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Wie es den übrigen Einwohnern ergangen

Der Augustin-Toni

Wo waren denn aber während der Schlacht die Eltern geblieben, und wie ist es in diesen Schreckensstunden allen übrigen Gemeindegliedern ergangen? Auf diese Frage muß nun der Chronikschreiber zunächst Antwort geben. – Die Eltern wohnten ziemlich weit im Unterdorfe, gegen Wörth hinab, und hatten im Anfang des Kampfes, während die Vorpostengefechte an der Sauer und bei Langensulzbach geliefert wurden, einige Zeit in ängstlicher Unruhe und bangen Sorgen zugebracht. Sie waren jedoch in ihrer Wohnung geblieben und harrten, wie alle andern, zwischen Furcht und Hoffnung einem baldigen günstigen Ausgang entgegen. Als aber der Eiser-Tibold kam und verkündigte: »Ich bin auf dem Heustall gewesen; die Bayern stehen massenhaft bei Mattstall und eine ungeheure Hinterhut ist bei Lembach«, da wollte sie's auch nicht mehr in der Stube leiden und sie fingen an, eine bergende Zufluchtsstätte zu suchen. Leider war ich damals in der Kirche mit dem Bänkehinausschaffen und Strohhereintragen beschäftigt oder war ich gerade mit General Ducrot auf den Kirchturm gestiegen? Ich konnte mich ihrer nicht mehr annehmen. Mein Gang aufs » Lug ins Land« hat mir aber den ganzen Tag Seufzer und Tränen genug ausgepreßt. – Mein Vater (Gott hab ihn selig! er ist jetzt auch heimgegangen) wagte sich noch einmal bis unten ans Dorf, gegen den Kirchhof, mußte aber schnell wieder zurück. Die Schlacht hatte im Zentrum mit großer Heftigkeit begonnen, und wenn ihm Gott nicht gnädig gewesen wäre, so wäre er auch nicht mehr heimgekommen; denn eine Granate ist ihm am Kopfe vorübergefahren. Nun rafften sie sich aber zusammen und flüchteten sich in des Nachbars Hochdörffers Keller. Dort waren sie mit mehreren Familien verborgen, lagen unter dem Donnern und Krachen in denselben Ängsten und Schrecknissen, wie wir im Schloßkeller. Der alte Hochdörffer stand in einer Ecke, brummelte, murrte und stöhnte bei jedem Kanonenschuß: »Sie machen alles hin … es geht alles zugrunde!« – Sein altes Weib (sie hat jetzt auch ausgelitten) zankte allemal ob seines verdrossenen Unglaubens und sagte: »Mach doch nicht so wüst!« Und die Hochdörffer Bäbi klammerte sich an ihren Mann, einen alten Soldaten, wimmerte und brüllte in allen Tönen: »Jörri, bet! Jörri, bet! Jörri, ich sag dir, bet!« – »Jo du Narr …« »Jörri, willst jetzt beten oder nicht?« – »Laß mich gehn, du bist ein Narr!« So ging's stundenlang. Als aber der Kanonendonner immer fürchterlicher wurde, und das Blitzen und Krachen und Brennen kein Ende nehmen wollte, – da wurden auch diese Herzen weicher und meine alte Mutter (auf Wiedersehen!) mußte das Priesteramt übernehmen und den Leuten Trost und Ergebung und Hoffnung auf Gottes Gnade vorbeten – bis auch der gräßliche Bajonettenkampf im Unterdorf ausgekämpft war und die französischen Soldaten ein allgemeines Sauve qui peut, Pardon, Pardon in den Gassen, Höfen und Ställen erhoben und die deutschen Sieger unter dröhnenden Hurrarufen das Dorf eingenommen hatten. Dann kamen auch sie wieder ans Tageslicht und teilten unser gemeinsames Schicksal.

