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So vergeht die erste Zeit. Jeder Tag bringt neue Plage und neue Hilfe. Doch sind die allerschwersten Nöten überstanden; man sieht und hört wieder voneinander, und die Hoffnung auf bessere Zeiten erweckt neuen Lebensmut in den Herzen.
Man kann sich aber gar nicht vorstellen, welch niederdrückenden Einfluß die Zerstörung der Kirche auf das ganze Gemeindeleben ausübt. Jetzt wird's uns erst recht klar, was wir verloren haben. Seit der Zeiger am Zifferblatt der Turmuhr stille steht, leben wir alle so aufs Geratewohl in den Tag hinein; niemand weiß genau, welche Zeit es ist; jeder stellt seine Uhr nach der Sonne Lauf oder nach eigenem Gutdünken …
Seit der eherne Mund der Glocken verstummt ist, lagert ein düsteres Schweigen über allen feierlichen Begebenheiten, welche sie vormals mit ihren Klängen begleitet. Kein Morgenbote begrüßt die ersten Sonnenstrahlen; kein Glockenton fällt mittags in des Lebens Last und Hitze; kein Abendläuten weckt das Gebet: »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ.« – Stille, mitten im Gewühl und Getümmel – ach, so peinlich stille kommt und geht die Zeit … Und stirbt einer, hüben oder drüben, kein Scheidezeichen verkündet das letzte Stündlein, kein »Grabgesang« ertönt zum letzten Wege! – O, wer es mitempfinden könnte, mit welcher Wehmut diese Vereinsamung unsere Gemüter erfüllt! … Und wenn es jetzt Sonntag wird – der zweite Sonntag ist gekommen, und rings umher im Lande wallen sie zum Hause Gottes –, wo sollen wir unsere Gottesdienste wieder feiern? Die Kirche in Nähweiler ist noch nicht gebaut, zum Glück noch gar nicht angefangen, sonst läge sie vielleicht auch in Schutt und Asche – und hier ist keine Möglichkeit, die Gemeinde zu versammeln, als im Schulhaus. Nun, in Gottes Namen! Das Wort und die Gnadenmittel sind uns ja geblieben und die Kraft dieser ewigen Heilsschätze ist an keinen Ort gebunden … Wir ziehen mit unserm ganzen kirchlichen Leben ins Schulhaus.
Die noch daliegenden Verwundeten werden sonstwo untergebracht; alles Stroh, Verband- und Lazarettzeug wird hinausgeschafft; der Boden wird zwei-, dreimal gescheuert, gewaschen, der Blut- und Leichengeruch endlich vertrieben. Die Jammerhöhle gleicht wieder einer menschlichen Wohnung. – Wir dürfen noch dankbar sein; der Schulsaal ist geräumig; er faßt wohl, wenn die Leute demütig und geduldig sind, etliche hundert Seelen. Die Schulbänke werden wieder hereingetragen, etwa zwölf Kirchenbänke werden davor und dahinter und längs der Mauern und Fenster aufgestellt; andere Bänke und Stühle können im Notfall die Leute noch mitbringen … Gottlob, es geht, es geht gut, es muß gehen … 's ist sonstwo, in ähnlichen Zeiten, schon schwerer gegangen.
Einen Altar können wir freilich nirgends aufstellen; eine Kanzel auch nicht – wir fügen uns in die unvermeidlichen Verhältnisse – der Schulkatheder ist hoch genug zum Predigtstuhl und der Pultdeckel kann auch die heiligen Gefäße zu Taufe und Abendmahl aufnehmen. Ein Harmonium ist aus früheren Zeiten noch vorhanden, und ein Glöcklein wird's nach langer schmerzlicher Wartezeit auch wieder geben … So ist denn unser provisorisches Gotteshaus am Abend des 12. August fertig hergerichtet. Unsere Schulkinder gehen von Haus zu Haus und verkündigen den Einwohnern: Morgen um zehn Uhr wird wieder »Kirche« gehalten und man solle sich beizeiten in der Schulstube einfinden. Und siehe! Sie kommen scharenweise das Dorf herunter, schreiten gebeugten Hauptes und gedrückten Herzens an den hohlen Umfassungsmauern der niedergebrannten Kirche vorüber, vereinigen sich in der Schulstube, bald ist der ganze Raum gedrängt voll Menschen – es kommen noch andere – sie rücken noch näher zusammen – alle, groß und klein durcheinander, wie sie hereingetreten sind.
