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Wir haben es gesehen, wie bei der ersten Kunde von dem Unglück Fröschweilers und seiner Bewohner sich ein Schrei des Entsetzens durchs ganze Elsaß erhob und überall, wie vom Blitze entzündet, die innigste Teilnahme für die schwer betroffenen Mitbürger erwachte. Bekannte und unbekannte Wohltäter kommen, sobald der eiserne Feindesgürtel den Zuzug gestattet, von nah und fern und bringen ihre Liebesgaben so reichlich und freudenvoll, daß dem himmelschreienden Elend der ersten Tage abgeholfen und den drohenden Gefahren der nächsten Folgezeit Einhalt geboten wird. Das sind Lichtblicke in unsere Finsternis, Balsamtropfen in die tiefen Wunden. Da lernt man auch Landsleute besser kennen, zu welchen man sich eines ganz andern versehen hätte. Und dieser Wetteifer helfender Barmherzigkeit ist kein Strohfeuer, das gar bald ausgeflackert hätte … 's ist eine mächtige Liebesglut, die je länger je weiter um sich greift und auch dann noch fortbrennt, wenn der deutsche Reichsadler längst über Versailles' Türmen schwebt. – Wir können aber hier nicht alle einzelnen Opfer verzeichnen, welche das Elsaß und die Elsässer in allen Landen zur Rettung der Verwundeten und zur Wiederaufrichtung unserer heimgesuchten Gemeinde gebracht haben. Wir wollen auch die einzelnen Namen nicht durch verspätete Lobeserhebungen verherrlichen. Es genüge unser aufrichtiges: Vergelt's Gott, ihr edlen Freunde – und des Herrn Segen über euch auf Kind und Kindeskinder!
Unsere Trübsal findet aber nicht allein in der engeren Heimat einen Mitleid weckenden Widerhall. Sobald die Nachricht von dem Siege bei Wörth über die deutsche Grenze dringt, durchzuckt eine ungeheure Begeisterung das ganze Volk und von der Nordsee bis zu den Alpen ertönt das Losungswort: »Auf! und helfet den Geschlagenen im Elsaß!« Die ersten Träger dieses Hilferufes sind die Zeitungen. Sie fliegen nach allen Himmelsgegenden und verkünden in hunderttausendfachem Chor die Schilderung unseres traurigen Schicksals. Gleichzeitig erheben die Augenzeugen ihre Stimmen und verbreiten bis in die weiteste Ferne die Hiobspost: »Fröschweiler und Umgegend hat furchtbar gelitten.« – Und in allen deutschen Landen, auch in der Schweiz, in Österreich, England, Amerika öffnen sich die Herzen und Hände … Überall werden die Gaben von den Redaktionen, Buchhandlungen, Pfarrämtern und einzelnen Privatpersonen gesammelt und nach dem Schauplatz der Heimsuchung herübergesendet. Viele Wohltäter schicken ihre Beiträge direkt mit Zeugnissen herzlicher Teilnahme, oder auch anonym, mit Angabe eines Trostspruches. Es kommen alle möglichen Liebesspenden; an Kleidern für Große und Kleine: Hemden, Strümpfe, Stiefel, Röcke, Wämser, wollene Jacken, Leintücher, Decken usw. usw.; an Nahrungsmitteln: Brot, Fleisch, Reis, Kaffee, Fett, Mehl, gedörrtes Obst, Kartoffeln; an Geld: größere und kleinere Summen zur beliebigen Austeilung an die Obdachlosen, Kranken, Notleidenden – welches Elend sie auch betroffen. Das sind Sonnenstrahlen in unsere dunkeln Tage; so wird der sinkende Mut wieder aufgerichtet. Und diese allgemeine Opferwilligkeit ist kein berechneter Annexionsversuch auf das elsässische Volksgemüt und der offen und ehrlich ausgesprochene Dank für alle diese Wohltaten ist auch kein Vaterlandsverrat. Diese helfende Liebe ist eine nationale Ehrenschuld, die das deutsche Volk auch dann lösen würde, wenn der Ausgang des Krieges ein anderer sein sollte; und die freimütige Anerkennung fremder Hilfe ist eine elsässische Ehrenpflicht, die wir auch dann nicht verleugnen würden, wenn wir nach wie vor französische Bürger blieben! – Doch zurück zur Sache.
