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Der Tröster von Elsaßhausen
So ist's unsern Einwohnern im Dorfe ergangen. Sie glaubten alle, wie wir auch, der Jüngste Tag würde anbrechen und fürchteten in unbeschreiblicher Todesangst, der Feind würde weder Weib noch Kind verschonen, sondern alles mit Stumpf und Stiel ausrotten. Als aber endlich die Hurrarufe in allen Gassen und Gehöften ertönten und die Kolbenstöße an allen Türen rappelten und die deutschen Stimmen in alle Häuser und Keller hineinschallten: »Heraus! heraus! die Deutschen sind da!« und die erschrockenen Bäuerlein fußfällig ihr Jammergestöhn erhoben: »O ihr lieben Herren, lasset uns doch am Leben! Habt Erbarmen mit unsern armen Kindern! Wir sind ja auch Deutsche, wir sind ja auch gute Christen!« … da sagten allemal und überall die Soldaten, wie zu uns der greise Feldherr: »Wir tun euch nichts zuleid; wir sind auch Menschen; seid nur ruhig und fürchtet euch nicht … es tut uns leid genug, daß wir brennen und zerstören müssen!« Und jeder dankte Gott, daß er nach unsäglichen Schrecken wieder heimdurfte mit den Seinen. Wenn nur alle dageblieben wären und ihre Zuflucht in den Kellern gesucht hätten! Aber wie wir früher schon berichtet haben, die Angst vor einem grausamen Feinde hatte sie fortgetrieben. Man sollte es nicht für möglich halten, welch fürchterliche Gewalt die grundlosesten Gerüchte auf die Gemüter ausüben. So waren schon am Donnerstag und besonders am Freitag fast alle Einwohner von Elsaßhausen herüber nach Fröschweiler geflüchtet. Nur die Alten – ob sie zäher oder loser am Leben hingen? – waren zurückgeblieben. Dort waren allerdings die Befürchtungen gegründet; denn man hatte ihnen angezeigt, es würde kein Stein auf dem andern bleiben. Aber auch in Fröschweiler liefen fast alle jungen Leute, viele bejahrte, starke Männer und auch eine große Anzahl von Weibern und Kindern fort zum Dorf hinaus – kein Mensch konnte sie zurückhalten – dem großen Wald zu; versteckten sich dort im Gebüsch, hinter Bäumen, Bagagewagen; sahen teilweise das furchtbare Schlachtgetümmel; sahen die Flammen in Elsaßhausen und Fröschweiler gen Himmel lodern, konnten nicht mehr zurück, konnten, wollten nicht vorwärts, – bis der mörderische Kampf zu Ende war; bis die allgemeine wilde Flucht sie erraffte und mit sich fortriß, Kopf unter, Kopf über, den Wald hinab, nach Reichshofen, Gundershofen, Oberbronn, ja bis nach Mühlhausen und Ingweiler hinauf! Du guter Gott! Was müssen diese Leute ausgestanden haben! Daheim einen Teil ihrer Familie, daheim vielleicht ein brennendes Vaterhaus und hinter sich her das Klirren und Tosen, das Sauve qui peut eines geschlagenen Heeres und die entsetzlichen racheschnaubenden Feinde! Sie erzählen's oft heute noch, wie sie in einem Atem stundenweit fortgerannt sind, als hätte die Hölle sich hinter ihnen aufgetan, wie sie in Mühlhausen, Ingweiler usw. in Heuschobern verborgen gelegen und vor Hunger und Durst schier verschmachtet sind; wie bei jedem Laut, bei jedem Schrei auf den Gassen die Preußenangst aufs neue ihre Seelen gefoltert; wie sie sich durchgebettelt haben von Dorf zu Dorf, bis sie unversehrt und wohlbehalten durch die nachrückenden Feindesreihen wieder in ihre Heimat gelangt sind.
O Zuchtrute Gottes, wie kannst du die Menschen bis auf die Knochen zerschlagen! – Und wenn sie das alles so erzählen während der stillen Winterszeit, in der traulichen Spinnstube, und die Jungen, die seitdem herangewachsen sind, hängen mit Verwunderung an den Lippen der Alten und so manches rosenbackige Gretchen freut sich drinnen im Herzen, daß der Tibold damals doch auch davongekommen ist – da gibt's allemal wieder Tränen … und wenn dann und wann ein Spaßvogel sich lustig machen will, wie der und jener damals Fersengeld gegeben – oder gar ein verkappter Bösewicht aufs neue Krieg und Blutvergießen herbeiwünschen möchte, da heißt's immer wieder: »O Kinder, Kinder, ihr wisset nicht, was das für Zeiten gewesen sind.«
Noch ein Wort über die Flucht des jungen Tröster aus Elsaßhausen. Das Dörflein stand schon längst in Flammen, die Scheune seines Hauses war bereits niedergebrannt. Es regnete Granaten und Kugeln von allen Seiten. Der Feind war in wütendem Anprall heraufgestürmt … Tröster kann nicht mehr bleiben; jeder Augenblick droht ihm Tod und Verderben; was tun? Er nimmt seinen alten Vater auf den Rücken – seine zwei Kinder unter die Arme und läuft mit dieser teuern Last von Hause fort; mitten im Getümmel, mitten im fürchterlichsten Kugelregen, – fort durch die Gärten – das Feld herauf, wo die Kürassiere sich sammeln zum schauerlichen Todesritt – bis auf die Anhöhe. Dort kann er den Vater nicht mehr schleppen, er sinkt zu Boden und der Vater spricht: »Laß mich liegen und rette dein junges Leben – fliehe, fliehe mit den Kindern – ich komme nach, oder ich sehe dich nicht wieder.« Der Sohn entflieht mit den Kindern – hinter ihm sterben die Kürassiere den Heldentod. – Der Alte kommt nach, am Großenwald treffen sie sich wieder – die allgemeine Flucht reißt auch sie mit fort. Tröster schleppt ein Kind unterm Arm, der lange Peter schleppt das andere, nach Reichshofen, ins Land hinein – und alle wurden gerettet.
Und das kleine Büblein von Elsaßhausen – Richertfritzens Kleinster? Wie haben den die Engel auf den Händen getragen! Der ist um dieselbe Zeit fort, durch die Gärten, Felder – mitten im heißesten Kampfe – und ist glücklich entronnen. Einige Tage später fragte ein deutscher Offizier in Oberbronn: ob doch das Büblein von Elsaßhausen noch lebe, das so kühn durchs Schlachtgetümmel gerannt sei!
Solche und ähnliche Todesgefahren und wunderbare Errettungen wären noch gar viele zu verzeichnen; aber auch bejammernswerte Unglücksfälle und düstere Mordgeschichten, die der Erzähler, ohne den geschichtlichen Faden viel abzubrechen, hier einschalten muß.