Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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46. Alix und Ellenor

Drei Tage sind vergangen, seit sie von der bewaffneten Macht des Königs von Frankreich aufgehalten und, wo sie mühelos zum Meer hinunterzugleiten hofften, wiederum in die sommerliche Glut der Felder zurückgeworfen wurden; aber diesmal ohne die Wagen und Karren, welche ihnen vorher das Fortkommen in einer Weise erleichtert hatten, die sie erst jetzt recht zu schätzen anfangen.

211 Und während sie bis anhin auf die freundliche Hilfe der Leute sich verlassen durften, schweben sie jetzt immer in Furcht und Bangen, ob man ihnen nicht wieder mit Gewalt in den Weg treten werde. Sind sie noch in Frankreich oder haben sie schon die Grenze hinter sich? Und wenn sie im fremden Lande stehen, worauf werden sie gefaßt sein müssen bei den schlimmen Gerüchten, die sie unterwegs vernommen haben?

Da sie alsbald die Heerstraße mieden und stets im Freien übernachteten, hat ihr kleiner Trupp keine Menschen mehr getroffen, sondern sich von den eigenen schmalen Reisevorräten und den Früchten des Feldes genährt. Noch stärker aber als ihre äußern Erlebnisse beschäftigt sie alle die wunderbare Beglaubigung des Himmels, welche Stephan in seinem Briefe mit sich führt: als sie um den ohnmächtig Zusammengebrochenen an Ort und Stelle unter dem aufglitzernden Sternenhimmel sich zu lagern anfingen, hatte Alix das Pergament, mit dem aufgemalten blutigen Kreuz als einzigem Inhalt, in Verwahrung genommen, es aber noch in derselben Nacht an Ellenor abtreten müssen, die ihre Rechte als Königin geltend machte; und unvergeßlich blieb ihnen allen der Blick tiefsten Entsetzens, mit welchem Stephan beim nächsten Tagesgrauen, als Ellenor ihm das göttliche Sendschreiben zurückgab, selber das furchtbare Zeichen betrachtete. Während sie, die von Stephans Schwäche auf offenem Felde überrascht worden waren, in Erwartung etwaiger Verfolger noch vor Sonnenaufgang einem schützenden Wäldchen zustrebten, wollte ihnen plötzlich eine innere Stimme zuflüstern, daß sie nicht einem Auserwählten, sondern einem Gezeichneten folgten und mit besserem Recht als vor jeder andern Gefahr vor ihm die Flucht ergriffen; und auch jetzt noch, Tage nachher, betrachten sie ihn mit einer Scheu, die seiner 212 eigenen Versonnenheit entspricht und sich allmählich zu einer gegenseitigen Entfremdung auszuwachsen droht.

Von den Kundschaftern, die Stephan alsbald aus seinen Paladinen ausgewählt und unter Eustachius' Führung vorausgeschickt hatte, kehren jeweilen gegen Abend zwei zurück, um während der Nacht die Hauptschar nachzuholen. Bis jetzt haben sie nichts Beunruhigendes entdeckt und auch die Leute, die sie antrafen, eher gleichgültig als feindselig gefunden; und bereits machen einige der Paladine den Vorschlag, künftig ohne Vorhut vorwärts zu marschieren, damit endlich das Meer erreicht werde. Vor allem sehnen sie sich darnach, den Druck von sich genommen zu sehen, der von Stephans verändertem Wesen ausgeht und noch mehr als der Gedanke an Hindernisse und Gefahren die alte Wanderlust in ein bängliches Zittern und Zagen verwandelt hat.

Während der langen, tatenlosen Aufenthalte über die Mittagshitze und überhaupt während der Tageshelle in irgendeinem Gehölz sondert Stephan sich jedesmal von den andern ab; und die ihm heimlich nachgehen und ihn beobachten, können sehen, wie er immer wieder das Pergament aus seinem Wamse hervorzieht und sich mit brennenden Blicken in sein endlich geoffenbartes, doch darum nicht minder dunkles Geheimnis versenkt. Von diesem Zeichen, mit welchem er die Söldner des Königs von Frankreich in die Flucht schlug, fühlt er sich, so vieldeutig auch seine Sprache ist, lange Zeit selber geschlagen. Besagt es, daß er sich und alle, die ihm vertrauen, nur einer neuen Kreuzigung entgegenführen wird? Will es ihn daran erinnern, daß auch ein Nachfolger Christi vor der Hingabe seines Blutes nicht zurückschrecken darf, wenn er sich und die Seinen erlösen möchte? Oder soll es ihn nur stärken für alle Schrecken des Ketzerkrieges, 213 in den sie hineinwandern, und sein Herz abhärten gegen das Mitleid mit jenen, die den heiligen Glauben trüben und fälschen? In diesem heftigen Ansturm zweifelnder Gedanken klammert er sich zuletzt an der Tatsache fest, daß dieses Kreuz, was immer sein Sinn sein mag, ihnen jedenfalls geholfen hat; und daß darum auch das ganze ihm auf so wundersame Weise zugekommene Dokument weiterhin Vertrauen verdient . . :

