Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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Viertes Buch:

Die Erfüllung

 

1. Auf hoher See

Der erste Morgen graut auf dem Meer.

Die Kinder, die kaum geschlafen haben, stehen an der Schiffsbrüstung und staunen. Nun ist wahr geworden, was ihnen Bruder Augustin gesagt hat: ringsum nichts als Wasser, dunkles Wasser; und darüber der blaßblaue Himmel, in welchem langsam die Sonne hochsteigt. Und in einiger Entfernung auf der weiten grünlichen Fläche gleiten, auf jeder Seite drei, mit mächtig gebauschten Segeln und ragenden Schnäbeln die andern Galeeren dahin.

Eine salzige Brise kräuselt leichte Wellen auf das Meer und greift den Jünglingen und Mädchen wie ein rauhes Schicksal, das nichts weiß von ihren Sehnsüchten, ans Herz. Schwarzer Hunger zehrt an ihnen. Aber was erhalten sie von den Schiffsknechten heute für ein Essen vorgesetzt? Sie können es nicht anrühren. Und während sie noch in die schmutzigen Schüsseln voll stinkender Fischresten hineinstarren, rauscht knatternd am Hauptmast eine rote Flagge mit dem weißen Halbmond empor.

»Das Banner der Ungläubigen!« schreit Bruder Augustin und staunt mit zahnlosem Munde in die Höhe, wo die Fahne wie ein böses Wunder flattert.

»Halt's Maul, du alter Schafskopf!« stößt ihn einer der Galeoten in die Seite. »Das ist doch nur, damit uns keine – Seeräuber anfallen!«

Und ein gröhlendes Gelächter bricht von allen Seiten über die jungen Kreuzfahrer herein, die schon in den emsigen 240 Bewegungen der Schiffsknechte einen neuen Sinn wittern und nun durch diesen laut sie umhallenden Hohn von der erst undeutlich geahnten Ungeheuerlichkeit sich nicht anders getrennt fühlen, als die dünnen Planken der Galeere sie von der Tiefe des Meeres trennen. Eine innere Stimme sagt ihnen: Es bedarf einer Kleinigkeit, so stürzt die Schutzwand zwischen ihren Leben und der Vernichtung zusammen. Sie sind verloren.

Totenblaß starrt Ellenor, welche die andern um halbe Kopfeslänge überragt, in die Ferne. Bis endlich ihre irrenden Blicke zurückkehrend, mit denen Stephans zusammentreffen, der neben ihr steht und sie mit derselben Bestürzung, die sich auf allen ihren Gesichtern malt, fragend betrachtet. Was bedeutete dieses plötzliche Jauchzen und Johlen der Matrosen? Warum machen sie ihnen so boshafte Augen, als wären sie Katzen, die sich an eingefangene Vögel heranschleichen?

Es lag etwas in dem Gelächter von dem, was sie in der vergangenen Nacht in dem Bauche des Schiffes erduldeten: ein Gestank von faulem Fleisch und Fisch, von Kot und Urin, von erbrochener Speise; alles in den Sand versickert, welcher den Boden der Galeere als dauernder Ballast ausfüllt und auf dem sie, Leib an Leib gepreßt, vergebens zu schlafen versuchten, da immer wieder Mäuse und Ratten über sie hinwegsprangen. Mit welcher Dankbarkeit hatten sie frische Luft eingeatmet, als sie auf Leitern durch die fünf Luken das Deck erklettern und sich von den Strahlen der aufgehenden Sonne bescheinen lassen durften! Und mit welcher Wonne würden sie jetzt das Sonnenlicht des Himmels und den Salz- und Tanggeruch des Meeres in sich einschöpfen, wenn ihnen nicht aus den Mienen der Schiffsknechte immer mehr ein teuflisches Wissen um noch Schlimmeres entgegengrinste!

