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Die Ruhigen. Die Betrogenen. Die Hirnwütigen

Halten wir wieder mal eine Rundschau auf dem Theater des Krieges. Die Ereignisse sind bekannt und kommen hier nur insofern in Betracht, als sie unser elsässisches Volksleben berühren. War das Gefecht bei Weißenburg schon von schlimmer Vorbedeutung, so ist die Niederlage bei Wörth von der verhängnisvollsten Tragweite für den ganzen Feldzug: Mac Mahon, auf den der Kaiser, das Heer und das Volk ihr bestes Vertrauen stützten – Mac Mahon ist aufs Haupt geschlagen; die afrikanischen Kerntruppen, der Stolz und Schrecken der Rheinarmee, sind aufgerieben; das Elsaß, die schönste Provinz des Landes, ist vom Feinde überflutet; die Vogesen, wo einst unsere Väter der Invasion unter Tod und Vernichtung ein Ende machten, stehen offen, und der sieggekrönte Teutone verfolgt den fliehenden Gallier auf den Fersen nach den katalaunischen Feldern … Ein ahnungsschweres Beben durchschauert alle Herzen und von Basel bis nach Weißenburg schwebt auf allen Lippen nur noch eine Frage: »Wo ist Frankreich? Wo ist unser großes, unüberwindliches Vaterland?« Die Antwort folgt in Donnerstreichen: »Spichern, Vionville, Mars-la-Tour, Gravelotte, Sedan, Straßburg!«

O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt! Warum haben sie dich am 7. August nicht ohne Schwertstreich genommen? Sie haben nicht gewollt – oder nicht gewußt, wie nackt und öde deine Mauern dastanden … Sie haben dich mit eiserner Umarmung eingeschlossen, an allen Orten geängstet, mit Schrecken, Feuer, Tod und Verderben überschüttet. – Wir haben jeden Schuß vernommen, jede Brandgranate fliegen sehen, die auf deines Hauptes Krone, auf deine wehrlosen Bürger gefahren … Endlich bist du gefallen und wir hören noch in unsern Ohren des alten Werder Donnerstimme in St. Thomas Hallen: »Jetzt sind wir hier und danken Gott für das, was er an uns getan hat!«

Auf Straßburgs rauchendem Trümmerhaufen ist auch unser Schicksal entschieden. Was Frankreich mit dem linken Rheinufer sicher getan hätte, wenn sein Siegesstern nicht erblichen wäre, das will Deutschland bei seinen ungeheuern Erfolgen mit dem rechten nicht versäumen. Das eroberte Elsaß-Lothringen bleibt der Lohn seiner blutigen Opfer. Das sind, wie gesagt, die bekannten Tatsachen, welche die Geschichte aus den letzten August- und Septembertagen zu verzeichnen hat. Was aber nicht so bekannt ist und worauf es bei unserer Aufgabe besonders ankommt, das sind die seltsamen Erfahrungen, die wir im Verlaufe jener Zeit und im Gefolge jener Begebenheiten machen dürfen.