»Er wird uns noch alle ins Unglück führen,« flüstert Ellenor bleich, indem sie ihren Schritt hemmt und auf Stephan zeigt, den sie unvermutet drunten im Bäumeschatten sitzen sieht, seinen auf den Knien ausgebreiteten Brief befragend. »Wo ist der Bauer Christian geblieben? Was mag aus den vielen andern Scharen an der Grenze geworden sein? Und haben wir nicht schon aus unsern Reihen den und jenen verloren? So werden wir bald eins ums andere abfallen wie Blätter vom Baum.«

»Warum bleibst du denn noch bei ihm?« fragt Alix, welcher eine Blutwelle rot in die Wangen schießt; und sie steht an dem bewaldeten Abhang, an welchem sie um eine Ecke herumgeschwenkt sind, ebenfalls still. »Warum schwärmst du nicht mit Eustachius voraus und rettest dich, bevor auch du abfällst wie ein Blatt vom Baum?«

»Ich bin nun einmal die Königin!« versetzt Ellenor mit Hoheit, indem sie ihr Haupt reckt und Alix herablassend über die Schulter betrachtet. »Ich harre auf meinem Posten aus, wie es meine Pflicht ist.«

»Aber du glaubst nicht an ihn!« wirft Alix ihr unter Tränen des Zornes vor, indem sie dicht vor Ellenor hintritt. »O, ich fühle es schon längst: du zweifelst an dir, an ihm und an uns allen!«

»Würdest du an ihn glauben, wenn du ihn nicht liebtest? 214 Und liebe ich ihn nicht besser, wenn ich trotz meinen Zweifeln bei ihm bleibe?«

Nach dieser letzten Rede und Gegenrede, bei welcher die beiden Mädchen wie zwei Nebenbuhlerinnen Auge in Auge bohrten, wenden sie, verstummend, ihre Häupter und Blicke Stephan zu und schauen ihm aus ihrer Höhe herab in sein entrolltes Pergament, auf welchem das blutige Kreuz ganz schwarz erscheint und ihnen wie ein am Ende eines langen Weges sich erhebendes Friedhofkreuz vorkommen will. Wer von ihnen wird auf der Fahrt nach diesem Ziel länger bei ihm aushalten – fragen sie sich in der Tiefe ihrer Herzen –: die Liebe oder die Pflicht; das Weib oder die Königin? Und indem jede von ihnen von ihrem Siege überzeugt ist, nehmen sie zugleich als selbstverständlich an, daß die Entscheidung hierüber ganz nur werde in ihre Hände gelegt und von nichts anderem als von ihrem Willen abhängig sein.

». . . Und wenn ihm auch ein Betrüger diesen Brief gegeben hätte,« redet Ellenor mit lichter Entschlossenheit vor sich hin: »Nicht weil dieser Brief, sondern weil sein Glaube für ihn zeugt, würde ich bei ihm bleiben . . .«

»Ellenor?« schreit Alix leise auf und starrt sie an, als hätte dieses Wort einen Abgrund vor ihr geöffnet. Der Brief Betrug? Ein solcher Gedanke ist ihr noch nie gekommen!

Und wiederum versuchen sie, sich gegenseitig mit ihren Blicken auf den Grund der Seele zu tauchen. Ellenor weiß, wie man seine Zwecke auch auf Umwegen erreicht – oder hat sie nicht von der Mutter ihre Freundinnen einladen lassen, um, wie sie sagte, von der Jugend Abschied zu nehmen, in Wirklichkeit, um mit ihnen diese abenteuerliche Reise anzutreten, welche sie jetzt nach vor- und rückwärts mit gleicher Not bedrängt? 215 Alix aber, die ihre Mutter nicht fliehen, sondern suchen wollte, kann nicht begreifen, wie ein Mensch es sollte übers Herz bringen können, andere mit Wissen und Absicht in ihr Verderben zu schicken.