Auch der deutschen und ausländischen Freunde Namen und Liebesbeweise wollen wir in dieser Chronik nicht einzeln anführen; wir rufen ihnen allen zu: »Habt Dank für jede Handreichung, eure Barmherzigkeit bleibt unvergessen!«
So können wir, wenn auch nicht ganz ohne Sorgen, doch ohne Furcht, dem herannahenden Winter entgegensehen. Unsere Vorratskammer im Gemeindehause ist in guter Verfassung. Fast täglich treffen neue Sendungen ein. Oft sind es ganze Kisten, Säcke, Wagen voll Nahrungsmittel. Eine Verteilungskommission verwaltet die anvertrauten Gaben. Alle zehn oder vierzehn Tage wird eine allgemeine Bescherung gehalten. Da kommen dann die Frauen mit ihren Körben, Schüsseln usw. »Wie viele Seelen habt ihr zu Hause?« – »So und so viele.« – »Und ihr?« – »Vier, sechs, acht Personen.« – »Da habt ihr euer Quantum.« – So geht's dem ABC nach und alle kriegen ihren Anteil. – Die meisten sind zufrieden und dankbar; einzelne reklamieren und murren … wie überall! Wer kann's jedem recht machen? Allen genug geben? Die Hauptsache ist, daß es bei der Verteilung richtig zugeht und niemand Mangel leidet. Und wir können mit Wahrheit und mit freudigem Danke bekennen: Sie essen alle und werden satt! – Beim Austeilen von Kleidern, Bettzeug usw. gibt's größere Schwierigkeiten: ein Stück ist besser, schöner als das andere, die einen haben alles, die andern weniger verloren; was diesem not tut, möchte jener auch haben. Die Bedürftigsten sind die Abgebrannten; sie werden auch in erster Linie berücksichtigt. Es folgt Loben und Schelten; das Menschenherz ist überall dasselbe – wir handeln nach bestem Gewissen und fahren weiter.
Jetzt können wir den Typhus, welcher mit Blitzesschnelle in einzelne Familien einschlägt, soweit es Menschen möglich ist, mit Nachdruck bekämpfen. Die Krankheit ergreift vorzugsweise diejenigen Leute, welche durch Schrecken und Entbehrung besonders gelitten haben. Allein schnelle Hilfe, kräftige Nahrung, warme Decken usw. wirken so rasch und erfolgreich, daß die Seuche zu keinem eigentlichen Ausbruch kommt. Doch fallen mehrere Opfer.
Ein schwerer Sorgenstein ist vom Herzen genommen. Die Schuld, welche wir gemacht haben, um den Obdachlosen die nötige Saatfrucht zu kaufen, ist gedeckt, unser Vertrauen ist nicht zuschanden geworden. Jetzt kann der Erzähler mit den ihm persönlich übermittelten Gaben haushalten und bald da einer darbenden Witwe, bald dort einem alten Manne, bald jener notleidenden Familie nachhaltig unter die Arme greifen. Wer würde es glauben? und doch ist's Wahrheit: Durch meine Hand allein wurden in den Jahren 1870 und 1871 über 8000 Franken an einheimische und auswärtige Arme verabreicht. Durch die Unterstützungskommission wurden ebenfalls mehrere tausend Franken ausgeteilt. Das sind Kriegserfahrungen, die einem zeitlebens teuer bleiben.
Noch einer besonderen Wohltat muß ich hier rühmend gedenken. Ein Armenfreund aus Süddeutschland kommt persönlich herüber und holt acht unserer ärmsten Kinder und nährt und pflegt und erzieht dieselben jahrelang mit unermüdlicher Geduld und Barmherzigkeit.
Für die geisteskranke Elisabeth wird ebenfalls in Süddeutschland, in einer Heilanstalt und später in Privatpflege, ein ganzes Jahr aufs beste und liebevollste gesorgt. – Eine Diakonissenanstalt am Rhein sendet eine Schwester nach Fröschweiler mit dem freundlichen Anerbieten, vier Kinder aufzunehmen, die dort seit Jahren eine vortreffliche christliche Erziehung und Ausbildung genießen. Das sind Denksteine, welche wir mit innigstem Danke aufrichten und darauf schreiben: Bis hierher hat der Herr geholfen. Aber unser Weihnachtsfest im grimmigen siebenziger Winter! Am Christabend ist unser Notkirchlein wieder gedrängt voll Menschen; der Tannenbaum strahlt in herrlicher Lichterpracht; die deutschen Kinder, die, wie sie sagen, »die elsässischen Kinder lieb haben«, wollen unsern Kleinen eine Bescherung bereiten.
Man denke sich, was da alles an Geschenken, Spielsachen, Puppen, Lebkuchen usw. auf dem Weihnachtstisch aufgetürmt ist! Dazu hat der Erzähler in Hagenau auf einmal für tausend Franken Kleiderstoffe gekauft. Alle diese Schätze sollen heute abend ausgeteilt werden. Seht ihr die freudigen Gesichter und die funkelnden Augen und die ausgestreckten ungeduldigen Händchen? Der Christabendgottesdienst ist gehalten; der » Tannenbaum« wird mit riesiger Begeisterung gesungen – und jedes Kind (von allen Konfessionen), von der Mutterbrust bis zu vierzehn Jahren, bekommt ein vollständiges, funkelnagelneues Kleid! Die alten Männer bekommen warme Joppen, Unterhosen; die Mütterlein wollene Wämser … Diese Freude, dieser Jubel! Ja wir könnten sagen: Wenn wir auch des Leidens viel gehabt haben, so sind wir doch auch reichlich getröstet worden.