Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wenden wir nun aber unsern Blick und unsere Herzen den Verwundeten zu, welche ihre Tapferkeit nicht in offener Schlacht mit dem Heldentod besiegeln durften, jetzt aber zu Tausenden in ihrem Blute, in ihren Schmerzen liegen. Die meisten sind, gottlob, gestern schon, andre heute noch gesammelt und in den verschiedenen Ortschaften der Umgegend untergebracht worden. Alle freilich deckt noch kein schirmendes Obdach; es werden immer noch einzelne aufgefunden und da und dort in irgend eine Herberge getragen. Mancher wird auch – wie jene zwei in der Liebfrauenberger Steingrube oder wie jene zwei andern im Großenwalde – einsam und hilflos verschmachten. Sie gehören zu den teuern Vermißten, in deren Leidenskelch kein Tröpflein Trostes träufelt, auf deren Grab keine Vater- und Muttertränen fließen. Ihr Heldentod ist doppelt groß vor der Geschichte.
Fragen wir aber zuerst nach der Zahl der Verwundeten. Sie ist groß, sehr groß – wie könnte es in solch einer Schlacht, mit solch mörderischen Waffen anders sein? Die deutsche Verlustliste, an deren Genauigkeit niemand zweifeln wird, bietet folgendes Verzeichnis:
Verwundete: Offiziere 383; Mannschaften 7297; zusammen eine Zahl von 7680 Verwundeten. Rechnet man dazu von den 1370 Vermißten auch nur ein Drittel, so ergibt sich deutscherseits eine Totalsumme von 8136 Verwundeten.
Eine offizielle französische Verlustliste gibt es nicht und es ist daher niemand im Stande, absolut richtige Angaben zu machen. Indessen, wenn das französische Heer auch nur etwa 45 000 Mann stark in den Kampf gezogen ist, so war doch der Angriff des Feindes so furchtbar und der Widerstand bis zum Augenblick so heldenmütig, daß wir schwerlich fehl gehen, wenn wir sagen: es sind in der französischen Armee ebensoviele Opfer als in der deutschen gefallen. Will man aber das nicht zugeben und der deutschen Übermacht durchaus größere Verluste zuschreiben, so streiche man 200, sogar 500 Mann, es bleiben immer noch und die bleiben gewiß: 7636 französische Verwundete. Von den Toten beider Nationen wird weiter unten noch die Rede sein.
Wir haben also die runde Gesamtzahl von 15 700 Verwundeten. Dieselbe verteilt sich, nach sorgsam gemachten Erhebungen, am 7. August, mit annähernder Genauigkeit, in folgender Weise (wir machen die Runde des Schlachtfeldes):
Eberbach 750 Verwundete, Morsbronn 800, Walburg 220, Dürrenbach 200, Brückmühle 325, Gunstett 800, Spachbach, Oberdorf 750, Dieffenbach 800, Görsdorf 1170, Langensulzbach 750, Wörth 4800, Fröschweiler, Elsaßhausen 4000.
Die Übrigen liegen in Reichshofen, Niederbronn, Hagenau, Straßburg usw., denn viele sind während der Schlacht dort hinabtransportiert worden oder auch in der allgemeinen Flucht in jene Ortschaften entronnen. So hat der Erzähler einen französischen Artillerie-Offizier kennen gelernt, dem eine Granate den rechten Arm abgeschlagen und den Leib aufgerissen hatte und der doch soviel Energie bewahrte, daß er auf seinem Pferde bis nach der Eisenhütte in Reichshofen gelangt ist. Andere sind sogar, wie schon angedeutet, unerachtet ihrer Wunden bis nach Straßburg entflohen.
Was den körperlichen Zustand der Verwundeten betrifft, so läßt sich denken, welche Mannigfaltigkeit in den Verletzungen sich offenbart. Es gibt am menschlichen Leibe kein Glied, welches nicht an diesen Tausenden von Unglücklichen, wer weiß wie oftmals, getroffen oder verstümmelt worden wäre. – Viele natürlich, – wir wollen sogar annehmen, die Hälfte – sind nur leicht verwundet. Die feindliche Kugel hat sie eigentlich bloß gestreift, am Kopf, im Gesicht, am Hals, am Arm, an der Hand, am Schenkel, am Fuß, oder ist, ohne den Knochenbau zu zerschlagen oder sonst ein edles Organ zu treffen, durch irgendeinen fleischigen Teil des Körpers gefahren. Glück zu! die sind keine Krüppel, keine dem Tod geweihten Opfer – sie bedürfen eine Weile sorglicher Pflege – aber bald stehen sie wieder da und greifen, wenn's not tut, aufs neue zu den Waffen. Viele aber auch, gewiß die Hälfte, sind schwer verwundet. Der Granatsplitter, die Kugel hat sie mörderisch getroffen; die Hirnschale zerschlagen, die Kinnlade weggerissen, den Arm oder auch beide Arme zerschmettert, die Lungen durchbohrt, die Eingeweide durchschossen, den Oberschenkel, die Beine zertrümmert. Das sind die Bejammernswerten … O diese Marterbilder! sie möchten sterben und werden sterben, aber die Angst und die Schmerzen, die entsetzlichen Schmerzen Tage, Wochen, vielleicht monatelang bis zum endlichen Tode!
