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Es wird immer trüber

Wie schon bemerkt, diese trostlose Lage der Dinge kannten wir damals nicht. Wer in aller Welt hätte es gewagt, an der Kriegsbereitschaft, an der Unüberwindlichkeit Frankreichs zu zweifeln? Einen solchen » Prussien« hätte man droben auf dem Kirchenplatz maustot geschlagen, und hätte ihm kein Doktor geholfen … denn in diesen Tagen ist jeder Blick, jedes Wörtlein von unglaublicher Wichtigkeit. Die Vaterlandsliebe – das Feuer der Leidenschaft hat alle Gemüter mit Fieberwahnsinn entflammt, und wehe dem Propheten, der seinem Volk den Schleier seines Verhängnisses lüften wollte! So kann man sich denn unmöglich eine Vorstellung von der Freude, von dem Heidenspektakel machen, der am Abend des 2. August in Fröschweiler entstand, als von Bitsch herüber die Kunde eintraf: »Die französische Armee hat die Grenzen überschritten; Saarbrücken ist in Brand geschossen und erobert worden; der Kaiser hat selbst kommandiert und der kleine Lulu hat eine Kanone losgedrückt und die Feuertaufe erhalten.« » Vive la France! Jetzt geht's los; jetzt zieht die Feldhosen an, ihr Preußen, Bayern, Schwaben! An den Rhein  … nach Berlin! Morgen marschieren auch wir über die Grenze« … und auf allen Gassen in allen Tönen das ewige Gekreische: Allons, enfants de la patrie! Auch unter dem Bauernvolk waren einzelne ganz verrückt vor lauter Begeisterung. Ach leider! … Es war der letzte Hoffnungsstrahl, der noch einmal grüßend unsere Finsternis erhellte. Der Morgen des 3. August kam; herrlich leuchtend stieg die Sonne am Himmel – jedermann harrte bebenden Herzens der Dinge, die geschehen sollten. Es geschah nichts – sondern es traf die Nachricht ein, der Vorstoß gegen Saarbrücken sei bloß eine gewaltsame Rekognoszierung gewesen, um den Feind zu zwingen, seine Flügel zu entfalten, und die Armee stehe noch auf französischem Gebiet, und der Kaiser wolle die Offensive noch nicht ergreifen … Und so blieb denn alles beim alten: kein Aufmarsch, keine Bewegung nach der Grenze. Da schwand auch bei unsern Soldaten und bei der ganzen Bevölkerung das letzte Vertrauen auf den lang gehegten Angriffsplan. Wir waren gefangen, belagert, geopfert, und allen Herzen drängte sich kläglich enttäuschend, unbeschreiblich, ängstigend die Gewißheit auf: Jetzt erbarm sich Gott, unsere Heimat wird zum Schauplatz blutiger Verteidigungskämpfe werden.

Daß diese eiserne Notwendigkeit über uns hereinbrechen würde und mußte, merkten wir sogleich an allen Maßregeln, die jetzt getroffen wurden. Es rückten immer stärkere Heereskolonnen heran; das 9. Bataillon Jäger zu Fuß; das 76., das 78. Linienregiment; mehrere Batterien des 20. Artillerieregiments; die fuhren kreuz und quer auf unsern Höhen herum und faßten endlich Posto unten am Dorf, rechts von der Wörther Straße. Die Offiziere fingen an, den Ernst der Lage zu erkennen; schauten fragend, stutzend bald zu den Vogesen, bald zum Schwarzwald hinüber: »Wo ist die Pfalz? wo ist der Rhein?«, aber nicht mehr wie ehedem mit siegesfreudiger Zuversicht: »Wie weit haben wir zu ihnen?«, sondern mit augenfälliger Verlegenheit: »Wie weit haben sie noch zu uns?« – Auch die Soldaten waren nicht mehr so sorglos, so ausgelassen; ein ganz anderes, eigentümlich dumpfes Getöse durchbrauste die Reihen. Der Chassepot wurde fester an die Seite gedrückt; man sah schöne, furchtbar entschlossene – auch bange, bleiche Gesichter. –

Und ob das in der menschlichen Natur oder im Herannahen des Feindes liegt: je größer die Gefahr, desto ungeduldiger der Kampfesmut, desto grimmiger der Nationalhaß. Wenn nur in dieser Periode noch das Kommando mächtiger und die Verpflegung und Ausrüstung der Truppen besser gewesen wären! Aber da war, außer dem Marschall Mac Mahon, keine erhabene, imponierende Persönlichkeit; da war keine, dem Soldaten so wohltuende, für Seele und Leib unentbehrliche Ermunterung und Fürsorge. Da liefen sie herum, wie wenn sie kein Vaterland und keinen Kaiser hätten: müde, hungrig, durstig, unzufrieden, klagend, fluchend, drohend – und wir konnten doch keinen Proviant aus der Erde stampfen.