241 Da schmettern helle Trompetenstöße vom hintern Schiff; und es ist ihnen nicht anders zu Mute, als ertönten die Posaunen des Jüngsten Gerichtes. Was gibt es dort auf der erhöhten Brücke vor der Kajüte, wo vier Herolde stehen und in lange, goldig gleißende Röhren hineinblasen? Die Türe geht auf; und heraus tritt Meister Ferreus, den sie zuerst gar nicht kennen. Denn er trägt einen großen weißen Turban, unter welchem sein schmales Gesicht noch schmäler und gelber erscheint; und an der Seite, deutlich sichtbar auf seinem langen, weißwallenden Gewand, hängt ihm ein krummer Sarazenensäbel.

Ein Seufzerhauch des Entsetzens weht über die jungen Köpfe der Kreuzfahrer hinweg; sie können über ihr Schicksal immer weniger im Zweifel sein. Bruder Augustin aber, mit seinem kahlen, von weißen Löckchen umkränzten Schädel, nähert sich zitternd der Brücke, auf welcher der so wunderlich verkleidete Schiffspatron steht, und ruft voller Entrüstung: »Ist das die Art und Weise, wie fromme Pilger ins heilige Land fahren? Wenn uns schon die Flagge der Heiden vor Reuterschiffen bewahren soll, weil sie uns für ihresgleichen halten, so richtet wenigstens vorn im Bug ein Kreuz auf, damit man sieht, an welches Zeichen wir glauben!« – »Wir haben keine solche Vogelscheuche an Bord!« krächzt Meister Ferreus unter seinem Turban hervor; und wiederum, und stärker, wiehert das Gelächter der Mannschaft über das ganze Schiff hin.

Da lächelt und blinzelt Bruder Augustin lautlos überlegen und macht, sich um und um drehend, beruhigende Handbewegungen über seine lieben Kinder hin, die ihm, Jünglinge und Mädchen, angstvoll zuschauen. »So bin ich das Kreuz!« kichert er und humpelt unter dem mächtig gebauschten Segel durch nach der Spitze des Schiffes, wo er zum Erstaunen aller auf die Brüstung 242 hinaufklettert und, dem in der Tiefe schäumend dahinrauschenden Kiel vorausschauend, beide Arme seitwärts ausstreckt. Hinter ihm aber quillt aus gläubigen Herzen der Sang hervor, welcher sie, wie er sie über fremde Grenzen hinwegführte, so auch über die grenzenlose Wasserwüste des Meeres dahintragen soll:

»Nun laßt uns fromm in Scharen
So Berg als Tal durchfahren,
Bis wir das Land gewahren,
    Das uns der Glaube weist!

Was Schwert und Speer nicht taten,
Als sie der Stadt sich nahten,
Das muß dem Wort geraten,
    Das dich, Herr Jesus, preist!

Vorm Meer soll uns nicht bangen,
Zum Grab wir hingelangen,
Dort wird uns Gott empfangen:
    Uns schirmt der heilige Geist!«

Nun sind sie auf dem Meere! Nun tut ihnen not, daß ihren hilfesuchend ausgebreiteten jungen Armen aus dem Himmel zwei starke Vaterarme sich entgegenstrecken! Und während sie zusammen mit dem kindlich gläubigen alten Mönch die Hände und Herzen Gott öffnen und in den brünstigen Tönen ihres Gesanges sich in die Zuversicht auf seine Allmacht hineinschwingen, sehen sie in der blauen Sonnenweite das riesengroße Bildnis des Gekreuzigten vor sich, der allein das Erdenleid überwand und darum auch Überwindung lehren und zu ihr verhelfen kann . . .