Und wo sind sie einstweilen alle untergebracht? Wie und wo es eben möglich gewesen. Die Offiziere in Privatwohnungen, in guten und schlechten Betten, in gutwillig geöffneten oder gewaltsam erschlossenen Häusern … Die zuerst gekommenen Soldaten teilweise ebenfalls in Stuben und Kammern der Einwohner auf Matratzen, Strohlagern usw. Aber die große Masse? Wohin mit all den Tausenden? In den Ortschaften, welche nicht unmittelbar im Schlachtenrayon lagen, und wo die Zahl der Verwundeten nicht über 300 bis 600 steigt – in die Kirchen, Schulhäuser, Pfarr- und Gemeindehäuser; aber in Wörth, Fröschweiler, im eigentlichen Zentrum des blutigen Kampfes, wo die Verstümmelten tausendweise sich häufen, wo schon während der Schlacht alle, auch die geräumigsten Lokale überfüllt worden sind – in die Scheunen, in die Stallungen, Schuppen, Gehöfte – auf trockene Dunghaufen, unter freiem Himmel.
Doch wie ist der moralische Zustand dieser Kranken? Verschieden. Den Deutschen bleibt ein unermeßlicher Vorteil: Ihr Vaterland ist gerettet, ihr Heer hat gesiegt; sie selbst haben tapfer mitgefochten; mancher hat bereits eine Auszeichnung bekommen: ob Wiedergenesung, ob Heldentod auf fremder Erde – Deutschland ist oben! Das hebt und stärkt die Leute. Daher, bei leicht Verwundeten, eine freudige Begeisterung mitten im Leiden, bei tödlich Getroffenen, abgesehen von höhern Trostesgründen, eine ruhige Ergebung ins harte Los, bei einzelnen auch in Gottes Willen. »Es geht mir überall gut,« spricht ein polnischer schmerzlich leidender Hauptmann zu Pfarrer S., der ihn trösten will »– es geht mir überall gut, wo mein König mich hinschickt.«
Bei den Franzosen ist's anders. Frankreich ist geschlagen. Der Ruhm der unüberwindlichen Armee ist dahin; sie haben ihr Blut für eine schlechte Sache umsonst vergossen; ob leicht, ob schwer verwundet, sie sind gefangen, vernichtet. Das drückt und entmutigt die Braven. Daher bei unsern Offizieren und Soldaten ein Mißmut, eine Niedergeschlagenheit, die sich bei einzelnen zu heroischer Dulderkraft, bei andern zu förmlichem Wahnsinn steigert. Da liegt ein Offizier in unserm Hause, am Kopfe verwundet: es ist unmöglich, ein anderes Wort aus ihm herauszubringen als: oh la France! la France! Drüben im Schloß ein Hauptmann, vollständig verrückt, der den ganzen Tag schrecklich fechtend im Zimmer umherirrt und schreit » il est là! il est là!« Im Elternhause ein Kürassierhauptmann, der bei jedem Fieberanfall Mark und Bein erschütternd kommandiert: » protiquez la charge! protiquez la charge!« Und der wahnwitzige Zuave, der im Hemd auf der Gasse herumläuft und die Trommel schlägt zum schauerlichen Totentanz! –
Was einen aber bei allen Verwundeten so ganz besonders wohltuend berührt, ist die rücksichtsvolle freundliche Gesinnung, mit welcher sie einander begegnen. Alle Feindschaft ist vergessen; friedlich, brüderlich liegt der Franzose neben dem Deutschen; mitleidig, hilfreich bietet der eine dem andern die Hand. » Maman!« stöhnt der Gallier, » Mutter!« seufzt der Germane – und Kamerad verstehen auf dem Schmerzenslager alle beide … o ja, es klingen im Menschenherzen auch noch edle Saiten, und es wird gewiß die Zeit noch kommen, wo unter einer Fahne die Brüder einträchtig beieinander wohnen.