Da sehen sie, wie unten am Waldhang mit den Paladinen die Knaben und Mädchen um die Ecke herumkommen, in ihrer Mitte Eustachius führend, der heute selber und mit allen seinen Kundschaftern zurückgekehrt ist. Sie suchen Stephan auf und nähern sich ihm jetzt, wo sie ihn erblickt haben, nicht anders, als Alix und Ellenor und die übrigen Kinder es von oben her tun, so daß sie alsbald den aus seinen Betrachtungen Aufblickenden im Kreise umgeben. Und Eustachius beginnt seinen Bericht: daß hier fürs erste die Gegend noch sicher sei; daß sie aber schon nach wenigen Tagen in das Gebiet der gegen die Ketzer geführten Kämpfe geraten werden; und daß ein wohlmeinender alter Mann sie bei dem Heile des Leibes wie der Seele beschworen habe, rechtzeitig umzukehren und sich in Sicherheit zu bringen.

Da erhebt sich Stephan, hält ihnen das Pergament mit dem Kreuze entgegen und lächelt jenes gläubige Lächeln in ihre angstvoll fragenden Blicke hinein, das sie an ihm von früher her kennen und das auch heute noch seine Macht über sie nicht verloren hat.

»Diese Söhne der Welt raten uns nur deshalb von unserem Zuge ab, weil sie voll Verdruß sind darüber, daß wir Kinder wagen, wozu sie mit all ihren Jahren sich nicht mehr aufraffen können! Unrecht haben wir getan, daß wir uns von ihrer Gewalttätigkeit erschrecken und in diese Verborgenheit treiben ließen, statt daß wir wie früher voll ehrlichen Mutes mitten auf der Heerstraße einherziehen; wir, die wir keine Ketzer sind, 216 sondern die gläubigen Befreier des Grabes Christi. Wahrlich, ich habe die Anfechtung, die mir der Böse sandte, überwunden und weiß jetzt: Dieses Zeichen hat noch keinen betrogen, der reinen Herzens war . . .«

»In diesem Zeichen wirst du siegen!« ruft Eustachius, welcher über Stephan hinweg unverwandt Ellenor angeschaut und aus ihrem Lächeln eine wundersame Begeisterung geschöpft hat. Es ist die drängende Kraft der Jugend, welche sie stirnrunzelnd seinem Bericht zuhören, Stephans Rede aber mit so leuchtenden Blicken begleiten ließ, daß sie auch in Eustachius alle Besorgnisse zerstreuten. Und so gehört er zu den ersten, die in den alten Ruf einstimmen: »Auf, nach Jerusalem!«

»Auf, nach Jerusalem!« antwortet Ellenor jauchzend aus ihrer Höhe herab; und sie erhebt den Arm mit einer Gebärde, als wollte sie sagen: Wohin ginge ich nicht mit dir? Alix aber ist stumm an die Seite Stephans geeilt, wie um ihn ihrer Treue zu versichern und gleichsam mit ihrem Leibe die Zweifel von ihm fernzuhalten, die ihn in diesen letzten Tagen bestürmten. Unterdessen wiederholen die Paladine und die übrigen Kinder den heiligen Ruf, flößen sich alle gegenseitig neue Tapferkeit und Unternehmungslust ein und stehen im Nu in der gewohnten Marschkolonne reisebereit da.

Noch haben sie ihre Fahnen und Kreuze bei sich; und jetzt auch wieder die rechte Zuversicht im Herzen. Stephan, der die Pergamentrolle am alten Ort unter seinem Wamse barg, tritt mit Ellenor an die Spitze, während auch Alix und Eustachius sich wieder zusammmengefunden haben: wie das nun einmal allen zur feststehenden Ordnung geworden ist, an welcher nicht gerüttelt werden darf. Und so – die Paladine voraus, der übrige Zug der Knaben und Mädchen in ihrem Rücken – 217 wandern sie durch den lauwarm sinkenden Abend über die Felder der offenen Heerstraße zu, um auf ihr, entschlossen und gefaßt zugleich, ihrem weitern Schicksal entgegenzugehen.

 


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