243 Da gellt plötzlich von hinten die Stimme des Meisters Ferreus in die verhallenden Töne ihres Bittgesanges hinein. Und bevor sie nur merken, daß er Worte einer fremden Sprache gebraucht hat, schwingt sich auch schon einer der Galeoten mit einem Satz auf die Brustwehr des Schiffes, läuft wie ein häßlicher Affe auf ihr nach vorn, wo Bruder Augustin in seiner Verzückung das heilige Kreuz darstellt, und ruft, sich ihm nähernd: »Du wirst müde sein, Alter! Ich will dich ablösen –«; und gleichzeitig versetzt er ihm einen solchen Stoß, daß der alte Mönch mit flatternder Kutte den unfreiwilligen Sprung ins Meer hinabtut, wo er alsbald unter dem über ihn wegrauschenden Schiff verschwindet. Der Galeote aber, der seine Stelle eingenommen hat, verwirft jetzt ebenfalls die beiden Arme, nur daß er der entsetzt aufschreienden Kreuzfahrerjugend seine Fratze zukehrt, ja, ihr gar noch die Zunge herausstreckt, während er ihr mit dem erhobenen rechten Bein höhnisch zuwippt, als lüde er sie zum baldigen höllischen Tanze ein.

Und zum drittenmal erschallt das wiehernde Gelächter der Schiffsknechte, als wären alles verkappte Teufel, und stürzt das Geschrei und Gegröhle unheilverkündend über die Kinderscharen herein, die sich gegenseitig wie erschreckte Lämmer zusammendrängen und, indem sie sich umschlungen halten, scheue Blicke nach den erhöhten Hinterteil des Schiffes werfen: dort hat auf einem Lagerkissen mit untergeschlagenen Beinen der beturbante Patron Platz genommen und raucht, als ob nichts geschehen wäre, eine Wasserpfeife. Dann denken sie an Bruder Augustin: Aber so sehr sie auch zu beiden Seiten insgeheim das Meer durchforschen, der gute Bruder kommt nicht mehr zum Vorschein; und der Tod, den er eben jetzt unter dem langsam über ihn weggleitenden Schiffsbauch erlitt, rinnt als ein eisiger 244 Schauder ihnen allen über die schmalen Rücken und erinnert sie daran, daß der Übergang aus dem Sein in das Nichtsein so rasch wie ein Wimperzucken vor sich geht. Bruder Augustin ist in die dunkle Tiefe gesunken und mit ihm die Muschel in seinem Brotsack, die er einst am Strande dieses selben Meeres aufgelesen, jahrzehntelang als Erinnerungsstück aufbewahrt und auf der Reise den Kindern gezeigt hatte, damit ihr Rauschen ihnen eine Vorahnung des großen Naturwunders geben sollte.

Jetzt schwimmen sie alle auf ihm, hilflos seinen Launen und der Bosheit der Menschen ausgeliefert, die ihnen auf einmal beide gleich unberechenbar zu sein scheinen! Immer häufiger zeigt die Wasserwüste kleine Schaumwellen an ihrer Oberfläche, zwischen denen die runden, glatten Rücken von Delphinen blitzschnell auf- und untertauchen; und die blaue Farbe der Flut wird immer schärfer, die Sonne immer greller und heißer, und der Wind bläst immer steifer in das mächtige Segel. Sie sind in einer andern Welt, in welcher andere Gesetze gelten.

Alle Farben und alle Töne haben für die Augen und Ohren der in wachsendem Grauen erbebenden Jugend einen neuen, unheimlichen Sinn bekommen, den sie nicht länger mißverstehen können; und dazu wird von Zeit zu Zeit das jämmerliche Blöken eingesperrter Schafe hörbar, als ahnten diese deutlicher ihr Los und zögerten darum nicht, es laut vor sich hin zu klagen. Ellenor sieht mit großen, fragenden Augen und zuckenden Lippen auf Stephan – »Dort hinten sitzt der Teufel; und wir fahren in die Hölle!« flüstert er ihr blasse Antwort zu. Und von Mund zu Mund geht das Wort, während hunderte von Blicken auf das Meer hinausschweifen, wo auf beiden Seiten in weiten Entfernungen hinter ihnen die straffgeschwellten Segel der andern 245 Schiffe über das Wasser dahergeschwebt kommen. Haben auch sie den Bösen an Bord und steuern dem Verderben entgegen?