Zuerst einiges Nähere über die Nachrichtsquellen. Man kann sich denken, wie gespannt, wie heißhungrig in solchen Tagen das Volksgemüt nach Neuigkeiten verlangt. »Was ist schon wieder geschehen? Sieg oder Niederlage? Franzosen oder Preußen?« – Hierzulande erfahren wir alles durch doppelte grundverschiedene Depeschen. Die einen stammen aus dem deutschen Hauptquartier oder von der provisorischen deutschen Regierung. Sie enthalten ein paar kurze, nüchterne Worte: So und so, nicht mehr und nicht weniger – aber allemal gerade genug, um ganz Europa zu verkündigen: »Die Franzosen sind geschlagen – Bazaine ist rettungslos nach Metz zurückgeworfen – Napoleon ist gefangen – das Kaiserreich in Trümmern – die ganze Armee entwaffnet – Straßburg genommen« usw. Wie Keulenschläge fahren diese Depeschen auf unsere Köpfe und was das merkwürdigste bei denselben ist, sie sind allemal buchstäblich wahr von A bis Z – und wer sie nicht glauben will und nicht glauben mag, der kann sich doch zwei bis drei Tage nachher der Macht der Tatsachen nicht mehr verschließen: »'s ist also doch so.« – Da läßt sich nichts mehr wegzweifeln, wegjammern – das sind Gottes Gedanken, Gottes Führungen in der Geschichte … Man ergibt sich drein; wer will's ändern? – »Und 's ist doch nicht wahr, 's ist nicht möglich! Wir können's nicht glauben! Wer's glaubt, ist ein Schurke, ein elender Prussien! Da sind auch andere Depeschen! Da schau, lies, hör, sperr Nas und Maul auf, du dummer elsässischer Bauer!« – In der Tat, da sind andere Depeschen, ganze Massen französischer Depeschen – … Woher des Weges? – Das will niemand wissen, keiner sagen … Etliche wissen's aber doch – sie kommen nicht alle von jenseits der Vogesen; im Elsaß kann man im Notfall auch Depeschen fabrizieren. Und durch wen? Geheime Boten tragen sie auf der bloßen Haut, in den Stiefeln, im Munde herum und schieben sie, wo's nicht anders geht, des Nachts durch die Türspalten in die Häuser … Und der Inhalt? – »O Elsaß! verzage nicht! Nur Geduld, nur Glauben, nur Hoffnung! Frankreich bekommt Hilfe! Die Bayern sind müde; Österreich kann nicht mehr länger zusehen; Rußland steht in Waffen! Der heilige Vater betet; die Himmelskönigin wird hören; Frankreich wird siegen!« usw. usw. Eine andere Sorte von Depeschen: »Bei Chaumont haben unsere Truppen 50 000 Preußen in eine Steingrube geworfen und Schutzmauern aus ihren Leichen aufgetürmt! – Mac Mahon lockt den Feind in die Ebene von Chalons, eine zweite Hunnenschlacht wird sie alle vernichten. – Bourbaki wird in den nächsten Tagen Straßburg entsetzen – dann wehe Baden, Württemberg, Bayern … Ein großer schwarzer Sarg ist durch Hagenau transportiert worden: man sagt, der Kronprinz ist tot …« Jetzt stelle sich einer solchen Unsinn vor und denke sich recht lebendig in unsere Lage. Wie durch diese geheimen Depeschen die Neuigkeitswut sich aller Geister bemächtigt! Wie diese satanisch lügenhaften Siegeshoffnungen die Gemüter verwirren; die Herzen zu wirklich wahnsinniger »Vaterlandsliebe«, zu wahrhaft bestialischem Feindeshaß entflammen! O wehe den frevlen Händen, die dieses wilde Feuer sündlicher Leidenschaften angezündet haben! Sie wissen, daß sie lügen – aber pereat mundus, dummodo imperem! Jetzt werden wir unsers Lebens nicht mehr froh werden … jetzt sind wir nicht allein ein erobertes – und malgré tout wieder deutsch gewordenes, sondern vielleicht auf Generationen hinaus ein unglückliches, ruiniertes Volk! – Die Lüge, die Verblendung, die Unbußfertigkeit, das Mißtrauen, die Verleumdung, der Haß, die Rachsucht – mit einem Wort der Fanatismus in seiner wüstesten, verheerendsten Gestalt hat alle unsere Verhältnisse – unsere politischen, bürgerlichen, religiösen, ja Freundes- und Familienverhältnisse getrübt, vergiftet, zerfressen –! – Ja, noch einmal, wehe über die unsauberen Geister, die im düstern Hintergrunde lauern und mit dämonischer Schadenfreude Brand um Brand in diese Flammenglut werfen! Sie wissen, was sie tun, und die Geschichte wird ihnen einst das Kainszeichen auf die Stirne drücken – aber sie fürchten sich auch nicht vor der Geschichte, denn sie haben kein Gewissen.

Jetzt gibt es im Elsaß drei verschiedene Klassen von Menschen: Erstens die Ruhigen. Sie beugen sich unter die allmächtige Hand Gottes. – Sie erkennen in den großartigen Umwälzungen die Vorsehung dessen, der Krieg und Frieden schafft und sein Reich durch Gericht und Gnade auf Erden baut. Viele unter ihnen trennen sich mit Wehmut, mit aufrichtigem Schmerz vom alten Adoptivvaterland. Sie haben Frankreichs Volk und Sprache, Sitten und Eigenschaften kennen und lieben gelernt – und fürwahr, es ist dort noch mehr Schönes, Edles und Gutes, als man früher glaubte. – Sie sind auch durch soziale Bande oder Familienverhältnisse mit Frankreich verbunden. Es wird ihnen schwer, auf allen Lebensgebieten plötzlich von Westen nach Osten zu schauen. Aber sie sind doch ruhig und stille und bewahren, mitten im Gewühl entfesselter Leidenschaften, Vernunft und Menschenliebe. – Etliche unter ihnen begrüßen mit Freuden und Begeisterung die neue Ordnung der Dinge. Sie sind durch Abstammung, Studien, Berufs-, Familien- und Lebensverhältnisse nahe mit Deutschland verwandt; überschätzen wohl auch in jugendlicher oder poetischer oder religiöser Begeisterung die Vorzüge Deutschlands im Vergleich mit Frankreich. Einzelne Unklugheiten und allzuhochfliegende Zukunftsträume werden schon gebührend gestraft und vielleicht bald vereitelt werden. Aber sie meinen es ehrlich, und im Grunde, was geht mich die politische Denkweise meines Nächsten an?

