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Da sind die andern Ortschaften, Langensulzbach, Görsdorf, Dieffenbach, Wörth, Spachbach, Gunstett usw. auch wieder viel besser daran, als wir in unserm trübseligen Fröschweiler. Sie haben freilich auch schwer gelitten, doch sind sie nicht so hart beschossen und auch nicht so vollständig ausgeplündert worden, wie wir in unserm Dorfe. Es sind also wohl noch kleinere Vorräte an Lebensmitteln vorhanden. Jedenfalls haben sie, was die Verwundeten am allernötigsten brauchen, wornach sie mit tiefster Sehnsucht verlangen: Gutes, frisches Wasser! Die staub- und blutbedeckten Kranken können doch gewaschen und der innere Brand, die Fieberglut, mit kühlendem Labsal gelöscht werden. Auch sind dort die Deutschen auf dem Plan mit ihrem unvergleichlichen Sanitätswesen, mit ihren zahlreichen Ärzten, Heil- und Rettungsmitteln aller Art. Da kann der Not der Verwundeten doch einigermaßen gesteuert werden. Aber hier in Fröschweiler! Wahrhaftig, man möchte von Sinnen kommen, wenn man in diese Jammertiefen hineinschaut. Da hat der Plünderungssturm alles, alles weggerissen; da ist auch mit übermenschlicher Anstrengung kein Wasser aufzutreiben, und den einen Brunnen, der noch Wasser hat, geben die Soldaten nicht frei, wenn man sie niederschösse! Da sind im ganzen nur acht französische Ärzte, und die wenigen Sanitätsvorräte, die sie mitgebracht, sind meistens verloren gegangen. Haben sie doch heute schon ein totes Pferd abgezogen und daraus Beefsteaks für die hungernden Verwundeten gebraten. Und viertausend verstümmelte Menschen, die seit gestern auf Hilfe und Erquickung warten! Ist's nicht zum Rasendwerden? Da liegen die armen Schlachtschafe … in den Schloßräumen 900, im Schulhaus 500, in unserm Hause 96, in jedem Bauernhause 10, 20, 30, in einigen bis 60 Mann. Sie wissen gar nicht, in welche öde Wüste der Krieg sie geworfen – sie bitten, flehen, stöhnen, wimmern so kläglich, so herzzerreißend: » à moi, à moi!« »zu mir, zu mir!« »Wasser, nur einen Trunk Wasser.« Und wir stehen da, wir schauen sie an, wir hören ihr Jammergeschrei, wir weinen mit den Unglücklichen, wir möchten so gerne helfen – unaussprechliche Wehmut spricht aus ihren matten Augen – wir können nicht helfen. Sie müssen also verhungern und verschmachten? Ja, viele, viele sind schon verschmachtet! Viele haben schon unter entsetzlichem Todesringen den Geist aufgegeben … und wir stehen da, gehen von einer Marterhöhle zur andern und sehen zu … wir sehen die verstümmelten Leiber in der Fieberhitze sich krümmen, die aufgehobenen Hände hilflos zurückfallen, die starren Augen im Tode brechen – wir sehen es und können nicht helfen. O, wer solches noch nicht erfahren hat, der kann wohl daheim über Krieg und Sieg viel phantasieren, er hat aber noch nicht aus der Tiefe rufen gelernt:
»Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unsern Zeiten.«
So geht der Sonntag vorüber; ein ewig langer Leidenstag für die Gesunden und Kranken. O, was wird noch entstehen, wenn dieser Hungers- und Wassersnot nicht Abhilfe geschieht! Wenn diese schwüle, pestilenzialische Luft nicht verscheucht, nicht verbessert wird! Der Jammer hat allenthalben seinen höchsten Gipfel erstiegen. Es bleibt uns nur ein Trost:
»Wenn die Stunden sich gefunden,
Bricht die Hilf mit Macht herein.«
Und siehe, es läßt sich an, als wolle der allmächtige Gott sich unser erbarmen und uns heute noch ein Angeld schenken, daß wir nicht vergehen sollen in unserm Elend. – Es ist Abend geworden. Der Himmel bedeckt sich mit schwarzen Wolken. Ach wenn doch ein Wetter käme, ein Regenguß, ein mächtiger Platzregen! Welche Wohltat! Nur ruhig, es blitzt und donnert in den Bergen –, die Elemente müssen uns zu Hilfe kommen. Das Gewitter rückt näher, es lagert überm Schlachtfeld, die Donnerschläge dröhnen gewaltig, es wird immer dunkler, jetzt regnet's … wahrhaftig, es regnet … es regnet stark und stärker … o, seid gesegnet ihr kühlenden Fluten – rauschet fort noch eine Stunde, die ganze Nacht hindurch und ergießet in Strömen Labsal auf die dürre Erde, in die brennenden Herzen! – Und es regnet fort, als wären die Schleusen des Himmels aufgetan – wir schauen zu und wissen gar nicht, wie eigentümlich uns zumute wird; man kann's nicht aussprechen, welch wohltuenden Eindruck dieses Plätschern auf Leib und Seele macht. – Ja, jetzt könnte man sich hinlegen und ruhen von allen Mühseligkeiten der vergangenen Tage … schlafen und wär's am harten Boden – schlafen wie ein Toter, einen langen, langen Schlummer … Aber wir dürfen nicht ruhen; die Truppenzüge fahren und reiten und marschieren ununterbrochen vorüber und wie gestern, so auch heute brechen die Soldaten in alle Häuser und Gehöfte ein. Sie wollen Stroh für's Lager, Stroh zur Bedeckung … »Wir haben ja kein Stroh mehr!« »So nehmen wir Garben!« »Nehmt in Gottes Namen alles!« – Plötzlich ist's ruhig im Pfarrhof … da draußen steht eine Schildwache vorm Tor im Regen und läßt keinen Menschen mehr herein. Wer hat sie hingestellt? Ich weiß es nicht. Ist's eine Tat des Erbarmens, die der kommandierende General mir erwiesen! Wahrscheinlich. Ich bin einstweilen dankbar; wohl hab ich nichts mehr zu verlieren, aber ich bin doch geschützt in dieser stürmischen Nacht. Aber horch, welch Schreien und Jammern vom Schloßgarten herübertönt! … Zu Hilfe! zu Hilfe! um Gotteswillen … Das sind unsere Verwundeten, die wir aus der Kirche getragen: die liegen ja unter freiem Himmel. Großer Gott! heute im Sonnenbrand, jetzt im Wasser … Geschwind fort, die gehen zugrunde; wir müssen sie retten. Die armen Jungen, wie sie frieren, mit den Zähnen klappern! Wie sie bitten, winseln um Obdach und Hilfe! Wir fassen sie an, einen nach dem andern, tragen sie aus dem Regen hinunter in die Schuppen, in die Ställe zu Hunderten. Mehrere sind am Verscheiden: » O mon Dieu! o ma mère!« Die sterben diese Nacht. Dort drüben kämpft einer unter entsetzlichen Schmerzen den letzten Todeskampf und befiehlt geduldig seinen Geist in Gottes Hände; ein anderer, noch hör ich's in meinen Ohren, haucht unter schrecklichem Wehegeheul sein Leben aus. Endlich sind alle untergebracht. Stöhnen und Wehklagen verstummen allmählich unter des Regens Geplätscher. – Gute Nacht, ihr Armen! bis die Morgenröte graut, ist wieder manches Auge im Tode geschlossen.