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Der sechste August

Die ersten Kanonensalven donnern in östlicher Richtung. Der Feind wirft seine Geschosse von der Görsdorf-Dieffenbacher Höhe herüber … Achtung im Unterdorf! Da gibt's Jammer und Elend. – Gottlob, es hat noch keine eingeschlagen. Sie fliegen mehr links, nach dem Monnenbach, gegen den Lerchenberg hinüber. – Von dort kriegen sie Antwort; es knallt drauf und drauf … Recht so! Brav geschossen … Ob sie hüben und drüben treffen? Wer weiß es? Es scheint aber; die Preußen zielen gut; dort bringen sie schon einen Artilleristen, dem's den Fuß zerschmettert hat. Er sagt, die deutsche Granate sei mitten in die französische Batterie gefahren und habe den Kapitän und vier Mann verwundet. Man legt ihn ins Schulhaus auf den Boden. Bald hören wir auch Kleingewehr-Feuer vom Tal herauf; es knattert recht lustig dort unten; sie müssen bei Wörth schon ziemlich nahe aneinander sein. Wer's doch sehen könnte! Horch! in der Ferne brummt und raspelt auch etwas, in der Gegend von Gunstett, bei der Brückmühle. Was gilt's, sie haben dort den blutigen Tanz auch angefangen? Aber das sind erst kleine Eröffnungsszenen zum großen Trauerspiel. Ach, wenn nur dieser Tag vorüber wäre! Das Gehirn wird einem ganz siedend im Kopfe … So jetzt wissen wir, wie wir dran sind; Fröschweiler liegt mitten im Kreise … Gott sei unserm Dorfe und allen Einwohnern gnädig!

Bis zu dieser Stunde können wir nur danken; 's hat noch kein Unglück gegeben. Aber wie ist's plötzlich so stille, so stille geworden auf den Gassen! gerade wie wenn der Todesengel überall vorüberstreifte! Nur da und dort noch einige verirrte, verspätete Soldaten … dann und wann ein geängstetes Bäuerlein, das an die Straße herausschleicht und lugt, woher der Wind weht! Alles wie ausgestorben. Wo sind die Leute? – Auf der Flucht, in den Wäldern, Steingruben, in den Kellern, massenweise beisammen in den Kellern. In Meyerhenners Keller ist das halbe Oberdorf – sie müssen schier verschmachten. Ja, ja! Not bricht Eisen und Herzen. Horch! wie's kracht … und hier alles so stille, so fürchterlich stille. – Wenn doch diese heillosen Turkos jetzt wenigstens unsere Hühner- und Gänseställe in Frieden ließen. Da marodieren noch wer weiß wie viele herum. Es wird einem unheimlich, wie in der Hölle, in der Nachbarschaft dieser Menschen.

Was ist da drüben los? Jetzt donnert's auch bei Langensulzbach. Das sind die Bayern! Die Bayern in der Flanke … Hätte das eine Menschenseele geglaubt? O Xaveri, wo bist du? – Die Bayern! Die wollen den Bergwald herauf. Hurra! Ducrot! Hurra! ihr 18er, 96er, Jäger, Zuaven, werft sie hinunter! Der Kampf muß heftig entbrannt sein; die Kanonen brummen gewaltig; die Mitrailleusen knattern; das Gewehrfeuer wird schneller. Dort drüben, am Waldesrand gegen Nähweiler und da unten an der Sulzbacher Straße muß es blutig hergehen. Die gedeckte Stellung unserer Leute ist ja unüberwindlich! Ach, wie mancher in Freund- und Feindesreihen liegt jetzt schon in Todesweh und Todesschlummer! Es scheint aber, der erste Anprall des Feindes ist siegreich zurückgeschlagen. Den Bayern hat's Schläge abgesetzt; in nördlicher Richtung wird's stiller. Das Treffen zieht sich weiter hinunter nach dem Sulzbächel … Dort kommen sie gar nicht herauf. Lauter Wald und steile Höhen. – Seht, da bringen sie Verwundete; dem armen Turko hat ein Granatsplitter den Arm entzwei geschlagen; sein Gesicht ist wild verzerrt vor Schmerzen … »Legt ihn in die Schulstube zu den andern.« Da tragen sie auch mehrere Offiziere – schwer getroffen – wie sie zittern und frieren an allen Gliedern! »Wasser! Wasser!« Wir legen sie in die Kirche, erwärmen sie mit Decken und Federbetten. Welche Schreckensbilder! – Wir fragen sie, wie's geht da drüben bei Langensulzbach? – »Gut, sie werden zurückgeworfen.« – Gott Lob und Dank! – Ist die Schlacht bald aus? – »Nein, sie hat erst angefangen.« Wenn nur jetzt de Failly von Bitsch herüber eintreffen und draufschlagen könnte. – Am Sternenberg droben hört man nichts mehr – den Bergwald gegen die Sägmühle und gegen die Altmühle hinab wird das Gewehrfeuer matter … Ein Hoffnungsstrahl durchleuchtet alle Herzen … Wenn's nur gegen Wörth auch brechen möchte … Wer weiß? De Failly kommt sicher, und sind die Bayern in die Flucht geschlagen, dann müssen auch die Preußen weichen.

