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Unser Vater, Karl Klein, ist am 31. Mai 1838 zu Hirschland im sogenannten »krummen Elsaß« geboren (nicht in Lothringen, wie sehr häufig behauptet worden ist). Die Familie Klein stammt väterlicherseits aus der Schweiz, mütterlicherseits aus der Normandie. Sie wurde unter Ludwig XIV. ihres evangelischen Glaubens halber vertrieben. Unser Großvater Johann Philipp Klein war Schullehrer im nordwestlichen Elsaß. Über seine Jugend hat unser Vater in dem Buche »Vor dreißig Jahren«, das, wie die »Fröschweiler Chronik«, bei C. H. Beck in Nördlingen, jetzt München, erschienen ist, selbst erzählt. Er lernte natürlich früh französisch und absolvierte ein College zu Paris. Dort vervollkommnete er sich im Französischen so, daß er es wie das Deutsche sprach. In der alten evangelischen Stiftung für Theologiestudierende bei St. Thomas in Straßburg trat er der »Argentina« bei, die innerhalb des französischen Staatsverbandes die Erhaltung deutscher Überlieferung pflegte. Als Abgeordneter der »Argentina« hielt unser Vater bei einem Stiftungsfest des Marburger »Wingolf«, mit dem die »Argentina« in Verbindung stand, eine Rede, nach der ihn der alte F. Ch. Vilmar unter Tränen umarmte.
Nach den Zeugnissen seiner Kommilitonen war unser Vater der Liebling der Lehrenden und Lernenden. Er stattete seine arme Zelle im Thomasstift mit Pflanzen, Tieren und Kunstwerken aus. Damals hielt man den fröhlichen Studenten mit den edlen Zügen, der zur Guitarre vor den Freunden sang, für einen Ungewöhnlichen, Zukunftsvollen, ja für einen Glücklichen. Er kam unter allen seinen Studiengenossen zuerst ins Amt, nämlich 1860 als Pfarrverweser nach Bühl im Unterelsaß. In Bühl brach eine Blatternepidemie aus, die ihn dem Tode nahebrachte. Bald hergestellt, ging er 1862 als Privatvikar des um die evangelisch-lutherische Gemeinde verdienten Pfarrers J. J. Hosemann nach Paris. Im Jahre 1865 schloß er die Ehe mit Hosemanns Tochter Elisabeth, unserer Mutter. Seine Pariser Tätigkeit erstreckte sich auf deutsche und französische Predigt, besonders aber nahm er sich der in Gefängnissen und Spitälern Leidenden und der Verwahrlosten an. Während der in Paris ausgebrochenen Choleraepidemie lag eine schwere Last auf dem mit Arbeit arg überlasteten Manne. Er erfüllte mit Freudigkeit, Glaubensstärke und Menschlichkeit überall, wo er stand, seine Pflicht.
Im Februar 1867 wurde er als Pfarrer zu Fröschweiler im Unterelsaß angestellt. Er kam also gerade an den Ort, wo sich am 6. August 1870 der Krieg in einer blutigen Entscheidungsschlacht entlud. Unser Vater hatte in Paris wie im Elsaß einen scharfen politischen Blick gewonnen. Die Schlacht bei Wörth hat er mit allen Schrecken der Beschießung und des Nahkampfes durchgemacht. Fröschweiler lag wie ein Fort in der Stellung der französischen Armee unter Mac Mahon. Und so richtete sich die Beschießung und der Hauptstoß des deutschen Angriffs auf das Dorf.
Es war ein heißer Augusttag gewesen. Tausende von toten Menschen und Pferden bedeckten das Schlachtfeld. Unser Vater suchte das Schlachtfeld ab und konnte manchem sterbenden Krieger noch ein Wort des Trostes sagen. Bald nach dem Friedensschluß schrieb er die Chronik, die mit Recht »Fröschweiler Chronik« heißt, weil sie ihren Standpunkt innerhalb der Gemeinde hat, über die die Schlacht hinweg gebraust war.
Wir waren acht Kinder, und obwohl unser Vater das Vertrauen der provisorischen deutschen Regierung hatte, und vom Deutschen Kaiser ausgezeichnet worden war, brachten es die neuen Gewalten nicht fertig, den begabten Mann dem Elsaß zu erhalten. Die »Fröschweiler Chronik« und die Beziehungen, die sich mit dem Verleger C. H. Beck (Ernst Rohmer) angeknüpft hatten, ließen es unserm Vater wünschenswert erscheinen, auszuwandern und die Hauptpredigerstelle in der alten Reichsstadt Nördlingen 1882 anzutreten. Bald wurde ihm das Dekanatsamt, die Distriktsschulinspektion und die Vorstandschaft der Präparandenschule übertragen.