So stehen, sitzen, kauern die getäuschten jungen Kreuzfahrer und schauen immer wieder nach hinten, was sich Neues auf der Brücke vor dem Kastell begibt. Da wird auf einmal eine Blahe in der Höhe über sie weggezogen – denn dort, im Windschatten der Kajüte, ist es drückend heiß –; und jetzt – den Kreuzfahrern entfährt ein Schrei – kommt aus der Türe eine in weiße Tücher gehüllte Mohrin, welcher Augen und Zähne hell aus dem braunen Gesichte blinken. Sie steigt die steile, schmale Leitertreppe herunter, winkt ein paar Schiffsknechte heran, tritt mit ihnen unter die erschreckten Mädchen und greift nach einigem Durchmustern die drei schönsten mit ihrer dunklen Hand.

»Ich bin die Königin!« ruft Ellenor zurückweichend aus. »Was wollt ihr von mir?« Aber schon schlagen die Galeoten mit Tauen auf Stephan und die andern Jünglinge ein, die sich für sie zur Wehr setzen, und zerren die drei Auserwählten trotz ihrem Schreien und Sichsträuben mit sich fort, auf die Brücke hinauf. Gleichzeitig werden die übrigen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen im vordern Teile des Schiffes zusammengedrängt; und jetzt holen andere Schiffsknechte ein halbes Dutzend Schafe aus den großen Käfigen, in denen sie schon so lange und jämmerlich geblökt haben, schlachten sie mit breiten, blendenden Messern, die sich rasch rot färben, unter der Brücke ab und reichen die zerteilten Stücke einem riesigen Mohren, welcher alsbald auf einem Herd für den Patron das Mahl zuzubereiten beginnt.

Das Blut spritzt und rinnt hell leuchtend in der Sonne. Die wolligen Vließe werden den noch warmen Tieren wie überflüssige Winterpelze ausgezogen und die Rücken und Keulen auf den Rost gelegt, unter welchem mit wesenlosem Scheine das 246 Feuer flackert; und genährt werden die lodernden Flammen mit den Kreuz- und Fahnenstangen, die die Knechte den jugendlichen Pilgern abgenommen haben und jetzt unaufhörlich übers Knie brechen, ihr Knacken mit boshaftem Lachen begleitend. Und das alles wird den Kindern nur durch das Hin und Her dunkler Gestalten und das hastige Auf und Nieder emsiger Arme hindurch sichtbar, das sie wie die Tätigkeit einer fürchterlichen Maschine anmutet, die unter Schwatzen und Fuchteln, Röcheln und Zappeln Lebendiges zum Tode befördert und von der niemand recht weiß, wie weit ihr Wirkungskreis reicht. Was ist wohl mit Ellenor und den beiden andern Mädchen geschehen, die droben im Kastell verschwunden sind?

Es ist heißer Mittag geworden; das Schiff fliegt vor und mit dem Wind über die schaumgekrönten Wogen dahin. Da kommen droben auf der Brücke zwei Mohrenknaben aus dem Kastell heraus, um mit hohen Stangenwedeln dem Meister Ferreus Kühlung zuzufächeln; und jetzt – in weißwallende arabische Gewänder gekleidet und von der alten Mohrin gefolgt – Ellenor und die beiden andern Mädchen! Die Mohrin zeigt ihnen, was sie zu tun haben; und sie gehorchen mit bangen Blicken und zitternden Gliedern: Ellenor muß den Mundschenk spielen, die beiden andern Mädchen haben die Speisen zu zerlegen und dem Patron anzubieten; und immer verneigen sie sich mit der Stirne fast bis zum Boden.