Allmächtiger Gott, wenn doch Lebensmittel gekommen wären! Wenn doch irgendein General das nötige Vieh und die noch vorhandenen Vorräte an Mehl, Wein, Obstwein usw. im Namen des Gesetzes oder mit Gewalt requiriert hätte! Wir hätten ja alles gegeben … Aber da war keine Stimme noch Antwort und so ging denn auch alles drunter und drüber. Die Soldaten brachen in die Gärten, rauften das Gemüse aus dem Boden, das unreife Obst von den Bäumen; sie stürzten in die Felder und verheerten die Kartoffeläcker; sie erstürmten bereits einzelne Keller, raubten in den Höfen die Gänse, Hühner, kurz, was sie in der Wut und Verzweiflung nur finden konnten. Da gab es Szenen … tragikomische Szenen! Der deutsche Bauer mit dem französischen Soldaten in Zank und Handgemenge um die liebe irdische Habe! Die Einwohner verloren dann auch natürlich alle Begeisterung fürs Vaterland, die Geduld und die Besinnung. Sie liefen den Soldaten nach in die Felder, Gärten, Gehöfte und Keller – sie wollten sich wehren, sie klagten, schalten, heulten – »wenn nur einmal die Preußen kämen«. Sie rannten haufenweise zum Bürgermeister, vors Pfarrhaus: »Herr Jeses! sie nehmen uns ja alles, die machen's ja ärger als die Kosaken!« Und ging der Bürgermeister oder sonst einer zum General und seufzte über dieses heillose Wesen: »Was wollen Sie,« war die Antwort, »meine Mannschaften müssen gegessen haben!« – O Erinnerung an jene düsteren Stunden! Was haben wir in jenen Tagen, noch vor der großen Trübsal, erfahren und gelitten! Der Erzähler hatte in aller Eile 20 Pfund Kaffee und 26 Pfund Schmalz aufgetrieben zum Austeilen unter die hungernden Krieger. – Wie das durch die ersten, welche etwas bekommen haben, bekannt geworden war, drangen sie scharenweise in den Hof, ins Haus, in die Küche hinein, ein Stückchen Papier, ein Laubblatt in der Hand: »Sie haben Kaffee? Sie haben Fett? O geben Sie mir auch einige Bohnen, geben Sie mir auch ein Tröpflein Schmalz.« Es war zum Erbarmen, zum Vergehen; in einem Nu war alles verschwunden. – Aber wie erst nichts mehr da war! Dieses Betteln, Wimmern, Drängen, Klagen – sie hätten einen zerrissen. – Man konnte nur beteuern, daß nichts mehr vorhanden sei, mitklagen, mitjammern und Haus und Gemeinde dem allmächtigen Gott befehlen. Es wurde Abend. Der Gottesdienst in Reichshofen mußte gehalten werden. Ein handfester Wächter blieb bei Weib und Kindern, weil die Rückreise in später Nacht nicht mehr möglich war und der Chronikschreiber pilgerte schweren Herzens hinab nach der Eisenhütte. Dort unten, teils der Straße entlang, teils auf den nahen Hügeln, lagerten bedeutende Truppenteile, Artillerie und Fußvolk, unter andern, gerade zwischen der sogenannten alten Kirche und der Kaserne, ein ganzes Zuavenregiment. Die waren soeben angekommen und wurden jetzt zu unüberwindlichen Heerscharen geweiht. War's zum Lachen oder zum Heulen? Da stand ein Priester und vor ihm defilierten, Mann für Mann, diese auserlesenen Streiter und wurden eingesegnet und mit Rettungsmedaillen versehen. Das war eine Zeremonie! Wer nur jenen alten, graubärtigen Zuaven gesehen hätte, der mit übereinander geschlagenen Armen, achselzuckend, der Segnungsparade seiner Waffenbrüder zusah! ein Bild von zauberischer Originalität – und der Priester, so finster ernst, so ketzermaledeiend … Uns stimmte dies alles eher zum Heulen … seltsame Gedanken schwirrten einem durch den Kopf … wer weiß, was die hereinbrechende Nacht in ihrem dunkeln Schoße birgt; ob nicht morgen an den Weißenburger Linien große Waffentaten geschehen, und ob nicht endlich auch der arme Xaveri zur Ruhe kommt?!


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