Jene Studiengenossen, die unseren Vater für einen Zukunftreichen, Glücklichen hielten, hatten sich geirrt. Drei Jahre nach seiner Anstellung in Nördlingen überschattete ihn die geistige Nacht, der auf Erden kein Licht mehr folgen sollte. Er starb Ende April 1898 und wurde am 1. Mai in Nördlingen bestattet. Hier möchten wir Kinder dem vornehmen Verständnis danken, mit dem die Stadt Nördlingen gegen unsre Mutter und uns Kinder verfahren ist, desgleichen das Verlagshaus C. H. Beck.
Sich selbst und uns Kindern hat er die Heimat genommen. Weiß man, was es heißt, wenn ein 42jähriger Mann mit Weib und Kind den Boden verlassen muß, worin er gewurzelt hat? Es handelt sich hier bei der Auswanderung nicht um die Vereinseitigung einer »Doppelkultur«, sondern unser Vater war von Natur deutsch, wie die deutschen Elsässer überhaupt. Das Heimweh hat oft an seinem Herzen genagt. Weil ihn aber ein reiner Trieb bewegte, ist der Segen seines Entschlusses nicht ausgeblieben.
Wie eine tiefe Glocke, bald mächtig nah, bald fern rufend wie im Traum hat das Lutherwort sein Leben beseelt. In diesem Wort, das dem Geiste ebenbürtig ist, wirkte die stärkste Macht, die uns, die wir auch französisches Blut in uns hatten, zu Deutschen machte. Unser Vater war gelehrt, vor allem aber war er berufen. Er war kein Held, der niemals niederbrach. Aber er war tapfer und treu auch im Niederbruch.
Seine Phantasie, sein Gedächtnis, seine Rede, waren vollgesogen von der Rede und den Gedanken des Volkes. Wenn ich sein eigentliches Schicksal deuten soll, dann möchte ich von ihm sagen, daß er von den mächtigsten Bindungen des Menschen gefesselt war. Er fühlte sich nicht nur, sondern er war zum »Diener am Wort« berufen. Aber ebenso stark hielt ihn das Bedürfnis des schöpferischen Menschen fest. In den nicht allzu häufigen Augenblicken seiner späteren Zeit, in denen er sich frei fühlte, da stand er mit seiner reinen Begeisterung, mit seinem gesunden Verstand und Humor, mit seiner dichterischen Begabung auf beneidenswerter Höhe. Er selbst wußte gar nicht, daß er ein Dichter war. Und doch ist er durch den Gegensatz, in den ihn das Schicksal gestellt hatte, aufgerieben worden.
Vor mir liegt die von dem westschweizerischen Offizier Arthur Delachaux im Jahre 1911 besorgte Übersetzung der »Fröschweiler Chronik« ins Französische. Es ist sehr bemerkenswert, daß im Jahre 1914, also zu Beginn des Weltkrieges, eine zweite französische Auflage erschienen ist. Diese zweite Auflage enthält auch eine Vorrede des Colonel divisionnaire Audeoud. Darin stehen die Worte: »Es gibt, soviel ich weiß, keine so lebendige, so malerische, so erschütternde, man kann sagen, fast unparteiische Darstellung eines militärischen Ereignisses durch einen Zuschauer.« Dieses Zeugnis eines französischen Offiziers ist nicht gering einzuschätzen. Wer aber den Mann, der diese Chronik geschrieben hat, kennen lernen will, der findet sein Charakterbild in dem Buche selbst.
Die »Fröschweiler Chronik« hat ihren Weg gemacht und wird ihn, so hoffen wir, noch weiter machen. Franz Servaes schrieb bald nach dem Erscheinen der »Fröschweiler Chronik«: »An Schriften des siebzehnten Jahrhunderts, an den ›Simplicissimus‹ wird man erinnert, wenn man diesen Pastor vom Ausgang des 19. Jahrhunderts liest. Diese Volkskraft, diese Macht und Fülle der Anschauung, diese Unmittelbarkeit der Darstellung, dieses glaubensstarke Herz! Das Buch gehört bereits heute der Weltliteratur an.«
München, November 1930.
»Kriegs- und Friedensbilder« sind es aus den großen Tagen von 1870/71, vom Verfasser, als persönlichem Zuschauer, treu nach dem Leben entworfen und unserem Volk, als Beitrag zur Geschichte in aufrichtiger Liebe gewidmet. – Sie kommen freilich spät: Die Begeisterung für Kriegsliteratur ist abgekühlt; der Rahmen ist beschränkt: er umfaßt bloß unsere engere elsässische Heimat; die Farbentöne sind ernst: sie werfen Licht- und Schattenstrahlen nach hüben und drüben. Das sind keine günstigen Aussichten.
Indessen, wahrheitsgetreue Darstellungen bei sonstiger schwerer Arbeitslast wollen Weile haben und behaupten auch in späteren Zeiten ihren historischen Wert.
Andererseits dürften diese Schilderungen auch weiteren Kreisen zeigen, wie tief der Krieg das Volksgemüt bewegt und das Volksleben erschüttert.
Sollte endlich diese unparteiische Chronik zur Besänftigung verderblicher Leidenschaften auch nur ein weniges beitragen, so wäre unsere Mühe reichlich belohnt.