Die Betrogenen. Das sind, auf allen sozialen Stufen, die gebildeten, ehrsamen, menschlich guten, auch religiös überzeugten Durchschnittsleute. Sie hängen mit fester Liebe und aufrichtiger Vaterlandstreue an Frankreich: an Frankreichs Landkarte, an Frankreichs Hauptstadt; an Frankreichs Ruhm; an Frankreichs Gesittung, Politik und Journalistik; an Frankreichs Mode, an Frankreichs Küche usw. usw. – nicht weil das alles schöner und besser sei als in Deutschland, sondern einzig und allein weil's französisch ist – noch einmal: weil's französisch ist. Wie gesagt – brave Leute. Was ihnen aber durchweg abgeht, ist jedes geschichtliche Sensorium. Sie haben keinen Blick in die großen allgemeinen Gedanken und Führungen Gottes; kein Gemerk über diesen ganzen Krieg, weder warum er eigentlich begonnen hat, noch wie er ausgehen möchte, noch was eigentlich hinter den Kulissen geplant war. – Sie sind die Betrogenen; sie glauben in ihrem philiströsen Chauvinismus die unmöglichsten Gerüchte, die unsinnigsten Faseleien: Frankreich wird siegen, muß siegen, »wir bleiben französisch«. – Aber die Tatsachen? – »Was Tatsachen? – Wir bleiben französisch.« – Naive Träumer! Die Zukunft wird's lehren, wenn die Pickelhaube auf eurem Schädel sitzt … Aber mit diesen Leuten kann man doch noch reden. Wenn auch ihr Gedankenhorizont von allerlei Phantasiegebilden umwoben ist – das Herz ist ihnen doch nicht im Leibe zusammengeschrumpft; der Fanatismus hat sie doch nicht zu Unmenschen herabgewürdigt.

Die Hirnwütigen. Du erschrickst, lieber Leser? Ja, ich sage dir, bei uns gibt's jetzt eine Klasse von Menschen, man kann sie nicht anders nennen als die Hirnwütigen. Das sind, in allen gesellschaftlichen Schichten, die rohen, unwissenden, ungebildeten, halbgebildeten, verbildeten, politisch und religiös herabgekommenen Elemente unseres Volkes. Soll ich dir ein solches Exemplar abkonterfeien? Schau, da geht einer. Welche Lebensrolle er bis jetzt gespielt hat, weiß ich nicht. – Dem Ansehen nach kann er ein Beamter, Zeitungsschreiber, Commis voyageur, Wissenschaftsheld, Geldmann oder gewöhnlicher Kulturkämpfer sein – gilt auch gleich –. Nimm mal den Mann aufs Korn. Siehst, wie der so majestätisch düster einherschreitet? Ist's nicht Catos Schatten aus der Unterwelt? Ja! – Jetzt horch aber auch, was der Mann redet, wie der große Armeen aus der Erde stampft; Kanonen und Mitrailleusen hervorzaubert, Allianzen in ganz Europa schmiedet, geniale Schlachtenpläne entwirft; Vernichtungssiege bei Metz, Paris, Orleans, Belfort erficht und dann mit dem Ruf: vengeance! vengeance! über den Rhein bricht und Freiburg, Rastatt, Mainz, Koblenz, Berlin in Schutt und Asche verwandelt. Du lächelst, lieber Leser, über solche kindische Bramarbasierereien? Gib acht! der Mann ist seiner Sache ganz gewiß – so gewiß als der Münsterknopf noch auf dem Turme sitzt, – und sein Preußenhaß hat keine Grenzen … Horch! wie er schilt, schimpft, flucht, lästert, haut, sticht, schießt, sengt, brennt, tötet, ausrottet ohne Pardon noch Erbarmen! Es graut dir, lieber Leser, vor solcher Gemeinheit, vor solcher Verwilderung? Gelt, du bedauerst den Mann und möchtest ihm ein Körnlein Vernunft in sein zerrüttetes Gehirn und ein Fünklein Menschenliebe in sein verödetes Herz hineinhauchen? – Laß bleiben und geh ihm aus dem Wege … Foenum habet in cornu, er ist hirnwütig und wenn er erst merkt, daß du ein Ruhiger bist, so geht's dir nicht gut! Ich warne dich, es geht dir nicht gut! – Später wird er vielleicht wieder einmal zur Genesung kommen. – Du fragst: Gibt's denn aber auch Hirnwütige unterm Landvolk? »O du blöder Kalendermann kennst das Landvolk nicht! – Ja gerade unterm Landvolk gibt's die meisten und Hirnwütigsten von allen!« Der Städter hat in solchen Zeiten meistens keine tieferen Motive als den politischen Haß … Was der vermag, hast du vernommen. Wenn aber beim Bauern zum politischen Haß, den er mit dem Städter gemein hat, auch noch ein anderer Haß, der tiefste, grimmigste, unversöhnlichste, der im Menschenherzen schlummert, hinzutritt und täglich, geflissentlich aufgestachelt, unablässig geschürt wird – o dann hört alles auf! Dann möchte man unter Heulen und Wehklagen sein Angesicht verhüllen … Doch es ist genug … Gott wird sich über unser Volk auch wieder erbarmen – die Zeit wird vieles ändern. – Es wird auch wieder Vernunft und Frieden und Liebe in unser Land, in alle Herzen einkehren, wir hoffen es, und unsere Hoffnung wird nicht zuschanden werden.


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