»Das ist das Reich Satans!« murmelt Stephan, während all die andern schweigend hinstarren und sehen, wie der Patron seine Blicke bald auf diesem, bald auf jenem der ihn bedienenden Mädchen ruhen läßt. Meister Ferreus erwägt bei sich, wieviel er für diese schlanke Jugend lösen wird; und über dem Gedanken, ob er nicht wenigstens eine von ihnen sich selber gönnen 247 solle, geraten Geiz und Gier in ihm in einen solchen Widerstreit, daß er mehr als einmal den Bissen zum Munde zu führen vergißt. Vom Vorderschiff her sehen die jungen Kreuzfahrer, über das zur Metzgerei und Küche umgewandelte Mitteldeck hinweg, daß es eine gar sonderbare Mahlzeit ist, welche sich dort – zwischen der Furcht, verschlungen zu werden; und der Furcht, selber zu verschlingen – in langsamen Bewegungen abspielt: und ein Schauder überläuft sie in der Erwartung, was wohl dieser bedächtige Teufel – denn sie zweifeln nicht mehr, daß er es in Menschengestalt sei – mit den übrigen von ihnen vorhabe.

Da schrillt ein Pfiff über das Schiff hin, das unter seinem wuchtigen Segel ächzend einherrauscht; und alle die Galeoten kommen unter der Brücke des Hinterdeckes bei Schlachtbank und Kochherd zusammen, um sich's dort so sauwohl sein zu lassen, wie der Patron es ihnen schon lange versprochen hat. Über sie regieren der Steuermann und der Segelführer, welche ihnen die Braten austeilen; und jeder, der sein Stück erwischt hat, holt sich nachher an dem großen Faß drunten im dunklen Raum selber seine Tranksame; und bald fressen und saufen alle die braunen Kerle, als ob sie noch niemals im Leben Hunger und Durst gestillt hätten. Der Meister Ferreus auf seinem Lager aber raucht wieder mit untergeschlagenen Beinen die Wasserpfeife und läßt sich von der Mohrin ein stets aufs neue dunkel niedersinkendes Lied vorschreien, zu welchem die drei unglücklichen Kreuzfahrerinnen Tanzbewegungen ausführen müssen: als Mächtiger im Turban folgt er ihnen mit um so vergnügterem Augenblinzeln, als sie in ihrer Ungeschicktheit neben den eigenen Reizen noch den der tödlichen Angst an sich haben.

Über die Stange hinweg, die das zusammengepferchte junge Kreuzfahrervolk von der höllischen Prassergesellschaft trennt, 248 wird jetzt von ein paar Schiffsknechten in großen Kesseln der Rest des Mahles hinübergereicht, damit die in Furcht Bangenden ihn selber unter sich verteilen. Aber die meisten rühren die Fleischstücke kaum an: auch sie kommen sich in dem Käfig dieses Schiffes wie Schafe vor, die zur Schlachtbank geführt werden; und es ist ihnen, als ob, wenn sie von derselben Speise äßen wie ihre Schlächter, der gräßliche Zauber dieses Schiffes, der wie zum Spaß Leben in Tod verwandelt, noch rascher als sonst über sie Macht gewinnen könnte. Stephan hängt mit den Blicken unverwandt droben an Leonore, die sie ihm, wie den Gesetzen eines fremden Jenseits unterstellt, aus den langsamen Drehungen ihres Tanzes heraus mit wunden Augen und leise flüsternden Lippen erwidert: sie erinnert sich in Schmerz und Scham daran, wie sie, zusammen mit den beiden andern Mädchen, gleich einer Ware von der abscheulichen Mohrin untersucht wurde, die da unaufhörlich zu ihrer Trommel ihr eintöniges, müde absinkendes und doch immer wieder herb aufpeitschendes Lied singt.

Stephan fühlt mit der Hand unter sein Wams: noch trägt er den Brief Christi, der sie schon zweimal aus der Not gerettet hat, auf dem Herzen! Sollte es für sie nicht abermals einen Retter im Himmel geben? Er schaut in die Höhe, als müßte ihm von dorther Antwort kommen – und plötzlich sieht er die Sonne hinter einem trüben Wolkengespinst erbleichen und Himmel und Meer im Nu eine fahle Leichenfarbe annehmen. Und fängt das Schiff nicht an zu hüpfen? Sind die Schaumkronen der Wellen nicht breiter und wilder geworden? Wahrlich, der Wind schnaubt auf einmal in Stößen; und das Meer kocht zischend aus seinen Grundtiefen herauf.