Ähnlich war's allen andern Einwohnern ergangen. Überall die merkwürdigsten Szenen; besonders frühmorgens, beim ersten Aufbrummen der Geschütze. Die Leute wußten in der Bestürzung und Verwirrung nicht, was tun, wohin gehen, und da kamen denn manche auf die kuriosesten Einfälle: die ihrer Entbindung nahe Frau des Steinhauers Fricker Philipp wollte absolut in ein großes Faß hineinkriechen, ihr Mann sollte es zumachen und sie wollte drin bleiben, bis die Preußen wieder fort wären. Der Richert Fritz droben, ein baumstarker Mühlknecht, hatte in der Verzweiflung eine Kiste aufgerissen, sich hineingestürzt und schrie aus Leibeskräften seiner Frau entgegen: »Deck' mich zu! deck' mich zu!« Die arme Frau konnte das nicht begreifen und schrie noch viel stärker: »Und ich? und ich?« – Der Krempenschreiner hatte einen heldenmäßigen Entschluß gefaßt: er kroch hinauf in den Kamin und hing dort wie Abraham Nothnagel den ganzen Tag zwischen Himmel und Erde! Solche und ähnliche Auftritte sind fast in allen Häusern vorgefallen. – Dann aber, wie einmal der Kampf auf allen Flanken losgebrochen und nirgends mehr des Bleibens war, hatten sich die Leute, vom Schrecken gejagt und Hilfe suchend, gassenweise, familienweise zusammengeflüchtet. In Beckerjörris, in Süßegottfrieds Keller waren ganze Haufen. In Meyerhenners Keller waren 62 Menschen. Sie mußten aufrecht stehen, Kopf an Kopf, so dicht nebeneinander, daß mancher ohnmächtig wurde, und sie beinahe erstickt wären. Die Kinder saßen auf den Fässern; der gliederkranke Lenzejockel (tröst ihn Gott) kauerte wie ein schwärenbedeckter Lazarus auf einem Bett am Boden. Wie's da überall zugegangen, wie das arme Volk diesen langen Tag in Angst und Schrecken – in Heulen und Wehklagen, in Beten und Hoffen – und wieder Zagen und Verzagen und wieder Hoffen – zugebracht hat, läßt sich denken. – Plötzlich, um 3 Uhr, kam ein bewaffneter Zuave, der Augustintoni aus Fröschweiler, und suchte Rettung in Meyerhenners Keller. Da erhob sich ein Schrei des Entsetzens! »Toni, Toni! du machst uns alle unglücklich! Toni! geh' um Gottes willen fort, geh' wieder hinaus in die Schlacht!« und stießen ihn mit Gewalt hinaus. Der Toni aber kannte alle Gänge und Schlupfwinkel, wollte auch heute keine Preußen mehr totschießen – stieg in demselben Hause in einen andern kleineren Keller und streckte sich mit seinem Chassepot hinter ein großes Faß der Länge nach an den Boden. Dort lag er noch, als die Preußen und Bayern den Keller erstürmten und der Wein in Strömen floß. Ein einziger Ruck an der Tonne und er wäre des Todes gewesen. Es gehört wirklich ein Heldenmut – oder auch eine wahre Höllenangst – dazu, eine solche Position stundenlang auszuhalten. Sie fanden ihn nicht! – Er blieb liegen bis Mitternacht. Das ganze Haus war voll Bayern; nur eine Stube war noch frei, und da waren wieder an die 40 Menschen beisammen. Gegen 12 Uhr (niemand dachte mehr an ihn) erschien unser Toni wieder mit Zuavenkleid und Chassepotgewehr. Die Weiber fielen über ihn her, rissen ihm alle Kleider vom Leibe, schnitten ihm das Zuavenbärtchen herunter, warfen ihm eine Bauernjacke auf den Rücken, er schlüpfte in andere Hosen und der Toni war ein ganz gewöhnlicher und – geretteter Mensch. Kein deutscher Soldat hat sich um ihn gekümmert, kein Einheimischer hat ihn verraten, und so ist er unangefochten dageblieben und des Pumpernickelessens in der Gefangenschaft ledig gegangen.


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