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Wir müssen nun erzählen, wie die Truppen verpflegt, d. h. mit Speis und Trank und allem Nötigen versorgt wurden: eine unerquickliche Aufgabe; denn auf diesem Gebiet hatte die Kriegsbereitschaft Frankreichs in der Tat Unglaubliches geleistet. Wie beschämend aber auch solche Tatsachen für eine ruhmreiche Nation sein mögen, sie stehen einmal da wie verhängnisvolle Marksteine in dem Bereich ihrer Geschichte und fordern Betrüger und Betrogene (sie sind ja bei weitem nicht alle gebrandmarkt und bei weitem nicht alle ernüchtert) vor den Richterstuhl der kommenden Geschlechter. – Wir waren also mit 6000 Mann Soldaten heimgesucht, hatten auch bereits alle in aufrichtiger Vaterlandsliebe nach Kräften unsere Pflicht getan. Da meinten wir denn, Kaiser und Reich, für welche unsere Söhne und Brüder in den Tod gingen, hätten auch die Pflicht und Schuldigkeit, dieselben zu ernähren, und glaubten in stupider Einfalt, hinter jedem anrückenden Regiment müßten auch allerhand Proviantwagen hereinfahren mit Brot, Fleisch, Wein, Kaffee, Tabak und dergleichen. Und die guten Michele So nennt man im Elsaß die Soldaten der Infanterie. glaubten das auch, blieben den ersten Tag bei fröhlichem Humor, schliefen des Nachts gemütlich unter ihren Zelten: kommt Zeit, kommt Rat. Und der Morgen kam, und die kleinen Kaminchen waren schon allenthalben im Lager ausgestochen, und die blechernen Kochtöpfe standen bereit, die erwarteten Suppenvorräte zu verarbeiten; – aber es kamen keine Proviantwagen, und Feueranzünden und Abkochen blieben für diesmal erspart. Soit! Einmal ist keinmal … Der Soldat ist heiterer Laune, zündet ein Pfeifchen an, schnürt den Leibgürtel um ein Knopfloch enger, singt ein Liedlein und gibt sich zufrieden. Allein dieser harmlose Selbstbetrug sättigt doch nicht auf die Dauer. Es wurde Mittag, Nachmittag, Abend – den armen Jungen rappelte es im Magen. Was jetzt? – Jetzt strömten Offiziere und Mannschaften scharenweise ins Dorf herein, drangen in die Häuser – anständig, verlegen, das Geld in der Hand – » Pardon Monsieur, Pardon Madame, könnten wir nicht Brot, Speck, Eier, Gemüse kaufen?« »Kaufen?« war damals noch die allgemeine Antwort – »nicht kaufen; da nehmt den Laib Brot und das Stückchen Fleisch und die paar Zwiebeln und geht in Gottes Namen.« – » Merci Monsieur, merci Madame.« Aber noch waren die nicht zum Hoftor draußen, da kamen schon wieder andere: » Excusez Monsieur, excusez Madame, wir haben heute noch nichts gegessen … die Lebensmittel sind nicht angekommen … könnten wir hier nicht Brot, Kartoffeln, Wein, Apfelwein oder sonst etwas kaufen?« Ja, ja, was wird das geben! – Aber was machen?