Ich gehe nach Hause, um zu sehen, wie alles stehe. Was muß ich erleben? Weib und Kinder waren dageblieben! »Um Gottes willen! warum bist du denn nicht in den Schloßkeller? Siehst und hörst du denn nicht, wie von allen Seiten hereingeschossen wird?« »Die Kinder haben nicht fortgewollt; ich bringe sie nicht zum Tor hinaus! sie schreien ganz entsetzlich« … Ich schleppe sie auf der Stelle hinüber. – »Wo sind denn die Eltern?« – »Ich weiß nicht!« – »Du weißt nicht?« – »Wie soll ich es wissen?« – Der Schrecken bebt mir durch alle Gebeine … Wo sind die Eltern? Großer Gott! Wo sind Vater und Mutter und Geschwister geblieben? Sind sie noch in ihrem Hause, in ihrem Keller? Ach dort ist gar kein Schutz vorm Ungewitter! … Ich kann aber nicht mehr ins Unterdorf, keine Menschenseele ist mehr auf der Gasse; wo fragen? wo suchen? Ich muß sie ihrem Schicksal, der allmächtigen Gotteshand, überlassen.

Es ist etwa 10 Uhr. Ich gehe wieder in die Kirche. Nach Norden wird's immer stiller; die Bayern sind also zurückgeschlagen, oder sie sind zurückgewichen, um von einer andern Seite wieder anzugreifen. Ganz geheuer kann's nicht sein, sonst käme einer und verkündigte Viktoria! Aber gegen Wörth hinab! Hört, wie's kracht! immer mächtiger, Knall auf Knall, ganz anders als heute morgen, auf der ganzen Linie von Görsdorf bis nach Gunstett. O verhängnisvoller Augenblick – dort ist die Hauptmacht des Feindes; sie muß ungeheuer groß sein. Von allen Seiten rollt der Kanonendonner unter Mark und Bein erschütternden Schlägen zu unserm Dorfe herüber; von allen Richtungen fliegen unter gräßlichem Pfeifen und Zischen die feuerspeienden Granaten; ein unaufhörliches, immer heftiger werdendes Gewehrfeuer prasselt und knattert wie fallende Schloßen. Weh! Weh! Elsaßhausen steht in Flammen. Süßjockels Haus lodert gen Himmel! Es blitzt und kracht zum Entsetzen. Allmächtiger Gott, was wird aus uns werden? Wohin fliehen in dieser Schreckensstunde? Noch steh' ich hier in der Kirche bei den vielen verwundeten Kriegern; wir können sie nicht mehr zählen; die Räume sind überfüllt … Da liegen sie in ihrem Blute, mit verstümmelten Leibern; Todesblässe, Fieberglut spielt auf ihren Angesichtern; Wut und Verzweiflung stiert aus ihren großen, brechenden Augen! Ich stehe hier, betäubt, gefesselt, gebannt von unbewußtem Pflichtgefühl und kann nicht weichen – kann nicht von der Stelle! Aber was soll ich noch da oben auf der Erde? Was soll mein Helfen, Trösten, Beten in diesem heulenden Menschenknäuel, in dieser dumpfen, entsetzlichen Mördergrube? Ich taumele die Kirchentreppe hinunter und schleiche, gebückten Leibes gegen den Schloßhof … es folgt ein Donnerschlag – das Geschoß hat hinter mir einem französischen Stabsarzt den Leib aufgerissen; – ich renne weiter – es kommt ein Zischen, erschrecklich, satanisch – die Granate ist mir überm Kopfe weggefahren ins Oberdorf. Gott weiß, was sie anrichtet. Ich bin in der nördlichen Hausflur. Ha! da ist's besser. Da sind feste Mauern und der ganze Anprall kommt von Osten. Nichts ist zu fürchten. Die sitzen gut da unten. Muß aber mal hinausschauen. In der Schindergasse wütet Feuer und Verheerung; das Pfarrhaus steht noch, aber das Scheunendach ist eingeschlagen. Horch, wie's auf den Dächern rasselt! Wenn nur der unglückselige Heuwagen da vor der Kirche weg wäre; wenn der brennt, geht Ballifefritzes Haus, vielleicht die ganze Gasse in Flammen auf! Es ist 1 Uhr. Der Schlachtensturm wütet mit furchtbarer Heftigkeit. Es muß ein verzweifeltes Ringen sein. Es kommt einem vor, als stürzten die Heere mit Tigergrimm aufeinander. Ist der entscheidende Augenblick hereingebrochen? Wohin neigt sich die Wagschale des Kampfes? Ja, wer es wissen könnte! – Aber in diesem Hausgang ist's auch nicht mehr auszuhalten. Ich gehe auch in die Tiefe. – Wer kann's beschreiben, was er empfindet, wenn er in solchem Schlachtenwetter in die Tiefe steigt? Dort droben zwei große Völker, die wutentbrannt den Streit der Vernichtung ringen und in blutigem Zweikampfe sich unmenschlich zerfleischen! Dort droben das Vaterland, dem vielleicht jetzt unter diesem Donnern und Krachen die Stunde schwerer Niederlage, unerbittlicher Vergeltung schlägt! Dort droben die Familie, die ganze Gemeinde! Wo sind jetzt alle die einzelnen Glieder? Wo sind die alten, schwachen Eltern? Wer hat sie geborgen? Und die irdische Habe? Der Ort, wo wir bisher das Haupt hinlegten, was wird aus ihm werden? Aber, Gott sei Dank, es gibt auch in solchen Augenblicken des Lebens eine Gnade, die mit uns geht in die Tiefe! Einen Mut des Glaubens, der nicht wankt, wenngleich das Meer wütete und waltete und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Sela!


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