So, jetzt ist die Herde zum erstenmal wieder beisammen; ach Gott! nach welchen Schrecken und Heimsuchungen! Man schaut sich verwundert an, wie beim Wiedersehen nach gefahrvoller Trennung: »Du auch da!« – »Du auch noch am Leben!« – Es wird gesungen … Wer kann noch singen? Unter Tränenströmen wird das Lied angestimmt: »Aus tiefer Not schrei ich zu dir!« – O wenn ich zurückdenke an diesen schmerzensreichen und doch so gesegneten Augenblick! … »Aus tiefer Not schrei ich zu dir!« … Es ist gerade, als wollten alle Herzen in Stücke zerspringen … niemand kann das beschreiben – und doch fühlen wir so lebendig, wie Gottes Barmherzigkeit mitten im Sturme über uns gewaltet hat. Nach dem Gesang wird derselbe Bußpsalm (Ps. 130) auch gebetet und aufs neue geht lautes Weinen und Schluchzen durch die ganze Versammlung: sind wir doch von den ausgestandenen Ängsten und Wehen noch so mächtig erschüttert, daß die Errettung aus der Tiefe uns alle überwältigt wie die Träumenden; daß auch die trotzigsten Herzen, und wär's nur für heute, in Dank und Buße zerfließen. Und nun soll auch gepredigt werden. Predigen! über solche Ereignisse; nach solchen Drangsalen! … Da liegt vor uns das Wort: »Herr, deine Güte ist es, daß es nicht gar aus ist mit uns.« Was sollen wir sagen? Ein paar arme Worte: »Seid stille, das ist der Herr, der jetzt wieder einmal mit den Völkern und einzelnen redet! Es ist der Herr, der seine Worfschaufel in der Hand hat und ohne Ansehen der Person seine Reichssache im Gericht über die Sünde führt, der seine Rettungsgedanken an Siegern und Besiegten verherrlichen will usw. Es ist der Herr, der auch hier seine züchtigende Hand über uns ausgestreckt hat, daß wir ihm dienen lernen in heiligem Schmuck, der uns in die Tiefe geworfen und aus der Tiefe wieder herausgezogen hat, daß wir in Feuer und Wassersnot, in Hunger und Pestilenz nicht untergegangen sind … Also nur ruhig! Gott sitzt im Regimente; seine Wege sind oft wunderbare, schmerzensreiche Wege – aber darin steht des Christen seligster Frieden, dieselben ohne Furcht und sonder Grauen zu wandeln; denn es sind Heilswege usw.« Nun wird nochmals gesungen: »Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen« und gebetet … und wir haben wieder Sonntag gefeiert; wir sind alle gestärkt und getröstet; unser kirchliches Leben ist gerettet.
Von jetzt an halten wir regelmäßig, jeden Sonntag zweimal, unsere Gottesdienste und alle anderen Amtshandlungen im Schulhaus. Unsere Lage ist freilich schwer, es geht alles in gedrückter Knechtsgestalt; oft mangelt's an Raum, an Luft; bei der Austeilung der Sakramente an den unentbehrlichsten Einrichtungen … Aber wir sind doch zufrieden, Pfarrer und Gemeinde gewöhnen sich nach und nach an die beschränkten Verhältnisse. – Es wird ja, zu seiner Zeit, auch diesem Notstande abgeholfen werden. Unterdessen ist es gut, zumal in unsern Zeiten, wenn eine Gemeinde unter schmerzlicher Entbehrung den Wert eines schönen geräumigen Gotteshauses wieder kennenlernt! Jetzt wär's manchem nicht mehr zu früh und zu weit und zu kalt, wenn die Kirche noch stünde, und er könnte kommen und sich hinsetzen, so recht behaglich, wo's ihm beliebte! Es ist gut, wenn die Leute unter der Zuchtrute des Allmächtigen wieder einmal in die Selbstprüfung getrieben werden: »Wie oft ist's Sonntag gewesen, ich habe ihn nicht geheiligt! Wie oft haben die Glocken gerufen, ich hab's nicht vernommen! Wie oft hat der Herr geredet, ich habe sein Wort verachtet!« – Und es ist auch gut, wenn der Pfarrer durch solche Heimsuchungen ein Privatissimum gelesen bekommt: »Wie hast du in diesen leergebrannten Mauern deines Amtes gewartet? Was hast du gepredigt? Wie hast du die Seelen geweidet?« Es ist gut und mancher könnt's trefflich brauchen, wenn der Pfarrer mit seiner Predigt von der hohen Kanzel herabsteigen muß, mitten unter das arme Volk – »denn unten sitzen Bäuerlein, die wollen keine Adler sein«. Ja sicherlich, wenn man in einem niedrigen Schulkatheder steht und einen die Zuhörer wörtlich von allen Seiten belagern, müssen die Gedanken schlicht und die Worte einfach werden. Die Adlersfittiche werden einem gestutzt – die Predigt wird ganz anders – viel einfacher – verständlicher – liebreicher. Unsere Kanzeln stehen alleweil immer noch viel zu hoch droben, notabene in figürlichem Sinne; daher kommt's, daß die meisten unserer Predigten über die Köpfe dahinfahren. – Und es ist auch gut, wenn die Schafe einmal recht eng zusammengepfercht werden; man kann die wilden stößigen Böcke viel energischer an den Hörnern kriegen! Der stolze Pharisäer lernt sich neben ein unmündiges Kindlein setzen; der reiche Kornbauer kann's neben dem armen Taglöhner aushalten; die unversöhnliche Dorfbase muß der Nachbarin Platz machen. Ja ich bin gut dafür; auch die Gemeindeglieder werden viel gelassener, demütiger, friedfertiger. Und so harren wir denn in Geduld; kommt Zeit, kommt Nat. Und geht der Krieg wieder zu Ende, dann kommt auch Hilfe – gleichviel, aus welcher Himmelsrichtung die Waagschale der Gerichte Gottes sie herbeiführt. Dann bauen wir wieder ein Kirchlein. Aber die Schulstube wird unserm Geschlecht in dankbarer Erinnerung bleiben.