Meister Ferreus, der sich etwas zu lange in der Betrachtung der sonderbaren Bauchtänzerinnen verlor, ist aufgestanden und 249 schreit von der Brücke herunter. Pfiffe ertönen; die Galeoten klettern mit unglaublicher Geschwindigkeit die Strickleitern hinauf. Das Segel einziehen! Das Segel einziehen! Aber schon braust der Sturm daher; und während aus jungen Kehlen ein vielhundertstimmiger Schreckensschrei ertönt, legt sich das Schiff unter dem jäh ausbrechenden Unwetter auf die Seite und beginnt, durch die Wogen stampfend, eine tolle Jagd: scheinbar Jäger, in Wirklichkeit Beute.

Verschwunden ist die Mohrin mit den drei Mädchen; nur noch Meister Ferreus im Turban steht vor dem Kastell und schreit aufs neue und flucht. Die Schiffsknechte springen unter die Kreuzfahrer hinein und treiben alle auf die obere Seite, damit ihr Gewicht das Schiff aufrichte – das ist ein Gewühl der jungen Leiber, die alle wieder über das schiefe Deck herunterrutschen wollen! Aber die besoffenen Kerle lachen nur und treiben mit harten Armen das junge Fleisch vor sich her, das ihnen in diesem Augenblick gerade als Ballast gut genug ist.

Da kracht und splittert es über ihren Köpfen. Der Mast ist geknickt, ehe das riesige Segel hat gerefft werden können: es flattert mit knackendem Gestänge und platzenden Tauen über Bord; und viele Galeoten stürzen mit in das brausende Meer, auf das in jähem Verdunkeln Nacht herniedersinkt, während jetzt ein erster Blitz knallt und allenthalben Feuerflämmchen aufleuchten. Das Schiff aber richtet sich wieder empor und schaukelt und tanzt auf dem finster rasenden Gewoge, von keiner Eigenkraft mehr getrieben und daher auch keinem Steuer mehr gehorchend: ein Spielzeug der Wellen.

Das ist die Hand Gottes, du Satan, du Teufel! will Stephan zur Brücke emporrufen, wo Meister Ferreus seine Befehle schreit. Aber schon gellt neben ihm eine Stimme: »Stephan, dein Brief! 250 Dein Brief allein kann uns noch retten!« Und er reißt das Pergament aus seinem Wams, rollt es auf und hält es beschwörend dem Sturm entgegen – Wo fliegt der Fetzen? Den Schreckensruf der Enttäuschten erstickt eine erste Woge, die über Bord schlägt und ein paar Jünglinge und Mädchen auf der andern Seite mit sich ins Meer hinunterreißt.

Meister Ferreus brüllt wie ein Wahnsinniger. Wenn ihm nur seine Ware nicht verloren geht! Und nun werden die Luken geöffnet und all das junge Volk von den Knechten und den über Bord leckenden Wellen in den dunklen Raum hinunter gestoßen und geschleudert, wo sie auf dem stinkenden Sand in wirren Haufen zu Ratten und Mäusen zu liegen kommen. Und während sie noch in dieser finstern Tiefe, durchnäßt und im Schwindel der Übelkeit, übereinander herkollern und vergebens sich zu halten und zu fassen versuchen, sind droben längst wieder alle Öffnungen geschlossen worden und hören sie nur noch wie aus weiter Ferne über sich das Gepfiff und Gekreisch der Obmänner und Galeoten und um sich in einem furchtbaren Brausen das Wüten des Meeres, von welchem sie jeden Augenblick fürchten müssen, daß es die dünne Holzverschalung zwischen seinen zusammenklatschenden Wogenbergen zerquetsche und gewaltsam ihr Leben in einer Welt beende, aus welcher ihre Angst flehentlicher denn je zu Gott emporseufzt . . .

 


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