihr besonders zugedachten Aufgabe abzulenken, eigene Kinder zu versagen schien; und die Erfüllung dieses ihres Versprechens wurde ihr um so leichter gemacht, als sich die Achtung, deren sie sich bei den Leuten erfreute, auch auf den jungen Giovanni übertrug und es ihr ermöglichte, den Heranwachsenden bei dem berühmten Schwertfeger des Städtchens in die Lehre zu geben . . .

Das ist die Geschichte Leocadias, die immer noch in ihrer hohen Loggia sitzt, die Vorderarme auf den roten Polsterkissen ruhen läßt und nachdenklich über die so eng ineinandergedrängten Dächer hinunterschaut, deren Geheimnisse sie meistens besser kennt als diejenigen, welche unter ihnen hausen. Sie bemerkt 426 nicht, daß drin in der Stube die Türe gegangen ist und daß schon eine geraume Weile Giovanni hinter ihr steht und über ihr Haupt hinweg sehnsüchtig nach der Sonne ausblickt, die blutigrot in die ferne, bereits ergraute Ebene hineinsinkt. Und so ahnt sie auch nicht, wie gewaltsam er seine Augen zwingen muß, daß sie nicht unversehens statt der Ferne die Nähe, statt des verdämmernden Sumpflandes die weißleuchtenden Hügelhänge ihrer Schultern in sich aufnehmen.

Wie sie endlich auf ein Geräusch, das er macht, sich umdreht, sieht sie ihn, mit einem blanken Schwerte beschäftigt, dicht vor ihr. Er fährt wie prüfend mit dem Finger über die Schneide und beginnt, ohne daß sie ihn zu fragen brauchte, mit dunkler Stimme und gesenkten Lidern: »Mutter, laß mich ins heilige Land wallfahrten, damit mir Gott den Frieden der Seele wiedergibt! Auch heute Nacht werden die jungen Streiter Christi draußen auf der Heerstraße nach Rom ziehen und von dort weiter, nach Jerusalem. Ich muß aufbrechen, wenn ich sie noch erreichen und des Segens teilhaftig werden will, der auf ihren Wegen liegt –«

Sie starrt ihn an, sieht, wie seine Lippen zucken, und begreift auf einmal, daß der schon lange vorausgeahnte und befürchtete Entscheidungskampf da ist; und daß er von ihr durchgekämpft werden muß, wenn sie ihn, den sie am meisten liebt, vor der größten Gefahr seines Lebens soll bewahren können.

»Giovannino! So bleib doch bei mir!« bittet sie ihn zuerst einfach und natürlich. »Wie kannst du's nur übers Herz bringen, mich, mich verlassen zu wollen?«

Er wendet sich von ihr ab und blickt starr in die weite, abendlich ergraute Welt hinaus . . . »O, die andern haben es alle gut – nur ich nicht, nur ich nicht!«

427 »Was weiß du von andern?« fragt sie leise und staunt über sich selbst, daß ihre Stimme zittert. Wie hat sie, die Welterfahrene, sich jemals in dem Glauben wiegen können, er allein ahne nichts!

»Ich weiß alles!« ruft er bitter. Und plötzlich stürzt er vor ihr auf die Knie und birgt seine Stirn in ihrem Schoß. – »Mutter, du bist mein Unglück!« schluchzt er. »Wer eine solche Mutter hat, kann kein Mädchen mehr lieben . . .«

»Giovannino! Du guter, junger Kindskopf!« lächelt sie über ihn hin, indem sie mit ihrer feinen Hand in seine Haare greift. »So küß mich doch! Warum denn nicht?« Und sie zieht sein Haupt, das angstvoll zu ihr emporblickt, mit beiden Händen zu einem Kusse an ihre Lippen. Und dieser Kuß ist anders als alle Küsse, die sie ihm jemals gegeben hat.

»Laß mich! Laß! Du bist meine Mutter!« schaudert er von ihr zurück, schnellt in die Höhe und legt mit einem furchtbaren Blicke die Hand auf die Brüstung. »Wenn du mich nicht fortläßt . . . weit, weit fort, wo ich dich nie mehr sehe . . ., so springe ich hier hinunter –«

Da erhebt auch sie sich und steht in voller Größe und Schönheit vor ihm da, so daß er bei aller Sprungbereitschaft doch den Blick nicht von ihr wenden kann. Sie erscheint ihm so herrlich wie einer der goldenen Sterne, die jetzt schimmernd aus dem fernen Weltall durch die irdischen Dünste herstrahlen. Und er trinkt mit allen seinen Sinnen ihre Worte in sich ein, schon an ihrem Klang sich berauschend, noch bevor er ihre Bedeutung versteht –

»Ich schwöre dir bei dem heiligen Grabe, nach welchem du wallfahrten willst: ich bin nicht anders deine Mutter, als auch Eva unser aller Mutter ist! Gott hat mir keine Kinder 428 geschenkt: darum habe ich dich zu mir genommen . . . Kannst du mir grollen, daß ich dir dieses Geheimnis bis heute verschwieg? Du hast in mir eine Mutter gehabt, solange du eine Mutter nötig hattest; nun aber bedarfst du des Weibes . . . Glaubst du wirklich, ich lasse dich mit all den verblendeten Schwärmern da draußen ins Verderben rennen, nachdem ich so manchem, der aus dem gleichen Grunde wie du eine Unklugheit begehen wollte, den Verstand zurückgegeben habe?«

Wieder spielt ein Lächeln um ihre reifen Lippen, lockend und verheißend zugleich und doch von jener mütterlichen Liebe verklärt, die alles Gemeine, Häßliche, wie von ihrem Leben so auch von diesem höchsten Augenblicke ihres Lebens fernhält.

»Bleib noch diese eine Nacht bei mir, Giovannino,« flüstert sie, in stummer Hingebung ihre Lider senkend – »und dann sag mir, ob du wirklich das Kreuz nehmen willst! . . .«

Ohne Widerstand, als glückliche und glückbringende Beute, läßt sie sich von dem aufjauchzenden Jüngling umfangen, auf die Arme heben und zum Lager hineintragen. Und sie ist ihm die Göttin, die er sich immer erträumt hat; und der Dank, den er an ihrer Brust stammelt, will ihr als das schönste Gebet erscheinen, das jemals einer Göttin dargebracht wurde. Wie er bereits im Schlummer der Erlösung daliegt, steht sie immer noch neben ihm, breitet sorglich die Decke über ihn aus, beugt sich liebevoll zu ihm nieder und kann sich von seinem Anblick nicht trennen.

Endlich schreitet sie auf leisen Sohlen in die Loggia hinaus, läßt sich auf ihren Stuhl nieder und legt die Arme auf die gepolsterte Brüstung. Vor ihr sinkt das Dächergewirr zu der Ebene hinunter, die sich weithin im Mondlicht breitet: es ist so still, daß sie von drinnen die kräftigen Atemzüge des 429 Jünglings und in sich selber das verebbende Brausen des Blutes hört. Und jetzt dringt aus verlorener Ferne, kaum wahrnehmbar, der brünstige Gesang kreuzfahrender Jugend durch die laue Sommernacht . . .

Sie aber lächelt, eine Siegerin über das Schicksal, die das Geheimnis aller Geheimnisse weiß.

 


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