Da standen die hungrigen Gesellen, bittend, flehend pour l'amour de Dieu: man mußte sich erbarmen, und wiederum hieß es: »Nicht kaufen! da habt ihr Brot, Kartoffeln, Milch« oder was sonst noch vorhanden. Und auch diese waren nicht abgefertigt, da drängten sich schon wieder andere heran, und so ging's im ganzen Dorfe in allen Häusern bis in die tiefe Nacht. Großer Gott, wenn man zurückdenkt, dieses Getöse, dieses Durcheinanderwogen, dieses Suchen, Betteln nach Lebensmitteln! Und wie auch die Einwohner wetteiferten in selbstverleugnender Liebe und an jenem Abend in manchem Hause weniger gegessen wurde, damit die armen Tröpfe auch noch ein Bröcklein kriegten, was war das unter so viele? Wie mancher ist nach langem vergeblichem Suchen hungrig unter sein Zelt gekrochen, ohne vive la France! zu rufen, und was mußte erst werden, wenn am andern Morgen, in den folgenden Tagen diese Not keine Abhilfe finden sollte? Und der Morgen kam, und die Sonne stand am hohen Himmel, und 6000 Menschen lagen, lungerten, marodierten da herum und sollten ihr Blut vergießen, und der Hunger glitzerte zu ihren Augen heraus … O Napolium, wo warst du? Wo waret ihr Marschälle, Senatoren, Generäle, Intendanten und alle ihr goldverbrämten Possenreißer, die ihr in heillosem Spielerwahnsinn diesen Krieg vom Zaune gebrochen und in Berlin frühstücktet, während eure Soldaten hier im eigenen Lande mit der tuchenen Flinte um die Ecke herumschossen? Wo waret ihr in jenen unheilschwangeren Tagen? Ihr waret nicht da! Ihr sahet nicht die Ratlosigkeit, die Erniedrigung, die Blöße und Schande eures Heeres, die matten, hungrig-bleichen Gesichter und die finstern Blicke und die zornigen Gebärden und die drohenden Bewegungen eurer Soldaten; ihr hörtet nicht das Klagen, Murren, Fluchen, Verzagen und Verzweifeln eurer Offiziere und Mannschaften! … O wenn's damals losgegangen wäre, sie hätten mit Löwengrimm gefochten – wer weiß? – vielleicht … oder mit Verachtung das Schwert in die Scheide gestoßen. Aber es ging nicht los, sondern wie die Welle die Welle, so trieb eine Stunde die andere, und dabei war in diesem fürchterlichen Wirrwarr kein Mensch, der Bescheid gewußt, kein Befehl, der Ordnung geboten, keine Maßregel, die Aushilfe verschafft hätte. Alles rannte in wilder Auflösung durcheinander, Wut und Entrüstung flammten auf allen Lippen. »Wo ist denn der Proviant? und wenn keiner da ist, warum ist kein General auf dem Plan, der solchen mit Gewalt erzwingen kann? Wir sind verraten; man will uns hier draufgehen lassen! Wir gehen zum Feinde über!« O Schmach und Schande! … Dort oben vor der Kirche stand der Sous-Intendant militaire – der Erzähler sieht ihn seiner Lebtage stehen – umringt, belagert, von allen Seiten geängstet; sie heischen Fütterung, sie flehten, brüllten! … Dort stand er, weinend wie ein Kind, die Hände überm Kopf zusammenschlagend: »Ich habe ja nichts; ich kann nichts geben! Man hat mich im Stich gelassen; die Einwohner müssen helfen, sollen um Gottes willen helfen!« Wer konnte solchem Notgeschrei widerstehen? Es wurde sofort bekanntgemacht, jede Haushaltung solle auf der Stelle einen Ofen voll Brot backen, allerlei Nahrungsvorräte sammeln und dem Vaterland zum Opfer bringen. Es wurden Stafetten in alle umliegenden Ortschaften gesandt mit der Aufforderung, dort das gleiche zu tun, und Brot, Fleisch, Kartoffeln, Wein, Schnaps usw. in aller Eile nach Fröschweiler zu senden. Jetzt fiel wieder ein Lichtstrahl in jene gräßlichen Stunden. Noch am selben Abend und besonders am folgenden Tage strömten aus Fröschweiler, Morsbronn, Langensulzbach, Görsdorf, Preuschdorf, Spachbach, Diefenbach und noch weiter her die Beiträge so freudig, so reichlich, daß dem herzzerreißenden Elende gesteuert wurde und wieder frischer Lebens- und Kampfesmut ins Lager einkehrte. Was mußte aber damals schon jeder vernünftige Mensch von solch einer Kriegführung denken? Mußte man sich nicht fragen: »Wenn der Soldat irrt eigenen Lande auf Selbsthilfe, Betteln und Marodieren gewiesen ist, was soll es, wenn er Sieger – was muß es, wenn er geschlagen wird, im fremden Lande geben?«